Tote jagen nicht -  Roland Gramling

Tote jagen nicht (eBook)

Kriminalroman
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
640 Seiten
Querverlag
978-3-89656-692-8 (ISBN)
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Ein Heckenschütze versetzt die Bewohner der Stadt Brandenburg an der Havel in Angst. Scheinbar wahllos richtet der Sniper aus dem Hinterhalt unschuldige Passanten hin. Dank eines Augenzeugen vermutet die leitende Ermittlerin Claudia Schiller eine Verbindung zu einem alten, ungelösten Fall in Berlin. Sie sucht daher ihren ehemaligen Kollegen Sören Petersen auf und bittet ihn um Hilfe. Petersen, der seine Karriere in der Mordkommission längst an den Nagel gehängt hat und inzwischen als Privatdetektiv arbeitet, willigt ein, die Kommissarin zu unterstützen. Die Ermittlungen entpuppen sich schnell als ein Stich ins Wespennest. Von der ehrgeizigen Staatsanwältin bis zur dubiosen Anführerin einer Sekte scheinen alle Beteiligten ihre eigene, verdeckte Agenda zu verfolgen. Und dann ist da auch noch der schweigsame Noah Mahlow, der als Einziger einen Mordanschlag des Heckenschützen überlebte.

Roland Gramling, geboren 1982 in einem kleinen Dorf im bayerischen Unterfranken, lebt seit vielen Jahren in Frankfurt und Berlin. Bis jetzt im Querverlag erschienen: Frankfurt 30 Grad (2008), Sehnsucht nach Sonne (2010) und Auf dem Sprung (2012). In seiner "Ackerpflaumenallee-Trilogie" malt Gramling ein temporeiches, buntes und nicht zuletzt liebesvolles Bild urbanen Großstadtlebens und setzt der Stadt Frankfurt am Main ein literarisches Denkmal.

Melchior


Obwohl es helllichter Tag war, umgab ihn Dunkelheit.

Erbarmungslos stand die Sonne hoch am wolkenlosen Firmament; ihr Licht fiel brennend durch die Glasscheiben auf die nackten, weißen Beinchen des alten Mannes. Melchior hatte sich durch beständiges Wühlen und Nesteln aus dem dünnen Laken befreit, das nun halb aus dem Bett heraushing. Vor dem Krankenhaus gab es einen Spielplatz mit Springbrunnen und Wasserlauf – schützend im kühlen Schatten jener großen Platanen gelegen, deren Kronen Melchior gerade noch erspähen konnte, wenn er seinen Kopf dem Fenster zuwandte.

Kinder spielten dort ausgelassen. Ihr Lachen drang bis ins Zimmer vor. Wie ein surrender Schwarm Ungeziefer machte es sich in der gedämpften Sterilität breit.

Er murrte erbost. Immer diese Nervensägen! Zu wem gehörten die lauten Bälger? War keine Mutter in der Nähe, die sie zur Räson rufen konnte?

Sind das meine Kinder? Der Gedanke tauchte unvermittelt aus der verschwommenen Dunkelheit auf, die Melchiors Geist mit festem Klammergriff umschloss. Habe ich Kinder?

Die Frage beunruhigte ihn, denn eine Antwort blieb sein Gedächtnis schuldig. Melchiors ganzer Körper geriet angesichts dieser fatalen Erkenntnis in Wallung. Seine Hände zerrten nervös an den Schläuchen herum.

Schläuche? Warum kommen Schläuche aus meinem Körper? Wo bin ich? Was ist passiert?

Er geriet in Panik. Etwas stimmte nicht, das spürte Melchior deutlich. Er sollte nicht hier sein, nicht in diesem Bett liegen. Doch wo hätte er stattdessen sein müssen?

Wer bin ich?

Wie eine grell blinkende Neonreklame kreischte die Frage plötzlich aus der Dunkelheit auf ihn ein. Die Tatsache, in dieser existenziellen Frage keine Antwort parat zu haben, traf ihn mit der brachialen Gewalt eines Faustschlags. Und davon hatte er in seinem Leben manch einen einstecken müssen. Das wusste er instinktiv, wenngleich er sich nicht daran erinnern konnte.

„Hallo? Hallo?“, rief er mit brüchiger Stimme in das leere Zimmer hinein.

Weder der Fernseher an der gegenüberliegenden Wand noch der Stuhl mit dem grasgrünen Sitzbezug reagierten. Das hatte er auch nicht erwartet. Schließlich war er nicht verrückt. Nur einsam. Allein in der Finsternis seiner Unwissenheit.

„Hallo?“, versuchte er es erneut. Diesmal lauter und entschlossener. „Ist da jemand?“

Seine Stimmbänder schmerzten von dem Kraftakt. Nervös fuhr er sich mit der Zunge über die spröden, aufgesprungenen Lippen. Gab es hier etwas zu trinken? Oder wollten die ihn etwa verdursten lassen?

Da sah er die Flasche auf dem Nachttisch stehen. Daneben einen Becher. Hektisch stemmte er den Oberkörper hoch, sackte jedoch sofort wieder nach hinten weg. Es war, als würde ihm jemand Tausende Nadeln in die Schädeldecke jagen. Er befühlte seinen Kopf. Anstatt in Haare griff er auf einen rauen Mullverband. Offensichtlich hatte er eine Verletzung. Aber woher?

Melchior wollte gerade erneut anfangen zu rufen, da wurde die Tür geöffnet und zwei weiß bekleidete Personen traten ein. Der Mann, dunkler Hauttyp und pechschwarzes, krauses Haar, ging voran. Ihm folgte eine brünette Frau mit dicken Backen und Stupsnase. Keiner der beiden kam Melchior bekannt vor. Wer waren diese Leute?

„Er ist wach“, sagte der Mann. Aus einer Halterung neben dem Schrank zog er eine graue Kladde. „Wie geht es Ihnen?“

„Ich habe Durst“, rief Melchior verwirrt. Das erschien ihm die naheliegendste Antwort auf diese ihn überfordernde Frage.

Die Frau lächelte gütig und treuherzig, während sie den Becher auf dem Nachttisch mit Wasser füllte und ihm reichte. Mit einem leisen Summen hob sich das Kopfteil des Bettes an. Langsam fuhr Melchiors Oberkörper nach oben, in eine Position, die ihm das Trinken ermöglichte, ohne Gefahr zu laufen, sich zu verschlucken.

„Wissen Sie, wo Sie sind?“, fragte der Mann.

Gierig schmatzend schlürfte Melchior das Wasser. Ein paar Tropfen rannen aus seinem Mundwinkel, benetzten kühl sein Kinn.

„Warum ist es so verdammt heiß hier drinnen?“, beschwerte er sich barsch, anstatt zu antworten. „Das ist nicht richtig.“

Was hätte er auch sagen sollen? Etwa, dass er keine Ahnung hatte, wo er war? Diese Blöße wollte er sich nicht geben. Ihn beschlich das unbestimmte Gefühl, er müsste sich erinnern, konnte es aber einfach nicht. Das fuchste ihn.

Der Mann nickte wissend, als hätte er Melchior durchschaut. Das machte den wiederum wütender.

„Ich bin Pfleger Ismael. Das ist meine Kollegin Ruth. Und Sie sind …?“

„Melchior“, entgegnete der Alte muffelig. Ja, so hieß er! Damit war alles gesagt. Selbst wenn hinter diesem Namen nichts als dunkle Leere lauerte.

Ruth schüttelte kaum merklich den Kopf. In den vergangenen vierundzwanzig Stunden hatte sie sämtliche Pflegeeinrichtungen der Umgebung abtelefoniert. Niemand vermisste einen verwirrten, alten Mann dieses Namens. Bei der Polizei lagen keine entsprechenden Suchmeldungen vor.

„Und wie weiter?“ Ismael ließ nicht locker. Sein freundliches Lächeln stand dabei im starken Kontrast zu der in ernste Falten gelegten Stirn.

Sie hatten den bis dato unbekannten Patienten am Vortag aufgenommen. Er kam über die Rettungsstelle, nachdem er in der Fußgängerzone eine Treppe hinuntergefallen war. Bei dem Sturz auf das Kopfsteinpflaster zog er sich eine blutige Platzwunde sowie eine mittelschwere Gehirnerschütterung zu.

Mit Pantoffeln, Pyjama und einem mit Flecken und Dreck übersäten Morgenmantel bekleidet wurde er von den Sanis eingeliefert. Keine Papiere. Kein Smartphone, Schlüssel oder Geld.

„Ich würde jetzt gerne nach Hause. Man erwartet mich dort sicher“, sagte Melchior im Brustton eines Verzweifelten, anstatt auf Ismaels Frage zu reagieren.

„Wo ist Ihr Zuhause? Vielleicht können wir jemanden anrufen, der Sie abholt“, mischte sich Ruth mit sanfter Stimme ein, während sie mit einer Fernbedienung herumhantierte. Leise surrend sank das Kopfteil des Bettes wieder in die Waagerechte.

Melchior stemmte sich zitternd auf den Ellenbogen der Bewegung seiner Matratze entgegen. „Lassen Sie mich mit Ihren Fragen in Ruhe!“, bellte er. „Wir sind hier nicht bei der Firma!“

Ismael schaute seine Kollegin irritiert an. Sie hob überrascht die Augenbraue angesichts der Formulierung. „Was meint er damit?“

„So wurde bei uns früher im Volksmund die Stasi genannt“, erklärte Ruth.

Melchior beäugte sie misstrauisch und abschätzend.

Ismael seufzte. „Nein, das sind Sie nicht. Sondern im Städtischen Klinikum Brandenburg an der Havel.“

„Noch schlimmer“, murrte Melchior und ließ sich erschöpft auf das Kissen sinken. Die Unterhaltung hatte ihn angestrengt. Er war müde, wollte schlafen. Demonstrativ schloss er die Augen. Das Gespräch war beendet.

Zwar hatte er keine Antworten auf seine Fragen erhalten, doch die hatte er sowieso schon wieder vergessen.

Die beiden Pflegekräfte seufzten zeitgleich.

„Das hat uns kein Stück weitergebracht“, stellte Ruth enttäuscht flüsternd im Hinausgehen fest.

„Leider nicht“, stimmte Ismael nachdenklich zu. „Warum wurde der Sicherheitsapparat eines sozialistischen Staats ausgerechnet mit dem kapitalistischen Begriff Firma bezeichnet?“

Melchior hörte die Frage nicht mehr. Er war längst weggedämmert.

Das Nächste, was Melchior wahrnahm, war ein leises Rascheln. Und ein Windhauch. Jemand war im Zimmer. Das spürte er. Seine alten, gut geschulten Instinkte funktionierten noch immer. Die Demenz mochte das jahrelange harte Training nicht überlagern.

Als der alte Mann die Augen aufschlug, blickte er in das Gesicht eines jungen Mannes. Er trug einen blauen Overall, keinen weißen wie die beiden Krankenpfleger, die zuvor an seinem Bett gestanden hatten und an die sich Melchior lediglich schemenhaft zu erinnern vermochte.

„Was machst du denn hier?“, fragte er verwirrt.

Sein Gegenüber schwieg, starrte ihn forschend an.

Er kannte diesen Mann. Er wirkte vertraut. Sehr vertraut.

Kurz lichtete sich die Dunkelheit und gab eine Erinnerung frei. Noah! Sein Sohn! Das war sein Sohn!

„Endlich bist du da! Warum hat das so lange gedauert?“, herrschte er ihn an. „Jetzt brauch ich dich einmal in meinem Leben … Undank und Unzuverlässigkeit sind der Welten Lohn!“

Melchior wollte sich aufsetzen. Zwei kräftige Hände packten seine dünnen Oberarme und drückten ihn hart nach unten. Früher hätte sich der Junge das nicht getraut!

„Was bildest du dir ein!“, fuhr er ihn an, wütend ob seiner eigenen Schwäche genauso wie angesichts des respektlosen Verhaltens des Sprösslings.

„Was soll …“ Es waren seine letzten Worte, denn im nächsten Augenblick wurde ihm ein Kissen aufs Gesicht gedrückt.

Melchior stöhnte überrascht, strampelte, zuckte.

Die Luft blieb ihm weg.

Panik ergriff ihn.

Die Dunkelheit um ihn herum rückte immer näher, griff züngelnd nach ihm, versuchte, ihn mit sich zu zerren.

Er bäumte sich auf. Ein letztes Mal. Verzweifelt. Erfolglos.

Dann ging alles ganz schnell. Plötzlich war Finsternis. Kein Licht. Kein Leuchten für den Erleuchteten. Bloße Ohnmacht.

Noah ließ von ihm ab. War der Alte bewusstlos oder bereits tot?

Er hatte nie einen Menschen getötet. Kurz strauchelte er, trat stolpernd einen Schritt zurück vom Bett. Der...

Erscheint lt. Verlag 4.9.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
ISBN-10 3-89656-692-X / 389656692X
ISBN-13 978-3-89656-692-8 / 9783896566928
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