Neben mir gähnte Milo. Er hatte den Beifahrersitz zum Liegesitz gemacht und ließ sich von der Klimaanlage des Dienstwagens berieseln. Von der anderen Straßenseite leuchtete uns das weiße Emailleschild entgegen. »Kingsay Dessous« stand dort in verschnörkelten Lettern. Seit Stunden warteten wir - vergeblich. Hinter den vergitterten Toren der Dessousmanufaktur blieb alles ruhig.
Doch plötzlich tat sich etwas. Federnd sprang der Mann von der Laderampe auf den beleuchteten Hof. Er war keiner von Serengettis Schießhunden. Er machte den Eindruck eines harmlosen Vertreters: weißes Hemd, Krawatte, schwarzer Anzug; sogar den Sortimentenkoffer hatte er bei sich. Aber in diesem Koffer befand sich wohl nicht die neueste Kollektion an Damenunterwäsche. Was der Mann bei sich trug, war das Schlimmste, was sich die Kokainkocher jemals ausgedacht haben: Crack!
»Es ist soweit«, zischte Milo.
Im selben Moment machte sich sein Walkie-talkie bemerkbar. Die Stimme von Clive Caravaggio schnarrte daraus hervor. Die Anspannung war ihm deutlich anzumerken. Clive und Orry hatten sich mit Videokameras, Richtmikrofonen und Nachtgläsern in einem Bürohaus gegenüber verschanzt. Seit einer Woche warteten wir auf verdächtige Aktivitäten. Aber Stephano Serengetti war listiger als ein Fuchs. Und ebenso schwer zu fangen.
Vor einer halben Stunde erst hatte Clive uns eine Meldung durchgegeben: Serengetti hafte sich zu seinem nächtlichen Schäferstündchen bei der attraktiven Geschäftsinhaberin Deborah Kingsay eingefunden. Für diese Zwecke unterhielt die junge Geschäftsfrau eine Art Penthouse über der Manufaktur. Aber außer Liebesgeflüster harten die Richtmikrofone nichts Brauchbares eingefangen. Keinen Hinweis auf ein Geschäft mit Crack. Und kein Wort darüber, daß die Dessousmanufaktur auch als Lager für die Killerdroge fungierte.
»Ihr bekommt Besuch«, hörte ich Clive sagen.
»Alles klar. Wir sind auf dem laufenden«, gab Milo leise zurück.
Der Vertretertyp hatte unterdessen den Hof überquert. Vor einem der Tore blieb er stehen. Er schaute ausdruckslos durch die Gitterstäbe.
Einer von Serengettis Männern öffnete ihm das Tor.
Ohne besondere Eile trat der Mann heraus. Wir rutschten tiefer in unsere Sitze. Dann war er an uns vorbei.
»Okay«, sagte ich zu Milo. »Ich werde ihn zu Fuß verfolgen, während du dich mit dem Dienstwagen bereit hältst.«
Dann war ich draußen.
Hinter den parkenden Autos nahm ich Deckung. Das Licht der Straßenlampen spiegelte sich matt auf den Karosserien. Geduckt arbeitete ich mich aufwärts.
Auf der anderen Straßenseite hämmerten die Schuhe des Mannes im gleichmäßigen Takt. Er hatte offenbar nicht vor, mit dem Auto zu fahren. Jedenfalls machte er keine Anstalten, in eines zu steigen. Sollte er wirklich so dumm sein und sein Geschäft vor der Haustür seines Chefs abwickeln? Das würde der Gipfelpunkt von Serengettis Dreistigkeit sein. Ein Gipfel, der ihn zu Fall bringen würde. Denn wir hatten Order, beim geringsten Anhaltspunkt die Dessousmanufaktur zu stürmen.
Es bestand dringender Bedarf an Erfolgsmeldungen. So jedenfalls hatte es uns der Federal Attorney nahegelegt. Crack war zu einem unübersehbaren Problem geworden. Man munkelte schon, daß die Regierung unfähig sei, dieses Problem in den Griff zu bekommen. Die Meldung über einen erheblichen Crackfund würde dieser Meinung entgegenwirken - so glaubte wenigstens der Bundesanwalt der Vereinigten Staaten.
Der Mann bog plötzlich um einen Häuserblock.
Ich mußte mich beeilen. Wie ein Schatten huschte ich über die Straße. Dann hatte ich die Ecke erreicht.
Als ich den zweiten Mann sah, tauchte ich sofort unter.
Sie standen nur fünf Yard entfernt. Der andere wirkte nicht wie ein typischer Crack-Dealer. Sein Anzug war zwar einer der billigeren Sorte, aber der Mann stand aufrecht und ruhig da. Er strahlte nicht diese lauernde Unruhe aus, die von allen Menschen Besitz ergreift, die mit Crack zu tun haben. Unter der Achsel trug er einen länglichen Behälter, den ich in der Dunkelheit nicht genau erkennen konnte.
Unwillkürlich tastete ich nach meinem 38er.
Gedämpfte Stimmen drangen zu mir herüber. Die beiden Männer schienen zu verhandeln. Ich wollte nach dem Walkie-talkie greifen, um Milo zu benachrichtigen. Aber da überstürzten sich die Ereignisse.
Die blonde Lady mit dem gewagt kurzen Rock und dem paillettenbestickten T-Shirt war plötzlich zwischen ihnen. Sie war aus einem Hauseingang gestürmt und gebärdete sich wie eine Furie.
Der Mann mit dem billigen Anzug wurde ihr erstes Opfer. Ihr hochhackiger Schuh bohrte sich in seine Magengrube.
Mit einem unterdrückten Schrei krümmte sich der Mann zusammen. Dabei ließ er seinen Behälter fallen. Blitzschnell packte das Girl zu. Sie hatte den Behälter aufgefangen, ehe er auf den Boden aufschlagen konnte.
Der Vertretertyp war überrascht. Noch machte er keine Anstalten, gegen die blonde Frau vorzugehen.
Pech für ihn. Denn den nächsten Tritt hatte sie für ihn vorgesehen. Sie plazierte ihn unter der Gürtellinie. Der Mann ging zu Boden.
Dann wollte sich das Girl mit dem Behälter davonmachen. Aber sie kam nicht mehr dazu.
Ihr erstes Opfer hatte sich schneller erholt, als sie gedacht hatte. Plötzlich hielt er eine Waffe in der Hand. Es war eine Beretta. Er schrie und fuchtelte mit dem Schießeisen herum. Ich sah sofort, daß er keine Übung in solchen Dingen hatte. Vorbei war es mit seiner Ruhe. Und vorbei mit der aufrechten Haltung. Der Mann wirkte äußerst nervös. Und unbeholfen. Aber dafür nicht weniger gefährlich. Aus der kurzen Distanz war es egal, ob einer schießen konnte oder nicht.
Das Girl schätzte die Situation richtig ein. Wie zu Eis erstarrt, stoppte sie mitten in der Bewegung. Sie hatte ausgespielt. Das wußte ich. Und das wußte sie.
Sie bewegte sich langsam. Wahrscheinlich befürchtete sie, den nervösen Mann zu einer unüberlegten Handlung zu reizen. Vorsichtig gab sie ihm seinen Behälter zurück.
Auch der Vertretertyp hatte unterdessen den schmerzhaften Tritt verarbeitet. Ächzend kam er auf die Beine. Den Sortimentenkoffer legte er auf die Haube eines geparkten Chevy. Dann hatte er plötzlich einen Colt in der Hand.
Ich durfte nicht länger zögern! Ich mußte eingreifen! Der Vertretertyp war eiskalt. Ein Profi. Er würde keine Sekunde zögern, das Girl umzubringen. Erst stieß er einen deftigen Fluch aus. Dann zielte er auf den blonden Kopf der Frau. Mir würde nicht einmal Zeit bleiben, meinen Freund und Kollegen zu verständigen…
Mit einem Satz erschien ich auf der Bildfläche. »FBI, Waffen runter!« schrie ich. Mir war klar, ich würde unsere Aktion gefährden. Aber es war mir egal. Ich mußte den kaltblütigen Mord verhindern!
Der Mann mit dem billigen Anzug wirkte verunsichert. Aber der andere war um so entschlossener. Er wirbelte herum. Sein Colt zuckte in meine Richtung.
Aber ich hatte den Smith & Wesson schon im Beidhandanschlag. Ich zog den Abzug durch. Der Kurzläufige bellte trocken. Ruckte kurz in meinen Fäusten.
Der Vertretertyp schrie plötzlich auf. Sein Waffenarm sackte kraftlos hinunter. Und ehe er es verhindern konnte, fiel sein Colt auf den Boden. Ich hatte, wie geplant, den Oberarm getroffen.
Auch der andere ließ nun seine Waffe fallen. Langsam wanderten seine Arme in die Höhe. Und mit ihnen der schwarze Behälter.
Ich registrierte, daß das Girl die Augen nicht von dem Behälter lassen konnte. Offenbar lauerte sie auf eine Gelegenheit, ihn wieder an sich zu bringen.
Aber ich hatte nicht vor, ihr diese Gelegenheit zu liefern. Mit der Waffe im Anschlag ging ich auf die Gruppe zu.
Doch dann war da plötzlich dieser rote, glühende Punkt. Wie die Zigarettenglut in der Dunkelheit. Nur viel gefährlicher. Schnell wanderte er über die Karosserien der geparkten Autos. Sein Ziel war der Mann mit dem sonderbaren Behälter. Als der glühende Punkt über seinem Herzen verharrte, schaute er verständnislos darauf herab.
Ich schrie ihm eine Warnung zu. Aber zu spät.
Der Schuß des Präzisionsgewehrs zerriß die Stille der Nacht. Wie eine Marionette, der man plötzlich die Fäden durchschnitt, brach der Mann zusammen. Die Wucht des Geschosses ließ den schlaffen Körper einmal um die eigene Achse kreiseln. Dann fiel er auf den Bauch. Begrub den Behälter unter sich. Dumpf schlug der Kopf auf die Gehwegplatten.
Wie erstarrt standen wir da.
Der Schütze mit dem Laserzielgerät mußte irgendwo auf den Dächern der anderen Straßenseite lauern. Und ich wußte nicht, wen er als nächstes treffen würde.
Der Vertretertyp schien es auch nicht zu wissen. Und es machte ihn äußerst nervös. Gehetzt schaute er sich um. Dann begann er zu rennen - in die entgegengesetzte Richtung.
Dabei war ihm das Girl im Weg....