Lassen wir den Wind sprechen (eBook)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
280 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77153-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Lassen wir den Wind sprechen - Juan Carlos Onetti
Systemvoraussetzungen
14,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Lassen wir den Wind sprechen, ein Roman, der den Autor fast drei Jahrzehnte beschäftigt hat, schickt den Kommissar Medina in eine Zerreißprobe der Existenz, radikal zweifelnd, abgründig komisch: Seinem Polizistendasein in Santa María entflieht er nach Lavanda, wo er als Maler und Liebhaber dilettiert. Dafür lässt er sich von Frieda von Kliestein aushalten, einer Cabaret-Sängerin, die wie er selbst lieber mit Frauen schläft. Doch das ihm entrückte Santa María zieht ihn zurück. Und dort wieder angekommen, wird er schließlich als Kommissar die Ermordung Friedas untersuchen müssen, in die er selbst verstrickt zu sein scheint.

<p>Juan Carlos Onetti (*1909 in Montevideo, Uruguay, &dagger;1994 in Madrid, Spanien) ist vielfach und zu Recht als einer der bedeutendsten lateinamerikanischen Schriftsteller bezeichnet worden. 1932 erschien im Rahmen eines Literaturwettbewerbs eine Erz&auml;hlung von ihm in der argentinischen Tageszeitung <em>La Prensa.</em> Sein erster Roman, <em>El Pozo</em> (dt. <em>Der Schacht,</em> 1989), folgte 1939 in einer Auflage von 500 Exemplaren. Er ver&ouml;ffentlichte insgesamt elf Romane und zahlreiche Erz&auml;hlungen sowie zwei Sammlungen von Artikeln, von denen die Mehrzahl ins Deutsche &uuml;bersetzt wurde.</p> <p>Bis 1975 lebte er abwechselnd in Buenos Aires und Montevideo, arbeitete unter anderem f&uuml;r die Nachrichtenagentur Reuters, war lange Jahre als Direktor der st&auml;dtischen Bibliotheken in Montevideo t&auml;tig und publizierte regelm&auml;&szlig;ig in verschiedenen uruguayischen Zeitschriften. Erst mit dem Roman<em> La vida breve </em>(1950, dt. <em>Das kurze Leben, </em>1978) erlangte er einen gewissen Bekanntheitsgrad, blieb aber noch viele Jahre lang eine Art &raquo;Geheimtipp&laquo; und erst in relativ hohem Alter wurden ihm Ruhm und Achtung zuteil. In <em>La vida breve</em> erschuf er den fiktiven Kosmos um die Stadt Santa Mar&iacute;a, der in vielen weiteren Romanen und Erz&auml;hlungen auftauchen sollte.</p> <p>W&auml;hrend der Diktatur, die seit 1973 in Uruguay herrschte, wurde Onetti einige Monate lang in Haft gehalten. 1975 ging er mit seiner vierten Frau, der Geigerin Dorothea Muhr, ins Exil nach Madrid, wo er bis zu seinem Tod blieb und die Romane <em>Dejemos hablar al viento</em> (dt. <em>Lassen wir den Wind sprechen,</em> 1986),<em> Cuando entonces </em>(dt. <em>Magda,</em> 1989) und <em>Cuando ya no importe </em>(dt.<em> Wenn es nicht mehr wichtig ist,</em> 1996) ver&ouml;ffentlichte.</p> <p>Der uruguayische Nationalpreis f&uuml;r Literatur wurde ihm gleich zweimal verliehen: 1962 und nach der R&uuml;ckkehr der Demokratie noch einmal 1985. Au&szlig;erdem erhielt er 1980 den wichtigsten Literaturpreis der spanischsprachigen Welt: den Cervantes-Preis.</p> <p>1994 erschien die erste Ausgabe der <em>Cuentos completos </em>(dt. <em>Willkommen, Bob.</em> Gesammelte Erz&auml;hlungen, 1999) in Buenos Aires. Am 30. Mai desselben Jahres starb Juan Carlos Onetti 84-j&auml;hrig in Madrid.</p> <p>Fast alle gro&szlig;en Autoren Lateinamerikas erkennen Onettis Einfluss auf ihr eigenes Werk an, und von vielen wird er f&uuml;r den ...

I. Ite


Der Alte verweste schon, und ich fand es seltsam, dass nur ich den schwachen süßsauren Geruch wahrnahm; dass weder die Tochter noch der Schwiegersohn darüber sprachen. Sie waren verpflichtet, zu wittern und die Nase kraus zu ziehen, denn sie waren seine Verwandten und ich nichts weiter als Krankenpfleger, beinahe ein falscher, ehemaliger Arzt.

Das war die erste der Arbeiten, die mir Frieda aussuchte, als ich in Lavanda ankam, sie Avenida Brasil 1597 wiederentdeckte, schön und hart wie in den alten Zeiten, und ihr Geld abzulocken versuchte – sie hatte mehr, als sie brauchte – oder die Unterstützung, die jedem Einwanderer unentbehrlich ist, der als ein würdiger Hahnrei nach einer neuen Gelegenheit verlangt.

Die Arbeiten und die Strafen. Das Sterben des alten Mannes zu pflegen war der erste in der Reihe ihrer Racheakte ohne zureichendes Motiv. Wir schliefen beide lieber mit Frauen, und in irgendeiner erinnerungslosen Nacht kamen wir uns in Santa María ins Gehege, und ich blieb nicht Sieger, weil ich es verdient hätte, sondern weil das fragliche Flittchen mehr Angst vor meinem Kommissarausweis hatte als Verlangen nach dem, was sie, Frieda, ihr in dem Restaurant an der Küste in Aussicht stellte, ohne die Absicht, das Versprechen zu halten. Es war ein Spiel; und spät im Morgengrauen verlor Frieda, spie einen Strahl Speichel in ihr Glas, schminkte sich und brachte es fertig, mich anzulächeln, ehe sie aufstand, um hinauszugehen und ihren Wagen zu suchen. Es war damals ein kleiner, offener cremefarbener DeDion Bouton. Wir hatten alle drei so herzlich am selben Tisch gesessen. Das Flittchen, jung, mager, schmutzig, blieb bei mir. Ich kann keinen anderen Grund finden, und selbst dieser ist undurchsichtig.

Das Beste an der Erfahrung, dem ersten Racheakt, war die Kühle jener Morgen, wenn ich, erregt und viril aus Mangel an Schlaf, am Gitter der argentinischen Botschaft lehnte und auf den Omnibus 125 wartete. Die besten von allen waren die Morgen jenes stürmischen Sommers mit Schmutz und braunen Blättern auf dem Boden, diese unruhige Luft, die frisch für mich geschaffen worden war, diese raschelnde Fröhlichkeit der alten Bäume in den Gärten um die kleinen Villen, die Herrenhäuser, die einmal Namen und Ansehen besessen hatten, dieser unentschlossene, wirblige Himmel.

Denn weder die Luft noch ich glaubten so ganz an das, was wir während der Nacht getan oder gesehen hatten; und wir begannen den Tag damit, die Aufgaben zu verachten und, spaßeshalber, die Liebe, die Freundschaft, die Sympathie wiederaufzubauen, das Scheinbild des Glaubens an die Menschen, ihre kurzlebigen und wilden Überzeugungen.

Trotz der Hitze, die auf die Nerven ging, war die Nacht ruhig gewesen, und die Riten hatten sich mit der gleichen peinlichen Genauigkeit wie immer wiederholt. Der Schwiegersohn, der Hauptmann, kam um neun mit seiner Frau, fast unmittelbar nachdem das Dienstmädchen mit meinem Essenstablett das Schlafzimmer verlassen hatte und ich die erste Injektion vorbereitete.

Ich löschte die Spiritusflamme, legte die Spritze in die schwarze Schachtel und setzte mich wieder in den Sessel, in der Hand ein Buch mit dem Titel Vicos zyklisches Denken. Ich zog es vor, Injektionen nicht ohne Zeugen zu geben. »Nächtlicher Begleiter«, hatte Frieda gesagt, und diesen Titel wiederholte Quinteros. »Zweihundert Drachmen pro Nacht, und die Arbeit ist nichts«, sagte er eilig, während er ungerührt eine flache Hand auf Friedas Knie stützte und mir apokryphe Stücke aus der Geschichte des todkranken Alten vortrug und den Gedanken an mögliche Entdeckungen im Schlafzimmer, an den Möbeln, der Matratze, in Gesten und letztem Gelall nahelegte.

Quinteros hatte einen Ahnherrn, der sich den Namen Osuna erwählte, als die Katholischen Könige um 1500 eine kleine Säuberung vornahmen. Er aber setzte, außer bei Geschäften, den Quinteros durch, eine müßige und vielleicht befriedigende Herausforderung.

Ich weiß nicht genau, wann ich beschloss, die menschliche Dummheit, Santa María, Lavanda, den Rest der Welt, den ich nie kennenlernen würde, als unheilbar hinzunehmen. Mich jeglichen Widerspruchs zu enthalten. Ich weiß nicht, wann ich lernte, meine totale Nichtübereinstimmung mit Männern und Frauen schweigend auszukosten. Aber meine Begegnung mit Quinteros-Osuna, seiner potenten Dummheit, seiner unglaublichen Begabung, Geld zu verdienen, enthemmte mich, zwang mich, mit Begeisterung jene Form der Dummheit zu akzeptieren, die er mit überschwenglichem Lob, beinahe neidvoll, mir zusprach. Deshalb sagte ich ja zu allem und fügte Details, Retuschen, Verbesserungen an.

Aus diesem Grunde war ich auch imstande, wenn der Hauptmann-Schwiegersohn das Schlafzimmer betrat und mich über dem erfundenen Buch von Clausewitz antraf, leidenschaftlich und unvorsichtig diejenigen taktischen, strategischen und logistischen Punkte mit ihm zu diskutieren, bei denen es ihm nicht darauf ankam, andeutungsweise Konzessionen zu machen, wenn ich nur, im Gegenzug, staunend den Reden lauschte, die für die Militärgeschichte wie für die Weltgeschichte die Überzeugung hinterließen, dass er im Grundlegenden, im Wertvollen, in dem, was das Schicksal jedes vergangenen oder künftigen Krieges zurechtbiegen würde, niemals irrte.

Kam aber zuerst die Tochter des Sterbenden, Susana, dann las ich in einem der Romane, die sie »krude« nannte und die, wie ein entwendeter Brief, auf Augenhöhe im Regal der Bibliothek versteckt waren. Manchmal fragte sie mich um meine Meinung, welchen sie mitnehmen solle, und jedesmal gab sie ihn mir mit einem Seufzer, einem Erbarmen, einem vor Langsamkeit kranken, vor Mitleid zähflüssigen »widerlich« zurück. Versteckt, zur Schau gestellt hatte die Bücher der sterbende Alte, und mich sah sie mit einem Bedauern, einer Neugier an wie die, die in den verletzlichen Stunden der Morgendämmerung ich empfand, wenn ich den unruhigen Alten betrachtete, der schüchtern und ungeschickt in dem langen Schlaf unterzugehen begann, dabei auf die delirierenden Inseln stieß, Worte stammelte, die in ausgeklügelter Unrichtigkeit auf Erinnerungen anspielten, die niemals die ganze Wahrheit waren, auf Ereignisse oder Lügen, die er, der Mann, der er gewesen war, nicht gekannt hatte und die er nun, um mich zu täuschen und abzulenken, auszudehnen versuchte in diesen neunzig Minuten, die die Nacht von einem weiteren Tag trennen, diese neunzig Minuten, in denen der Tod frei herumläuft, sich anbiedert und man selbst, Tradition oder Instinkt, Vergessensrituale ausführt, um nicht ja zu sagen und sich anheimzugeben. Und da sie die Gewohnheit hatte, sich zum Plaudern mit weit auseinandergestellten Füßen hinzupflanzen, konnte ich nicht umhin, an Feuchtigkeiten zu denken, an herzerquickliche Pölsterchen über starren, unzerstörbaren Gebeinen.

Ein Buch oder sonst eine Seite Gedrucktes, die Kaffeemaschine, das anhaltende eingebildete Bedürfnis zu urinieren, die Nase in der Kälte des einen Spalt geöffneten Fensters, der jähe Schrei von Vögeln in meinem Kopf.

Und wenn Pablo hereinkam, das baldige Waisenkind – jedes im Herauf- und Näherkommen vorangemeldet durch die Stimmen und unterschiedlichen Geräusche, die sie den Treppenstufen entrangen –, konnte ich nach dem Buch von Adler greifen, das ich seit der ersten Nacht bei mir hatte, und, einen vergessenen Finger zwischen den Seiten, die Augen heben. Denn Pablo, zwanzig Jahre, studierte Medizin, hatte mir eines Nachts aber bereits gestanden, wie wild herumrennend in diesem Zimmer, das jeden unvorhergesehenen Augenblick ein Totenzimmer heißen konnte, rauchend, eine Zigarette an der andern anzündend, um dieser Sache, die noch sein Vater war, die stockende Atmung und das Ausruhen zu erleichtern, hatte mir gebeichtet, dass die allgemeine Medizin für ihn nur ein Sprungbrett sei, um anzukommen bei einem immer wiederkehrenden Kindertraum, den er Psychoanalyse nannte. Er hatte ein klares, ruhiges, intelligentes Gesicht und schüttelte gern das unordentlich in die Stirne fallende Haar.

Zu Beginn der Farce fühlte ich, dass von allen er der gefährlichste sei, von dem alten, zähen Sterbenden abgesehen. Doch nach einer Nacht der Geständnisse brachte er eine kleine Flasche Cognac mit, wusste ich, dass die Gefahr nicht in ihm lag.

Seit vielen Jahren war mir klar, dass man Katholiken, Freudianer, Marxisten und Patrioten in den gleichen Sack stecken muss. Ich will damit sagen, jeden, der an etwas glaubt, gleichgültig, woran; jeden, der argumentiert, weiß oder denkt, indem er gelernte oder ererbte Gedanken wiederholt. Ein Mensch mit einem Glauben ist gefährlicher als ein hungriges Raubtier. Der Glaube zwingt sie zur Tat, zur Ungerechtigkeit, zum Bösen; es ist gut, ihnen beipflichtend zuzuhören, unter vorsichtigem und höflichem Schweigen abzuschätzen, wie weit ihr Aussatz fortgeschritten ist, und ihnen jederzeit recht zu geben. Und der Glaube kann sich am Belanglosesten, Subjektivsten festmachen und entzünden: an der jeweils geliebten Frau, einem Hund, einer Fußballmannschaft, einer Nummer im Roulett, einer lebenslangen Berufung.

Der Aussätzige braust auf, sobald er aneckt, schwitzt angesichts des kleinsten oder vermuteten Widerspruchs Phosphorgerüche aus, sucht sich – den...

Erscheint lt. Verlag 9.10.2023
Übersetzer Anneliese Botond
Sprache deutsch
Original-Titel Angabe fehlt
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte aktuelles Buch • Borges • Bücher Neuererscheinung • bücher neuerscheinungen • Die so gefürchtete Hölle • Frieda von Kliestein • García Márquez • Kommissar • Kommissar Medina • Krimi • Lateinamerika • Montevideo • Neuererscheinung • Neuerscheinungen • neues Buch • Niemannsland • ST 5044 • ST5044 • suhrkamp taschenbuch 5044 • Uruguay
ISBN-10 3-518-77153-1 / 3518771531
ISBN-13 978-3-518-77153-2 / 9783518771532
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,4 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Die Geschichte eines Weltzentrums der Medizin von 1710 bis zur …

von Gerhard Jaeckel; Günter Grau

eBook Download (2021)
Lehmanns (Verlag)
14,99
Historischer Roman

von Ken Follett

eBook Download (2023)
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
24,99