Zeilen und Tage III (eBook)

Notizen 2013-2016
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
604 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77756-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zeilen und Tage III -  Peter Sloterdijk
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Seit einem halben Jahrhundert hält Peter Sloterdijk jeden Morgen Gedanken, Erlebnisse und Kommentare zum Zeitgeschehen fest; seit 2012 hat er zwei Bücher mit datierten Notizen aus diesem Fundus publiziert - zur Begeisterung seiner Leser und der Kritik: »Ansichten, die zu verblüffen wissen, ein- und aufleuchten.« (FAZ) Mit der nun erscheinenden Fortsetzung decken die Aufzeichnungen einen großen Teil des langen Jahrzehnts zwischen der Lehman-Pleite und Wladimir Putins Angriff auf die Ukraine ab.
Dabei bietet auch dieser Band weit mehr als die Chronik einer Abfolge politischer Krisen um Krim (2014), Migration (2015) und Brexit (2016). Zeilen und Tage III bleibt der polythematischen, weitwinkligen und mit dem Zufall sympathisierenden Grundhaltung des Notizen-Projekts verpflichtet. Sloterdijk ist beim Leben, Denken und Lesen stets in Bewegung, stellt Campusromanszenen neben Kurzrezensionen, funkelnde Aphorismen neben szintigrafisch protokollierte Vitalfunktionen. So drückt sich in diesem Band erneut eine chronische Reizbarkeit aus, die unabhängig von der Jahreszeit auf den Pollenflug der Themen reagiert.



<p>Peter Sloterdijk wurde am 26. Juni 1947 als Sohn einer Deutschen und eines Niederländers geboren. Von 1968 bis 1974 studierte er in München und an der Universität Hamburg Philosophie, Geschichte und Germanistik. 1971 erstellte Sloterdijk seine Magisterarbeit mit dem Titel <em>Strukturalismus als poetische Hermeneutik</em>. In den Jahren 1972/73 folgten ein Essay über Michel Foucaults strukturale Theorie der Geschichte sowie eine Studie mit dem Titel <em>Die Ökonomie der Sprachspiele. Zur Kritik der linguistischen Gegenstandskonstitution</em>. Im Jahre 1976 wurde Peter Sloterdijk von Professor Klaus Briegleb zum Thema<em> Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte der Autobiographie der Weimarer Republik 1918-1933</em> promoviert. Zwischen 1978 und 1980 hielt sich Sloterdijk im Ashram von Bhagwan Shree Rajneesh (später Osho) im indischen Pune auf. Seit den 1980er Jahren arbeitet Sloterdijk als freier Schriftsteller. Das 1983 im Suhrkamp Verlag publizierte Buch <em>Kritik der zynischen Vernunft</em> zählt zu den meistverkauften philosophischen Büchern des 20. Jahrhunderts. 1987 legte er seinen ersten Roman <em>Der Zauberbaum</em> vor. Sloterdijk ist emeritierter Professor für Philosophie und Ästhetik der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und war in Nachfolge von Heinrich Klotz von 2001 bis 2015 deren Rektor.</p>

Vorbemerkung


Die vorgelegte neue Serie »datierter Notizen« – dieser Ausdruck ist, wie ich meine, dem mißverständlichen Begriff »Tagebücher« weiterhin vorzuziehen – setzt nach dem 22. September 2013 ein, dem Tag der Wahlen zum Deutschen Bundestag, die den Auftakt zur »dritten Ära Merkel« (2013-17) geben sollten.

Das an lähmenden Folgen schwere Datum, auf das die ersten Eintragungen sich beziehen, markierte den Beginn jener von vielen als überlang empfundenen Phase der großen Koalition aus Unionsparteien und SPD, die bis in den Herbst des Jahres 2021 andauerte, als sie am Ende der »Ära Merkel IV« von der sogenannten Ampelkoalition abgelöst wurde. Vermutlich werden die Geschichtsbücher von ihr statuieren, sie sei eine Zeit sinkender politischer Libido und steigender staatsbürgerlicher Konfusion gewesen. Ich empfand sie, was die öffentlichen Zustände betrifft, als eine nicht enden wollende Lethargokratie: einen Zustand, in dem die Regierenden und die Regierten sich gegenseitig einschläfern.

Man verstünde diese Hinweise falsch, wollte man aus ihnen folgern, in der neuen Folge von Transkriptionen aus den Notizbüchern jener rund zwölfhundert Tage werde das Politische stärker betont oder heftiger vermißt als in den beiden früheren Bänden. Ein solcher Eindruck, sollte er entstehen, ergäbe sich ohne Absicht. Die fortgesetzten Aufzeichnungen bleiben der polythematischen, sprunghaften, weitwinkligen und mit dem Zufall sympathisierenden Grundhaltung treu, die schon bei den Notizen der Jahre 2008 bis 2011 und 2011 bis 2013 bestimmend war. Sie drückt eine chronische Reizbarkeit aus, die auf den Pollenflug der Themen unabhängig von der Jahreszeit reagiert, mehr synergisch als allergisch. Schon am Beginn des Unternehmens hatte ich meine Neigung, mich für Erlebtes sprachlich zu revanchieren, mit einer noblen Ausrede umkleidet, indem ich mir Paul Valérys Idee der »intellektuellen Komödie«, die er sich von einer kommenden Literatur erwarte, zu eigen machte.

Im übrigen wollte es der Zufall, daß der Beginn der Notizen, die dieser dritten Serie zu Grunde liegen, mit dem Moment in eins fiel, an dem ich die Korrekturen an der französischen Übersetzung von Zeilen und Tage. Notizen 2008-2011, des ersten Versuchs dieser Art, zum Abschluß brachte. Ich tat dies in der bei Autoren nicht selten anzutreffenden leichtfertigen Hoffnung, das Buch, unter dem schmalen Titel Les lignes et les jours, werde seinen Weg zu vielen Lesern finden, obschon mein Pariser Verlag, Maren Sell Éditeurs, nur eine Nußschale im französischen Büchermeer war und ohne schlagkräftige Distribution und Publicity auszukommen hatte. Mir schien die Annahme berechtigt, französische Leserschaften reagierten so gut wie immer mit einer Art von geschmeicheltem Entgegenkommen, sobald sie sich von einem Ausländer ernst genommen fühlen – warum nicht auch von einem frankophilen Deutschen mit einem Namen, den nur sehr reiselustige Zeitgenossen spontan als niederländisches Toponym einordnen? De facto spielten »französische Zustände« in den Notizen jener Jahre eine mehr als beiläufige Rolle. Jedoch, man hatte sich mit einem bloßen Achtungserfolg zufriedenzugeben, in der Landessprache einem succès d'estime, den man bei Jahrmarktlotterien den Trostpreis nennen würde. Es wäre undankbar, wollte man nicht auch dies als Positivum bewerten, nicht zuletzt im Hinblick auf die Arbeit des Übersetzers, Olivier Mannoni, mit dem mich nun schon eine drei Jahrzehnte währende Arbeitsgemeinschaft verbindet.

Natürlich wollte der erwähnte Zufall von sich aus nichts. Er gab auf seine übliche absichtslose Weise einen Anstoß für Nachgedanken in selbstskeptischer Stimmung. Infolge der ausgedehnten Wiederbegegnung mit den älteren quasi-diaristischen Dokumenten vergangener Jahre wurde ich erneut auf die Frage aufmerksam, ob nicht bei dem Projekt einer »Fortsetzung« das Risiko zunehmender Verzerrungen in Betracht zu ziehen wäre. Daß eine Fortführung der Notizen sich nicht würden vermeiden lassen, war mir bald nach der Publikation des ersten Teils klar geworden. Nicht wenige deutsche Leser hatten weitere Bände postuliert – ungeachtet der Versicherung des Autors am Ende der Einleitung zu Zeilen und Tage, wonach Anschlußpublikationen nicht zu befürchten seien. Die Neuen Zeilen und Tage. Notizen 2011-2013, die, gewissermaßen wortbrüchig, im Jahr 2018 erschienen, waren die Folge meines Nachgebens gegenüber den Plädoyers von Freunden, Lesern und Kritikern sowie den eigenen Neigungen.

Ich widmete diese Neuen Zeilen meinem holländischen Freund, dem am 13. März 2015 im Alter von 58 Jahren verstorbenen Philosophen René Gude, dessen Präsenz auf vielen Seiten jenes Buchs zu bemerken ist, wie auch bis zu den entsprechenden Notizen des hier vorliegenden Buchs im Heft 127. In mehr oder weniger diskreten Andeutungen sprechen manche Einträge vom Auf und Ab seiner Krankheit, die für uns über mehrere Jahre ein hartnäckiger Tischgenosse geworden war. René ging am Ende durchaus more philosophico dahin, in einer für mich kaum erklärlichen Heiterkeit, ja mit einem ziemlich gräßlichen schwarzen Humor, nachdem er sich von einem Amsterdamer Schreiner einen asymmetrischen Sarg für Einbeiner hatte anfertigen lassen, um in ihm das Liegen für die Ewigkeit zu proben. Während seines letzten Jahres war er auch als Comedian und Stand-up-Philosoph aktiv geworden, er trat in Amsterdamer Kabarettkneipen und im Fernsehen auf. Er hatte sogar zeitweilig das – in Deutschland und anderswo unvorstellbare – Amt eines »Denkers des Vaterlands« inne, zu dem das Privileg gehört, sich in allen möglichen Foren, nationale TV-Programme inbegriffen, zu Wort melden zu dürfen, um Gegenstände jeder Art, aktuelle wie zeitlose, zu kommentieren. Er übte seine Aufgabe aus, als habe er seine Landsleute davon überzeugen wollen, daß sein Talent, Eloquenz mit Deutlichkeit und Freundlichkeit zu verbinden, die zeitgemäße Version der docta ignorantia sei. So konnte es dahin kommen, daß die philosophische Urteilskraft eine Zeitlang auf einem Amsterdamer Hausboot zu Hause zu sein schien. Dort ging die Geistesgegenwart ganz umweglos in Gastfreundschaft über – und wie von selbst ergaben sich Exkursionen in gemeinsames Denken. Offensichtlich wollte René sich nicht ohne eine Pantomime des philosophischen savoir mourir verabschieden, quasi einen niederländisch-spinozistischen Nachtrag zu den Surrealismen des 20. Jahrhunderts. Viel spricht dafür, daß es gelang.

Die damals bei mir aufkommende Besorgnis, wonach die Aussicht auf eine spätere Publikation, zu Lebzeiten oder posthum, einen Schatten auf den existentiellen und intellektuellen Alltag und seine schriftlichen Reflexe werfen müsse, erwies sich mit der Zeit als nicht allzu begründet. Zunächst drängt wohl der Anschein sich auf, man werde durch das Mitschreiben von Gesehenem, Gehörtem, Gedachtem Tag um Tag unter einen Zwang geraten, für die Nachwelt zu posieren. In Wirklichkeit dauert die Versuchung durch Repräsentativität kaum länger als ein Blick in die Kamera, wenn man für einen Gesprächsartikel mit Portraits das Photographiergesicht macht. In der Sekunde danach verfliegt das Glitzern, schnell hat die Gewöhnlichkeit dich wieder. Sollte von den noch leeren Blättern des Notizbuchs der leise Zuruf ausgehen: Lebe interessant!, könnte ich nur mit den Schultern zucken. Die Autoren der Schule von Palo Alto, Bateson, Watzlawick und Co., haben uns vor mehr als einem halben Jahrhundert über die pathogenen Wirkungen selbstdementierender Aufforderungen informiert, wie sie wirksam werden in Sätzen vom Typ: »Nun sei doch endlich mal spontan!« oder: »Ich erwarte, daß du dies oder das ganz von dir aus tust!« Sobald man den Widerspruch durchschaut, verliert er seine deformierende Wirkung. Ein Freund von mir, den wir im Sommer gern besuchen, besitzt in der Nähe von Salzburg ein von einem Designer gestaltetes, als Kunstwerk deklariertes Schwimmbad, auf dessen Boden in goldglitzernden Buchstaben die Worte: Be amazing eingelassen sind. Gelegentlich schwamm ich darüber hin und her und mußte notieren, daß ich mich am anderen Beckenrand so unerstaunlich fand wie am ersten.

Es sollte sich erübrigen zu betonen, daß die folgenden Seiten keinen Anspruch auf Faksimilequalitäten erheben. Sie unterscheiden sich vom ursprünglichen Material vor allem durch die Auswahl, man könnte, etwas pompös,...

Erscheint lt. Verlag 9.10.2023
Reihe/Serie Datierte Notizen
Datierte Notizen
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Briefe / Tagebücher
Literatur Romane / Erzählungen
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ISBN-10 3-518-77756-4 / 3518777564
ISBN-13 978-3-518-77756-5 / 9783518777565
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