Am Anfang ist der Tod (eBook)
440 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77582-0 (ISBN)
Aus einem katholischen Mädcheninternat in Berlin ist die 16-jährige Rebecca Lilienthal verschwunden. Die beiden Kommissare Otto Ritter und Lukas Kocay machen sich auf die Suche nach ihr. Es scheint, als sei Rebecca einem Kult in die Hände gefallen, der darauf spezialisiert ist, abenteuerlustige Mädchen und Frauen aus der Berliner Clubszene zu fangen, zu vergewaltigen und zu töten. Im Mittelpunkt dieser sinistren Aktivitäten steht ein Club namens »Das Loch« und dessen charismatischer Chef, der sich Laszlo Gupta nennt. Auf der Suche nach Rebecca stoßen die Polizisten auf immer mehr Hinweise auf eine »Raucherzone«, einen geheimen Ort unvorstellbarer Orgien und Laster. Und hinter Gupta zeichnet sich eine noch viel dunklere Gestalt ab: der König, ein mysteriöses, angeblich grauenhaft anzusehendes Monster. Aber wer hat den König schon je gesehen? Der Tod ist allerdings nur der Anfang und kann der Selbstermächtigung von Frauen keinen Einhalt gebieten.
Jesús Cañadas, geboren 1980 in Cádiz, Schriftsteller, Übersetzer und Drehbuchautor. 2003 veröffentlichte er seine erste Kurzgeschichte im <em>Asimov’s Science Fiction Magazine</em>. Sein Debütroman <em>El baile de los secretos</em> (2011) war Finalist für den besten Roman der Scifiworld Awards, mit <em>Los nombres muertos</em> (2013) etablierte er sich als eines der aufstrebenden Talente der spanischen Fantasy. Im Jahr 2015 stieß er zum Drehbuchautorenteam der Serie <em>Vis a Vis</em>, 2017 wurde sein letzter Roman, <em>Las tres muertes de Fermín Salvochea</em>, zu einem der besten Fantasy-Bücher der letzten Jahre gekürt. Jesús Cañadas lebt seit etlichen Jahren in Berlin.
1
Griessmühle
Ich folge ihr schon seit einer ganzen Weile und weiß nicht, was ich tun soll. Die junge Frau mit dem pistaziengrünen Koffer geht langsam; ich glaube, sie ist sich nicht sicher, ob sie wegrennen oder mich vorbeilassen soll. Sie tut keins von beidem. Vermutlich fragt sie sich, was passiert, wenn sie stehen bleibt und ich ebenfalls stehen bleibe. Wenn sie losrennt und ich ihr hinterherrenne. Herausfinden will sie es lieber nicht, könnte ich mir vorstellen. Um diese Zeit sind die Straßen leer, nur hier und da fährt ein Auto mit voll aufgedrehter Heizung und fest verschlossenen Fenstern vorbei. In dieser Gegend gibt es weder Dönerläden noch Spätis, in denen sie Zuflucht suchen könnte. Zuflucht vor mir. Als ob ich ein Gewitter wäre. Als ob ich gefährlich wäre.
Stattdessen geht sie im gleichen Rhythmus weiter. Die Rollen ihres pistaziengrünen Koffers rattern über den Gehweg. Ich weiß nicht, wo sie hinwill. Was ich sehr wohl weiß: dass ich ihr schon seit geraumer Zeit folge. Und unschlüssig bin, was ich tun soll.
Vor gut einer Stunde lag ich noch in Ninas Bett und beobachtete, wie sie ihren Slip anzog, ihre Trainingshose, ein Paillettenshirt mit dem Konterfei von Lady Gaga. Wie sie mit ihren Socken, die sie nicht ausgezogen hatte, in rosa Hausschuhe schlüpfte.
»Magst du Lana Del Rey?«, fragte ich sie unvermittelt.
»Nein«, antwortete Nina.
Auf der Straße ist sonst niemand unterwegs. Es ist Ende Oktober, und die Stadt ist bereits in ewiger Nacht versunken. Vor einer Woche wurde die Zeit umgestellt, jetzt dämmert es schon gegen halb fünf. Monatelange Dunkelheit liegt vor uns. Die junge Frau tut so, als würde sie ein Schaufenster betrachten, aber mir entgeht nicht, dass ihr Blick in meine Richtung huscht. Sie will wissen, ob ich noch hinter ihr bin. Sie sieht mich und dreht den Hals ruckartig wieder in die andere Richtung. Die Bäume entlang des Gehwegs haben schon ihre Blätter verloren. Über uns kreuzen sich tote Zweige.
»Ich hab auf einem Plakat gesehen, dass sie bald nach Berlin kommt«, teilte ich Nina mit. »Wenn du willst, gehen wir hin.«
»Ich sagte doch gerade, dass ich sie nicht mag, Kocaj. Hörst du mir überhaupt zu?«
Ich sprang auf und zog mich ebenfalls an, wobei ich darauf achtete, nicht auf das zugeknotete Kondom auf dem Boden zu treten. Es dauerte eine Weile, bis ich meinen Geldbeutel fand. Offenbar hatte ihn ein achtloser Fußtritt von uns unter den Schreibtisch befördert. Ich muss mir unbedingt angewöhnen, ihn neben der Pistole abzulegen.
Die junge Frau mit dem pistaziengrünen Koffer beschleunigt ihre Schritte. Ich könnte die Straßenseite wechseln. Ich könnte einfach stehen bleiben. Warten, bis sie sich entfernt hat. Doch ich tue es nicht. Ich gehe weiter, im gleichen Rhythmus wie sie. Die Situation ärgert mich. Sie kann natürlich nichts dafür, dass sie sich bedroht fühlt, aber ich auch nicht. Ich bin nur auf dem Heimweg und gehe zufällig hinter ihr her. Mit wenigen Metern Abstand. Seit fast einer Stunde. Ich könnte das Handy rausholen und mit Jana telefonieren, oder mit Suly; könnte mich über Fußball unterhalten, schön laut, damit sie merkt, dass ich auch nur ein ganz normaler Mensch bin. Ich tue es nicht.
Nina war sauer, weil ich so früh ging.
»Wollten wir nicht zusammen einen Film schauen, Kocaj?«
»Ein anderes Mal. Ich muss um sieben zu Hause sein.«
»Dann verpiss dich.«
Ich ging zu ihr, um ihr einen Kuss zu geben, aber sie drehte das Gesicht weg. Mein Kuss landete auf dem chinesischen Schriftzeichen, das sie auf den Hals tätowiert hat. Ein Blick aus dem Fenster verriet mir, dass es bereits stockdunkel war. Also verstaute ich hastig Pistole und Geldbeutel in meiner Sporttasche.
»Kocaj«, sagte Nina, als ich gerade die Wohnungstür aufmachen wollte. »Ich denke, wir sollten uns nicht mehr sehen.«
Ich nahm die Hand von der Türklinke.
»Warum?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Weil ich nicht mehr will.«
»Bist du sauer?«
»Nein. Ich hab nur keine Lust mehr.«
Einige Sekunden vergingen. Ich legte wieder die Hand auf die Klinke, öffnete die Tür.
»Wie du willst.«
»Fick dich, Kocaj.«
Ich verließ Ninas Wohnung und machte leise die Tür hinter mir zu.
Wenn man als Frau abends allein in Neukölln unterwegs ist, noch dazu bei dieser Kälte und Dunkelheit, ist jemand, der einem schon so lange folgt, ganz bestimmt kein normaler Mensch. Hinzu kommt mein nicht gerade vertrauenerweckendes Äußeres: ein großer Typ, die dunkelblonden Haare kurzgeschoren, blass und mit ausgeprägten slawischen Gesichtszügen. Wahrscheinlich wirke ich wie ein Gangster, und das auch nur an guten Tagen. An schlechten bin ich eher Draculas Cousin. Ich müsste wirklich dringend die Straßenseite wechseln. Aber ich tue es nicht. Ich tue gar nichts, gehe nur weiter geradeaus.
Nina wohnt im Norden Berlins, in jener diffusen Gegend, die die Bezirke Wedding und Mitte je nach Anlass für sich beanspruchen. Als ich am Gesundbrunnen zur S-Bahn hochging, sah ich, dass die Ringbahn nicht fuhr. Ursache ist ein Unfall im Bahnhof Treptower Park. Entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten. Der Bahnverkehr wird so bald wie möglich wieder aufgenommen.
»Sorry.«
Gemeint war ich.
»Sorry, sprichst du Englisch?«
Ich drehte mich zu der Stimme um und konnte nicht umhin, ihre Besitzerin von Kopf bis Fuß zu mustern. Sie war klein und zierlich, völlig unzulänglich gekleidet für den Berliner Herbst mit einem Leinenkleid, Strumpfhosen und einer leichten Wolljacke. Sehr schwarze kurze Haare, die linke untere Schädelhälfte rasiert. Sie merkte, dass ich sie anstarrte, und schien es zu bereuen, mich angesprochen zu haben.
»Ja.«
»Die S-Bahn fährt nicht, oder?« Ausländischer Akzent. Französin, Spanierin, etwas in der Art. Ich schüttelte den Kopf. »Weißt du, wie ich zur Sonnenallee komme?«
»Ja.« Ich zeigte zum anderen Ende des Bahnhofs. »Du gehst dort hinten die Treppe runter, nimmst die U8 Richtung Hermannstraße und steigst am Hermannplatz aus. Dort beginnt die Sonnenallee. Je nachdem, auf welche Höhe du musst, lohnt es sich, in den M41er Bus umzusteigen. Wo genau willst du hin?«
Ein Fehler. Ihr ganzer Körper wich vor mir zurück.
»Das reicht mir schon, danke.«
»Gerne. Einen schönen Abend.«
Sie marschierte mit ihrem pistaziengrünen Koffer los, und ich atmete durch die Nase aus. Dann ging ich in dieselbe Richtung los. Erst als sie in die U8 stieg, merkte sie, dass ich hinter ihr war. Ich stieg ebenfalls ein und setzte mich in den hinteren Teil des Waggons. Als sich unsere Blicke trafen, lächelte sie mir zu, aber es war das gezwungene Lächeln, mit dem man einen Bettler bedenkt, wenn man kein Kleingeld bei sich hat oder ihm nichts geben will. Ich blickte während der ganzen Fahrt aus dem Fenster. Wenn ich behaupten würde, ich hätte nicht ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe betrachtet, würde ich lügen. Sie erwischte mich mehr als einmal dabei.
Dann kam das Schlimmste, zumindest für sie.
Am Hermannplatz stieg sie aus, und auch ich verließ die U-Bahn. Sie stieg in den M41er Bus um, ich folgte ihr. An der Haltestelle Mareschstraße stieg sie aus, genau wie ich. Sie ging die Mareschstraße entlang bis zur Schudomastraße und bog rechts ab. Auch ich ging dort nach rechts. Inzwischen musste es um die vierzig Minuten her sein, dass sie mich gefragt hatte, wie man zur Sonnenallee kommt – und dass ich sie gefragt hatte, wo sie genau hinmusste, und damit ihr Misstrauen erregt hatte.
Wie still die Straße ist.
Das Einzige, was zu hören ist, sind die Rollen ihres pistaziengrünen Koffers auf dem Asphalt. Ihre Nervosität ist jetzt greifbar. Sie sieht sich alle paar Schritte unverhohlen um, erblickt mich weniger als zwanzig Meter hinter sich, auf demselben Gehweg. Ich sollte endlich zur anderen Straßenseite wechseln. Ich tue es nicht. ...
Erscheint lt. Verlag | 24.9.2023 |
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Sprache | deutsch |
Original-Titel | Dientes rojos |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | aktuelles Buch • Berghain • Berlin • Bücher Neuererscheinung • bücher neuerscheinungen • Clubszene • Deutschland • Entführung • Feiern gehen • Feministisch • Gewalt gegen Frauen • Halloween • Horror • Mädcheninternat • Mitteleuropa • Mord • Mysteriöser Fall • Neuererscheinung • Neuerscheinungen • neues Buch • Nordostdeutschland • Sisyphos • Spannung • ST 5343 • ST5343 • suhrkamp taschenbuch 5343 • Thriller • Verbrechen an Frauen • Vermisstenfall • verschwunden |
ISBN-10 | 3-518-77582-0 / 3518775820 |
ISBN-13 | 978-3-518-77582-0 / 9783518775820 |
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