Als wir an Wunder glaubten (eBook)

Roman

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eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
260 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-77801-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Als wir an Wunder glaubten -  Helga Bürster
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Ende der 1940er Jahre: Der Krieg ist endlich vorbei - doch in dem kleinen Ort Unnenmoor haben die Menschen kaum in ihr Leben zurückgefunden, wie auch im Rest des Landes nicht. Die alten Gewissheiten haben sich als falsch erwiesen, alles, woran man glauben und woran man sich festhalten konnte, taugt ebenso wenig als sicherer Grund wie das Moor. Wanderprediger verkünden den nahenden Weltuntergang und versprechen zugleich Heilung und Erlösung.
Die elfjährige Betty Abels und ihre Mutter Edith kommen gerade so über die Runden. Der Vater ist im Krieg geblieben. Als Betty eines Nachts verschwindet und ihr Freund Willi grün und blau geschlagen im Ort auftaucht, gibt es nur eine Erklärung: Da sind Hexen am Werk. Und wer könnte es wohl eher gewesen sein als die hübsche Edith, die sich zu fein ist für die Männer, die noch übrig sind? Betty und Edith wird zunehmend das Leben schwergemacht. Doch während das Gerede über Hexen immer lauter wird, rückt mit der Trockenlegung des Moors der Fortschritt heran und verspricht den Menschen in Unnenmoor einen Neuanfang ...

Helga Bürsters neuer Roman taucht atmosphärisch und intensiv in die Zeit der Verlorenheit nach dem Zweiten Weltkrieg ein und erzählt von Menschen, denen die Orientierung abhandengekommen ist, und von ihrer Sehnsucht nach einem Leben ohne die Schatten der Vergangenheit.



Helga B&uuml;rster, geboren 1961, ist in einem Dorf bei Bremen aufgewachsen, wo sie auch heute wieder lebt. Sie studierte Theaterwissenschaften, Literaturgeschichte und Geschichte in Erlangen, war als Rundfunk- und Fernsehredakteurin t&auml;tig, seit 1996 ist sie freiberufliche Autorin. Zu ihren Ver&ouml;ffentlichungen z&auml;hlen Sachb&uuml;cher und Regionalkrimis, zudem wurden von Radio Bremen/ NDR sowie vom SWR H&ouml;rspiele von ihr ausgestrahlt. 2019 erschien ihr literarisches Deb&uuml;t <em>Luzies Erbe</em>.

2


Am Donnerstag sollte es auch hier so weit sein. Es hatte sogar in der Zeitung gestanden. Theo wusste davon. Schließlich schrieb er für den Moorboten. Die wichtigsten Seiten hingen im Schaukasten aus, die Todesannoncen, die Familienanzeigen, die amtlichen Bekanntmachungen und Berichte über Unnenmoor. Die wenigsten bekamen das Blatt ins Haus, aber so kriegten alle das meiste mit. Edith und Betty Abels wussten von Theo, dass die Welt heute auch in Unnenmoor untergehen sollte. Theo kam oft rüber, er wohnte gleich nebenan. Er saß fast jeden Tag in der Küche, das schlimme Bein unter dem Tisch ausgestreckt, und guckte Edith beim Nähen und Wäschemachen zu. Dabei erzählte er, was es Neues gab, denn zu Hause saß er alleine. Seine Lise war letztes Jahr gestorben, Kinder hatten sie keine. Edith ging es ähnlich, denn Otto Abels galt als verschollen. Allerdings hatte sie Betty.

»In den Nachbardörfern ist die Welt auch schon untergegangen, aber keiner hat’s gemerkt.« Theo schüttelte den Kopf. »Was für ein malleriger Kram das ist. Als ob wir nicht schon genug vom Untergang gehabt hätten.«

Edith flickte gerade seine Manchesterhose. Da war eine Naht aufgerissen, also saß Theo in langer Unterwäsche da und wartete, dass die Hose fertig wurde. Er hatte nur zwei, die hier und die gute.

»Der soll ja auch alle Krankheiten heilen, dieser Professor«, meinte Edith. »Deshalb laufen ihm die Leute hinterher.« Sie biss den Faden ab. »Ich hab kurz überlegt, ob ich mit meinen Kopfschmerzen hingehen soll. Die sind wieder schlimmer geworden.« Sie hielt die Hose ins Licht und betrachtete ihr Werk. »Aber der soll ja auch nicht ganz billig sein, wie man hört.« Sie reichte Theo die Hose. »Hier. Fertig.«

»Sieht aus wie neu.« Theo zog sie wieder an.

»Wenn die Welt heute wirklich untergeht, stehst du wenigstens nicht in Unterhosen vor dem lieben Gott«, meinte Betty.

»Sei nicht immer so frech!«

Das mit dem Untergang grassierte wie eine Seuche. Prediger krochen aus allen Ecken und prophezeiten nicht nur das Ende der Welt, sondern auch das Jüngste Gericht. Gründe gab es genug und die Angst ging um, dass etwas dran war an der Sache. Schließlich war Krieg gewesen und die Sünden, die begangen worden waren, wogen so schwer, dass da nichts zu vergeben war. Der Teufel würde sie alle holen. Zwar sprach das keiner laut aus, aber viele dachten so. Wanderprediger lasen den Leuten die Leviten, sie riefen dazu auf, Buße zu tun und die Seelen zu reinigen, bevor das große Finale kam und Gott einen Kometen schickte, um zu richten, die Lebenden und die Toten. Wenn das Ende vom Ende kam, so die Prediger, sollte man besser heil sein, sonst schmorte man ewig im Fegefeuer und dann hatte man den Salat. Unter den Propheten gab es berühmte Männer, die füllten ganze Stadien.

Was den Professor Asmodi betraf, so eilte ihm kein großer Ruf voraus. Mit seinem berühmten Kollegen Conradi, der sogar im Radio sprach, konnte er nicht mithalten, obwohl er sich vieles abgeguckt hatte, nicht nur den klingenden Namen, auch die Art, wie er sprach und sich kleidete. Wer wollte, konnte die Kopie erkennen. Die Sehnsucht nach Erlösung reichte für alle und mehr. So wurde der Pennig schon seit dem frühen Morgen von denen umlagert, die den Professor sehen wollten, die auf Linderung ihrer Leiden hofften und auf ein Wunder. Einige waren schon am Vorabend gekommen, zu Fuß, mit dem Fahrrad, im Rollstuhl oder liegend auf dem Ackerwagen. Harm Cordugas, der Wirt, wusste nicht, wie ihm geschah, denn der Pennig platzte aus allen Nähten. Die Zimmer im oberen Stock waren mehrfach belegt. Seit dem Mittag hing ein Schild am Eingang. »Wegen Überfüllung geschlossen.« Die Leute drängelten sich im Saal, obwohl der Professor erst für drei Uhr nachmittags angekündigt war und der Eintritt fünfzig Pfennig kostete, Kinder frei. Das Bier ging schnell zur Neige, Frikadellen und Würstchen auch.

»Der Professor wird zuerst zu den Leuten sprechen, dann geht es zur Kapelle, da wird geheilt, und dann geht die Welt unter. So lautet der Plan.« Theo schloss die Gürtelschnalle.

»Eines verstehe ich nicht«, sagte Edith, »warum in dieser Reihenfolge? Wozu erst die Heilung und dann der Untergang?«

»Umgekehrt wär’s ja auch dumm. Aber frag den Professor. Der hat studiert.«

Edith lachte. »Ich geh da nicht hin. Vom Untergang hab ich die Nase voll.«

Der letzte lag gerade erst hinter ihnen, die Ruinen rauchten noch. Deshalb gingen Edith und Theo lieber tanzen. Gelegenheiten gab es genug. Jede noch so kaputte Scheune wurde zum Festsaal umfunktioniert. Gab es keine Musiker, sang man die alten Schlager selbst. Das ist die Liebe der Matrosen oder Veronika, der Lenz ist da. Einmal im Monat kam auch ein mobiles Filmtheater ins Dorf. Der Vorführer baute im Saal den Apparat auf, der so schön schnurrte. Am beliebtesten waren die alten Komödien mit Theo Lingen. Man hatte zu lange nicht mehr gelacht. Kuchen gab es auch und wenn die Bude einigermaßen voll wurde, gab Cordugas einen aus. Der Wirt ließ sich nicht lumpen. Er hatte vergangenen Winter sogar zum Grünkohlessen eingeladen. Es durfte wieder ganz offiziell geschlachtet werden. Nun musste man nicht mehr fürchten, dafür ins Gefängnis zu kommen. Die Fleischplatten hatten sich unter Speck und Pinkelwürsten gebogen, wie man sich später erzählte. Die Kapelle habe sich einen Wolf gespielt, bis sich die Ersten mit vollgefressenem Ranzen auf die Tanzfläche geschleppt hatten. Danach war es hoch hergegangen. Den Spökenfritz hatten sie später in eine Schubkarre verfrachten müssen, um ihn ins Bett zu kriegen, sternhagelvoll und mit blutiger Nase, weil er Anni an die Wäsche hatte gehen wollen. Ausgerechnet! Ihr linker Haken saß. Das hatte Fritz, der sonst alles wusste, nicht vorausgesehen.

Als Theo die Anekdote später an Ediths Küchentisch erzählte, lachend und mit Tränen in den Augen, hatte sie mit der Zunge geschnalzt und einen vielsagenden Blick in Bettys Richtung geworfen, weil ihre Tochter zwar alles essen, aber nicht alles wissen durfte. Sie war elf und noch ein Kind. Betty war anderer Meinung. Sie war bald zwölf und schon fast erwachsen, aber das sahen die Großen mal so, mal so, wie es ihnen gerade passte. So ging das mit allem. Heute Weltuntergang, morgen Tanztee, Hauptsache, es lenkte vom schlechten Gewissen ab, denn sie hatten alle versagt. Man musste sich nur angucken, was da auf den Professor wartete. Krüppel und Versehrte. Darüber hinaus war noch einiges mehr angerichtet worden. All die Heimatlosen, die Waisen, das ganze vagabundierende Gesindel, das kein Zuhause mehr hatte. Eine Völkerwanderung sondergleichen. Während viele einen Ort zum Bleiben suchten, mahlten die Steinmühlen in den Städten bis zum Sanktnimmerleinstag den ganzen Kriegsschrott zu Brei. Es war einfach zu viel kaputtgegangen, Städte, Dörfer, Menschen. Noch immer fand man unter den Trümmern Vermisste. Die saßen in den Kellern auf Stühlen mit ihren Koffern auf dem Schoß und warteten, dass jemand Entwarnung gab. Theo hatte sie gesehen. Der kam für die Zeitung viel herum. »Die kommen nie mehr zur Ruhe, da können die noch so tot sein. Denen geht es wie den Barackentoten im Teufelsloch.«

Bei Vollmond kamen die zum Vorschein, dann stiegen sie aus den Tümpeln mit ihren Spaten und Forken und verfluchten diejenigen, die sie da reingebracht hatten. Keiner wollte noch was davon wissen, doch die alte Guste fing immer wieder davon an. Cordugas hatte sie deswegen schon ein paar Mal aus dem Pennig geworfen. Dabei kam sie nur, um Leckbier zu kaufen, für eine Biersuppe, wie sie sagte. Meist saßen genug Leute in der Gaststube, die zuhören mussten, aber sie kam nie über die ersten Sätze hinaus.

»Haal dien Muul, du oole Hex!«

Theo ging und Edith nahm sich Annis alten Mantel vor.

»Was macht Guste?«, fragte sie, während sie einen neuen Faden in die Nähmaschinennadel fädelte.

»Die hustet viel.«

Betty holte sich die Pfanne vom Herd und stellte sie auf den Tisch. Ein kleiner Rest Bratkartoffeln war noch vom Mittagessen übrig geblieben und schon ein bisschen schwarz. Sie aß sie trotzdem, denn Hunger hatte sie immer.

Die Mutter klemmte den Mantelärmel unter den Nähmaschinenfuß und trat auf das Pedal. Die Maschine ratterte los. Sie seufzte. »Nochmal kann ich den nicht flicken. Durch den Stoff kann man schon Zeitung...

Erscheint lt. Verlag 11.9.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Aberglaube • aktuelles Buch • andere Zeit • Atomtechnik • Booktok • bücher neuerscheinungen • Deutschland • Eine andere Zeit • Familie • Harald Jähner • Hexen • Hexenverfolgung • Luzies Erbe • Moor • Nachkriegszeit • Neuerscheinungen • neues Buch • Norddeutschland • Verschwörungstheorien • Wolfszeit
ISBN-10 3-458-77801-2 / 3458778012
ISBN-13 978-3-458-77801-1 / 9783458778011
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