Der Tod und das Mädchen (eBook)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
65 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77152-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Tod und das Mädchen -  Juan Carlos Onetti
Systemvoraussetzungen
10,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Der Tod und das Mädchen ist die Geschichte eines angekündigten Todes.
Lustlos geht er herum und erzählt aller Welt von seinem künftigen Verbrechen, Mord, Totschlag, Gattenmord, denkt der Arzt Díaz Grey über seinen Besucher, Jorge Malabia, der mit seiner aberwitzig erscheinenden Beichte noch vor ihm sitzt. Aber Worte täuschen, selbst den, der sie ausspricht, das weiß der grundskeptische Díaz Grey, und in einem späteren Gespräch mit einem anderen Gegenüber tastet er mühsam nach Worten für seine innerste, einsamste Erfahrung. - Mit wenigen Gestalten entwirft Onetti eine Welt, die von einem existentiellen Furor blitzartig erhellt ist: Gerichtstag, Farce, Kriminalroman, Welttheater zwischen einem nicht geglaubten Himmel und einer nicht geglaubten, aber präsenten Hölle. Mit der Intensität von Kammermusik, auf dichtestem Raum, erzählt er eine unergründliche Geschichte.



<p>Juan Carlos Onetti (*1909 in Montevideo, Uruguay, &dagger;1994 in Madrid, Spanien) ist vielfach und zu Recht als einer der bedeutendsten lateinamerikanischen Schriftsteller bezeichnet worden. 1932 erschien im Rahmen eines Literaturwettbewerbs eine Erz&auml;hlung von ihm in der argentinischen Tageszeitung <em>La Prensa.</em> Sein erster Roman, <em>El Pozo</em> (dt. <em>Der Schacht,</em> 1989), folgte 1939 in einer Auflage von 500 Exemplaren. Er ver&ouml;ffentlichte insgesamt elf Romane und zahlreiche Erz&auml;hlungen sowie zwei Sammlungen von Artikeln, von denen die Mehrzahl ins Deutsche &uuml;bersetzt wurde.</p> <p>Bis 1975 lebte er abwechselnd in Buenos Aires und Montevideo, arbeitete unter anderem f&uuml;r die Nachrichtenagentur Reuters, war lange Jahre als Direktor der st&auml;dtischen Bibliotheken in Montevideo t&auml;tig und publizierte regelm&auml;&szlig;ig in verschiedenen uruguayischen Zeitschriften. Erst mit dem Roman<em> La vida breve </em>(1950, dt. <em>Das kurze Leben, </em>1978) erlangte er einen gewissen Bekanntheitsgrad, blieb aber noch viele Jahre lang eine Art &raquo;Geheimtipp&laquo; und erst in relativ hohem Alter wurden ihm Ruhm und Achtung zuteil. In <em>La vida breve</em> erschuf er den fiktiven Kosmos um die Stadt Santa Mar&iacute;a, der in vielen weiteren Romanen und Erz&auml;hlungen auftauchen sollte.</p> <p>W&auml;hrend der Diktatur, die seit 1973 in Uruguay herrschte, wurde Onetti einige Monate lang in Haft gehalten. 1975 ging er mit seiner vierten Frau, der Geigerin Dorothea Muhr, ins Exil nach Madrid, wo er bis zu seinem Tod blieb und die Romane <em>Dejemos hablar al viento</em> (dt. <em>Lassen wir den Wind sprechen,</em> 1986),<em> Cuando entonces </em>(dt. <em>Magda,</em> 1989) und <em>Cuando ya no importe </em>(dt.<em> Wenn es nicht mehr wichtig ist,</em> 1996) ver&ouml;ffentlichte.</p> <p>Der uruguayische Nationalpreis f&uuml;r Literatur wurde ihm gleich zweimal verliehen: 1962 und nach der R&uuml;ckkehr der Demokratie noch einmal 1985. Au&szlig;erdem erhielt er 1980 den wichtigsten Literaturpreis der spanischsprachigen Welt: den Cervantes-Preis.</p> <p>1994 erschien die erste Ausgabe der <em>Cuentos completos </em>(dt. <em>Willkommen, Bob.</em> Gesammelte Erz&auml;hlungen, 1999) in Buenos Aires. Am 30. Mai desselben Jahres starb Juan Carlos Onetti 84-j&auml;hrig in Madrid.</p> <p>Fast alle gro&szlig;en Autoren Lateinamerikas erkennen Onettis Einfluss auf ihr eigenes Werk an, und von vielen wird er f&uuml;r den ...

I


Der Arzt lehnte sich zurück und klopfte mit der Kappe seines grünen Füllers eine Weile – wie tot von Müßiggang, Alter und nicht gesuchtem Reichtum – auf den bereits zwecklosen Rezeptblock.

Er dachte einen Augenblick lang an sich selbst; dachte und betrachtete dabei das asketische Gesicht des unvorhergesehenen, unvorhersehbaren Besuchers, des gutgekleideten und gesunden Kranken, der nach der Beichte aufrecht auf seinem Stuhl saß.

›Also ist nichts zu machen‹, überlegte er sanft. Also steckt uns dieser Hundsfott, dieser Sohn einer Hündin und der klassischen sieben Samenströme von ebenfalls sieben unbekannten Rüden – steckt er uns noch alle, einen nach dem anderen und mit weniger Hast als ein Schaltjahr, in den Sack. Lustlos geht er herum und erzählt aller Welt von seinem künftigen Verbrechen, Mord, Totschlag, Gattenmord (irgendeines dieser Wörter, sobald die Polizei sich meiner erinnert, sobald sie den Gerichtsmediziner benötigt); er spaziert durch diese Überreste von Santa María mit einem umgehängten Stück Pappe, das ihm kaum das Kreuz scheuert, weil sein Gang verschlagen und langsam ist, einem Schild, das in Grau und Rot verkündet: Ich werde töten. Das genügt ihm. Er ist aufrichtig, er kann nicht sagen, er hätte seines Nächsten Weib begehrt, denn das hieße lügen. Sein einziger Nächster ist er selbst. Und so macht er uns alle nach und nach zu seinen Belastungs- und Entlastungszeugen: den Bischof und Jesus Christus, Galen Galilei und mich, ganz Santa María. Und möglicherweise betet er Nacht für Nacht, weinend und auf Knien, zu Vater-Brausen-der-Dubist-im-Nichts, nötigt ihm die Komplizenschaft auf, will ihn in seine Ränke verwickeln, ohne ein wirkliches Bedürfnis, aus einem dunklen Drang nach künstlerischer Verfeinerung.‹

»Das ist alles, Doktor«, sagte der Besucher mit seiner an Resignation gewöhnten Stimme; er fügte hinzu: »Was kann ich tun?«

Díaz Grey ließ den Füller los und betrachtete schweigend die Falle, die Heuchelei, die verborgene Härte, die angeborene Verschlagenheit.

»Und sie?« fragte er, als glaubte er Zeit zu gewinnen, eine zeitlose und absolut unnütze Zeit.

»Ich verstehe nicht, Doktor.« Groß, auch im Sitzen, mit teurer dunkler Kleidung, mit seinem spärlichen, angeklatschten blonden Haar, ein ansehnlicher Kerl noch, aber aggressiv und gemein wie seine harte Nase, die immer aussah, als tauchte sie gerade zwischen zwei Seiten einer der vergilbten Riesenbibeln auf, die die ersten Einwanderer in die Schweizerkolonie mitgebracht hatten.

»Ich meine. Ob sie Bescheid weiß. Ob ihr die Ärzte – wie Ihnen – gesagt haben, dass eine weitere Geburt Lebensgefahr bedeuten würde.«

»Ja, sie weiß es. Man hat es ihr hier und in der Hauptstadt gesagt. In Europa haben sie es ihr vergangenes Jahr gesagt. Aber es war nicht die Rede von einer Gefahr für ihr Leben. Die Rede war von ihrem sicheren Tod.«

Von Mal zu Mal, von Satz zu Satz sicherer und entschlossener zu überzeugen. Wie er sich emporschraubt an der Beichte seines Verbrechens, es fast jubelnd vorwegnimmt, fatalistisch jedenfalls, so arglos von der Verzweiflung heimgesucht.

»Eine Angabe«, erbat Díaz Grey. »Wann wurde das erste Kind, das einzige, nehme ich an, geboren? Wie alt ist es?«

»Ein Jahr, dreizehn Monate.«

»Und seit damals, seit der Geburt und der heilsamen Quarantäne ...«

»Seit damals leiden wir. Wir sehen uns an, kauen an unseren Fingerknöcheln, beten und weinen.«

»Aber sie«, sagte Díaz Grey unwillig, als spräche er mit einem Jugendlichen, der sich über ihn lustig machte, »sie kann Ihnen doch helfen. Sie kann tun, was man Maßnahmen treffen nennt, kann sich auch verweigern.«

Der Patient schüttelte den Kopf, geduldig, unverstanden, ermüdet von dem Unverständnis.

»Sie weiß, genau wie ich, dass jede Vorkehrung Todsünde wäre. Und«, er hob den Kopf ohne Stolz, »sie würde sich auch nicht verweigern. Das Dilemma, ich wiederhole es, liegt allein bei mir. Deshalb habe ich Sie um diese Unterredung gebeten.«

Nicht nur deshalb, du Hundsfott; dahinter steckt ein Grauen, steckt ein Kalkül. Er fühlte sich schwächer als sein Besucher, begann ihn offen zu hassen. Mit absichtlicher Langsamkeit und ohne erkennbaren Grund knöpfte er seinen zerknitterten, sinnlosen Kittel auf, den er aus Routine und Anhänglichkeit weiterhin trug.

»Nun gut«, äußerte er gleichgültig, als spräche er von Kopfschmerztabletten und Stärkungsmitteln, »es geht um Sie, Herr Notar, ausschließlich um Sie: der Sie sie lieben und begehren und jeden Tag mehr, mehr in eben dem Maße, wie die Liebe Ihr Herz füllt und der Samen das Samenbläschen; Sie können keine Prostituierte mieten, weil das sündigen hieße gegen Brausen; können Ihren Samen nicht ins Bettlaken verströmen, können nicht masturbieren, haben keine andere Rettung, als sie umzubringen.«

Das hagere Gesicht des gutgekleideten Mannes schien schweigend und ruhig zu zählen, während Díaz Grey sprach. Dann bewegte es sich zustimmend.

Der Kittel war offen, der Arzt streifte ihn von den Schultern.

»Wie Sie trete ich nicht dafür ein, sie umzubringen. Wenn es keinen anderen Weg gibt, dann zerstören Sie sich, und ich hoffe Ihnen dabei helfen zu können. Ich spreche nicht von totaler Zerstörung, denn auch das wäre Todsünde. Und Brausen vergibt keine Fahnenflucht. Ich weiß, darin sind wir uns einig. Es ginge also darum, Ihnen eiskalte morgendliche Duschen zu verordnen, Brom und Kampfer, tägliche Fußmärsche von zwei, drei Stunden, Fastendiät wie an Karfreitag als einzigen Speiseplan. Es ginge darum, Ihre Impotenz viele Jahre vor dem natürlichen Klimakterium zu erreichen. Das ist traurig, ich verstehe. Neben der geliebten Gattin zu ruhen ohne die Hoffnung, dass sich das unsterbliche Verlangen erfüllen könnte. Aber so wird das Verlangen noch vor ihr sterben, und Sie werden befreit sein von den Teufeln und den Gewissensbissen.«

Jetzt lächelte der wohlgekämmte Mann ein wenig, kleine weiße Zähne in einen Scherz getaucht, den nur er zu entschlüsseln vermochte.

»Einverstanden«, sagte er ohne Gefühlsregung, »ich werde alles versuchen, was Ihr Rezept verordnet.« Und er fügte sanft hinzu: »Doktor.«

Díaz Grey nahm mit zwei Fingern den Kittel und ließ ihn von der Sessellehne auf den Teppich mit seinem Muster aus großen zertrampelten und verwelkten Blumen gleiten.

»Nein«, sagte er. »Kein Rezept. Das möchte ich Ihnen weder schreiben noch geben. So soll es genügen, ich vertraue auf Ihr Gedächtnis. Und vor allem glaube ich an Ihre Intelligenz. Ich glaube an sie und fühle mich nicht glücklich dabei. Im übrigen schreibt Ihr Beichtvater Ihnen auch kein Attest.«

Er war sicher, in abschließendem Ton gesprochen zu haben, ganz so, als hätte er den anderen aus dem Zimmer gestoßen. Aber der große, schlanke und blonde, geschniegelte und pomadisierte Mann hatte sich ebenfalls erhoben und erklärte gemessen und mit halbgeschlossenen Augen:

»Auch er nicht, klar. Ich bin nicht auf der Suche nach Beglaubigungen. Mir genügt es, wenn ich mir Gehör verschaffe.«

»Natürlich, ich verstehe. Der Herr Weihbischof, oder wie er heute heißt, hat Sie schon angehört. Für mich heißt er weiterhin Pfarrer Bergner. Jetzt bin ich an der Reihe. Und bestimmt kennen zumindest alle volljährigen Einwohner der Kolonie den Prolog, den ich gerade von Ihnen gehört habe.«

»Kann sein«, sagte der Patient. »Aber ich habe darüber nur mit dem Herrn Bischof und mit Ihnen gesprochen. Mit dem Bischof, das ist wahr, habe ich es nicht in Form einer regulären Beichte getan. Aber ich kenne ihn seit der Kindheit – meiner natürlich –, und ich bin mir seiner Diskretion sicher, wie ich auch der Ihren sicher bin.«

Zum ersten Mal in dem Gespräch – auch wenn Díaz Grey nachher nicht hätte versichern können, dass es wirklich das erste Mal war – ließ der Mann ein zynisches und fast amüsiertes Lächeln entgleiten. Der Mann sagte:

»Weder Pfarrer Bergner noch Sie. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass sie, genauso verzweifelt wie ich und überdies eine Frau, mit Freundinnen oder Verwandten gesprochen hat. Die Frauen, das ist was anderes. Die glauben – wie die chronisch Kranken, Sie wissen das besser als ich –, dass sie, wenn sie ihre Probleme überall ausposaunen, schon irgendwie Hilfe oder zumindest eine Art Halt bekommen im Austausch für jede Vertraulichkeit. Für den Moment haben wir einen Aufschub beschlossen. Sie können es eine vorübergehende Lösung nennen. Vielleicht möchte der Herrgott uns ja helfen. Ich beabsichtige, ein paar Monate in die Hauptstadt und nach Chile zu gehen, um an einigen...

Erscheint lt. Verlag 9.10.2023
Übersetzer Jürgen Dormagen
Sprache deutsch
Original-Titel Angabe fehlt
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Existenzielle Fragen • für diese Nacht • Kriminalroman • Lateinamerika • Literatur des amerikanischen Subkontinents. • Miontevideo • Niemandsland • ST 5043 • ST5043 • suhrkamp taschenbuch 5043 • Tod • Weltliteratur • Welttheater
ISBN-10 3-518-77152-3 / 3518771523
ISBN-13 978-3-518-77152-5 / 9783518771525
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,1 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Die Geschichte eines Weltzentrums der Medizin von 1710 bis zur …

von Gerhard Jaeckel; Günter Grau

eBook Download (2021)
Lehmanns (Verlag)
14,99
Historischer Roman

von Ken Follett

eBook Download (2023)
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
24,99