Der Fang des Tages -  Gisela Stelly Augstein

Der Fang des Tages (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
251 Seiten
Edition W (Verlag)
978-3-949671-59-3 (ISBN)
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'Der Fang des Tages' erzählt von einem Geschehnis, das auch die besten Familien ins Straucheln bringt: dem Erben. Elfriede Escher, Unternehmerwitwe, liegt auf dem Totenbett, da eilen die Kinder Alex, Dora, Benjamin herbei, alle drei lang aus dem Haus. Und Mila, die gerade erwachsene Nachzüglerin, die mit Gewissensbissen kämpft, weil sie in der Todesnacht neben der sterbenden Mutter eingeschlafen ist. Mit der Testamentseröffnung beginnt das Hauen und Stechen um das Erbe, die Villa, die Gelder auf den Schweizer Konten. Jeder ist sich selbst der Nächste, das gilt genauso für die angeheiraten Partner in diesem Familienroman, der, rasant erzählt, von einer mitunter bitterbösen Unterströmung getragen wird. Auf einer zweiten Ebene ihres raffinierten Romans entwirft Gisela Stelly Augstein das Szenario eines ganz anderen und dennoch ähnlichen Erb'falls' - des Todes eines Medientycoons. Ein dunkles Vergnügen ...

Gisela Stelly Augstein ist Autorin mehrerer Romane, Journalistin und Filmemacherin. Sie lebt in Hamburg.

9.


22. März 2020


Larissa schiebt die sizilianische Tomatensuppe zur Seite und bestellt einen Doppelten.

«Espresso?«

»Grappa!«

»Für mich bitte einen Espresso, einen Doppelten«, sagt Otto.

Luisa räumt den Tisch ab: »War die Suppe nicht gut?«

»Kein Hunger.«

»Liebeskummer,« sagt Otto.

»Quatsch, mir ist übel«, Larissa dreht sich um und schaut in den Spiegel hinter dem Tresen, »sieht man doch, tiefe Ringe unter den Augen, bleiche Hautfarbe …«

»Seit Mila ausgezogen ist, hast du tiefe Ringe unter den Augen,« unterbricht Otto.

»Stimmt. Ist aber kein Liebeskummer, erzwungenermaßen mache ich eine Transformation zum Einzelwesen durch. Das ist mörderisch anstrengend, ich bin es einfach nicht gewohnt, allein zu sein.« Larissa nippt am Grappa, er löst einen anhaltenden Hustenreiz aus.

»Hört sich nicht gut an,« sagt Otto.

Larissa reagiert nicht.

»Ich habe ihre Gefühle verletzt, okay,« sagt sie, »aber Erben ist nun mal keine Privatsache, tut mir leid … und dann taucht dieser Max … taucht quasi aus dem Nichts auf … erst als Erinnerungsstück aus fernen Zeiten … schließlich und endlich in Person als himmlisches Geschenk unterm Weihnachtsbaum …« Larissa hält inne, sie hört ihre Stimme plötzlich hallen und etwas Schweres scheint sich von oben über ihren Kopf zu stülpen. Sie sucht erneut ihr Gesicht im Spiegel hinter dem Tresen und ihr ist, als bewegte sich ihr Kopf dabei in Zeitlupe.

»Ist was?«, hört sie Ottos Stimme, auch mit Hall.

»Mir ist schwindelig«, will sie sagen, aber eine große Müdigkeit legt sich ganz plötzlich auf sie wie dicker Mehltau, sie kann sich nur mit Mühe aufrecht halten, etwas wie Blei fließt durch ihre Adern und legt ihr Gehirn lahm. Sie schaut auf ihre Arme, auch sie liegen bleischwer auf dem Tisch. Sie will sich an den Kopf fassen, der Griff an ihre Stirn ist ein Kraftakt. Ihre Stirn ist heiß. Sie will es Otto sagen und kann es nicht.

»Fieber?« Otto bemerkt den dünnen Schweißfilm, er bildet sich nicht nur in Windeseile auf Larissas Stirn, aus allen Poren dringt Feuchtigkeit und sammelt sich schon zu einem Tropfen an ihrem Kinn.

»Ich glaube, es ist besser, wenn wir gehen«, sagt Otto und bestellt die Rechnung.

Luisa schaut fragend hinterher, als Larissa, auf Otto gestützt, die Tucholskystraße überquert.

Im Treppenhaus spürt sie ein Kratzen im Hals.

»Ich bin vor ein paar Tagen bei Mila gewesen«, will sie Otto erklären, und dass sie auf dem Nachhauseweg in einen Platzregen geraten sei und sich in der S-Bahn wohl eine Grippe eingefangen habe, doch sie bekommt wieder keinen Ton heraus. Etwas nistet sich gerade in ihrem Hals ein. Und dieses Etwas wird mit jedem Atemzug ein bisschen größer. Wie ein sich mit ihrem Atmen aufblasendes Stacheltier, das ihr nur noch erlaubt zu krächzen.

Mit Mühe erreicht sie den dritten Stock, denn auch ihre Beine sind mittlerweile wie mit Blei ausgegossen. Im Flur dann der erste Stoß aus ihrer Kehle. Nein, es ist kein Husten, kein normaler Husten, wie sie ihn kennt, das bemerkt auch Otto gleich und zieht seinen Schal über Mund und Nase.

Das Stacheltier provoziert einen zweiten Stoß, ein trockenes Bellen bricht aus Larissa heraus und eine Hitzewelle überflutet ihren Körper. Sie lehnt sich an die Wand, doch die Beine rutschen ihr weg. Otto fängt sie auf und hilft ihr in ihr Zimmer und auf ihr Bett.

Larissa hört Ottos Stimme trotz des Rauschens in ihren Ohren, sie versteht aber nicht, was er sagt. Und das Tier in ihrer Kehle kennt kein Erbarmen, sie hustet sich die Lunge aus dem Leib. Das T-Shirt unter ihrer Daunenjacke ist jetzt schweißdurchnässt.

In der gleichen Geschwindigkeit, mit der das Stacheltier das gesamte Terrain ihres Halses erobert hat, strömt alle Kraft aus ihrem Körper und sie kann sich auf ihrem Bett nur noch zusammenrollen.

»Achtunddreißigneun«, liest Otto vom Thermometer ab, das er Larissa in den Mund gesteckt hat, und schält sie aus ihrer Kleidung, hilft ihr mit einiger Anstrengung ins Bad, hilft ihr aufs Klo, hilft ihr in den Pyjama und hilft ihr zurück ins Bett.

Larissa nimmt das alles wie losgelöst von sich selber wahr. Sie will nur noch dem Husten entgehen und schlafen. Aber Otto zwingt sie, wach zu bleiben. Er flößt ihr Unmengen von warmem Wasser ein. Immerhin scheint es den Husten zu besänftigen. Und endlich erlaubt Otto ihr, unter die Bettdecke zu rutschen und wegzudriften.

Den nächsten Tag verbringt Larissa in einem Dämmerzustand, sie ist unfähig, auch nur ein Bein oder einen Arm oder ihren Kopf zu heben.

»There is nothing more delightful than the weakest weakness«, behauptet Otto, es soll aufmunternd klingen.

»Nix delightful«, murmelt Larissa, sie fühlt sich wie ein ausgebranntes Haus. Und jeden Augenblick könnte die glimmende Glut wieder aufflammen und die Flammen könnten auch noch die Reste des Mauerwerks vernichten und einstürzen lassen.

Otto ruft aus der Küche beim Notarzt an. Ja, möglicherweise habe Larissa Berger eine Infektion mit dem neuen Virus, sagt er. Daraufhin verweist ihn der Notarzt an die Hotline der Charité. Mit einiger Ausdauer bekommt er schließlich eine Ärztin an die Leitung. Sie notiert: Larissa Berger, 36, Verdacht auf Covid 19. Sie notiert auch seinen Namen, Adresse und Telefonnummer. Nein, Frau Berger müsse nicht ins Krankenhaus, erst wenn sich ihr Zustand verschlechtere und sie größere Atemnot bekomme. Die Ärztin rät zu fiebersenkenden Mitteln wie Paracetamol. Auch Aspirin sei hilfreich. Und viel Flüssigkeit. Natürlich müsse auch er vierzehn Tage in häusliche Quarantäne.

»Shit«, flucht Otto, »eingesperrt! Ich glaube es nicht!«

Lange starrt er aus dem Küchenfenster, kämpft gegen das Gefühl eines drohenden Panikanfalls, das er so gut kennt und dem er unbedingt ausweichen will, nur wie? Er verfällt in Hektik und informiert rundum Eltern und Verwandte, Laras Kolleginnen und seinen Arbeitgeber. Danach auch Freunde. Und zum Schluss Mathilde. Sie wird die Lebensmittel und sonstiges vor die Tür stellen. Insgesamt kocht er die Nachricht vom Verdacht auf Covid 19 aber runter, alles nicht so schlimm, sagt er, es sei bisher nur ein Verdacht. Er selber fürchte das Virus nicht, er sei immun, er habe während seines Jobs als IT-Sicherheitsbeauftragter seines Unternehmens in Dubai eine Infektion mit dem Mers-Virus überlebt. Damit überrascht er alle. Dann ist es still.

»Eingebunkert«, murmelt Otto und sieht sich mit immer müder werdendem Blick panthermäßig an den unsichtbaren Gitterstäben entlang durch die Wohnung schleichen, gefolgt, ja, verfolgt von einem Gespenst. Von seinem sehr persönlichen Gespenst, dem Gespenst der Angst vor der tödlichen Langeweile. Sein Magen zieht sich zusammen, wahrscheinlich sein ganzes Gedärm, eine leichte Übelkeit befällt ihn.

»Hau ab!«, presst er durch die Zähne, und es ist ihm selber nicht klar, ob er das Virus oder die Langeweile meint, und lässt eine Abfolge von Karateschlägen gegen den unsichtbaren Feind los, drischt ihn unter vollem Einsatz von Armen und Beinen den Flur hinunter bis zur Wohnungstür, befördert ihn mit einem letzten Fußtritt durch die Decke in die Berliner Nacht. Und fühlt sich etwas besser.

Er schiebt Larissas Schreibtischstuhl neben ihr Bett und lässt sich hineinfallen. Leise rollt er hin und her und beobachtet Larissas Schlaf. Sie atmet trotz Paracetamol noch immer schwer, aber immerhin leichter als vor vierundzwanzig Stunden.

Wird er jetzt tatsächlich vierzehn Tage lang an ihrem Bett ausharren müssen?

»Hey, Leute«, murmelt Otto genervt und springt hoch und geht in die Küche und von dort mit einem Whiskey in den Clubraum, so nennen sie ihr Zimmer mit der Stuckdecke und der Sofalandschaft. Er schaut hinunter auf die von Auto-, Fahrrad- und Rollerlichtern belebte Tucholskystraße und hinauf auf die gegenüberliegende Hausfassade mit ihren erleuchteten Fenstern bis zu den Nachbarn mit den blickresistenten Gardinen. Ist das jetzt tatsächlich vierzehn Tage lang sein Ausblick? Mehrfach umkreist er die Sofalandschaft und lässt dabei den Whiskey um die Eiswürfel kreisen, schließlich öffnet er die Tür zu Milas früherem Zimmer, das er jetzt zusätzlich nutzt.

Er kauert sich in dieses seltsame Ding von Prunksessel indischen Ursprungs mit viel geschwungenem Ornament, abgeblätterter Goldfarbe und einem Seidenbezug aus verschlissenem Madraskaro. Ein Erbstück, hatte er Larissa die Anwesenheit dieses monströsen Möbels erklärt, und dass er sich als Kind darauf gefühlt habe wie der Kaiser von China. Sein Großvater habe eine Zeit lang ins Ausland fliehen müssen. Aus politischen Gründen. Er habe diesen Pfauenthron von seiner erzwungenen Reise mitgebracht.

Larissa wollte mehr wissen über den geheimnisvollen Großvater, er wehrte ab, Familiengeschichten würden ihn einfach nicht interessieren. Als geborener Nerd sei sein Zuhause das Netz mit seinen endlosen Maulwurfgängen und Höhlen, seiner sich ununterbrochen erweiternden Vernetzung von Territorien und ihren Bewohnern mit ihren territorialen Zusammenschlüssen oder Kämpfen, die sich täglich, aber auch nächtlich ereignen. Davon habe Franz Kafka mit der Beschreibung eines solchen Maulwurf-Territoriums und seiner unentwegten Sicherung, Optimierung und der ständigen Gefahr eines Ausbruchs und Einbruchs wie in einer Vorahnung erzählt.

Und in diesem grenzenlos verzweigten Maulwurfsystem mit einem Regelwerk, das ihm einsichtig sei, fühle er sich einigermaßen sicher. Im System Familie, im System Mensch, im menschlichen...

Erscheint lt. Verlag 4.9.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
ISBN-10 3-949671-59-5 / 3949671595
ISBN-13 978-3-949671-59-3 / 9783949671593
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