Sprachlos (eBook)
482 Seiten
epubli (Verlag)
978-3-7575-8135-0 (ISBN)
1988 in Kühlungsborn geboren, schreibt und musiziert Robin Bade seit Jahren in Hamburg.
1988 in Kühlungsborn geboren, schreibt und musiziert Robin Bade seit Jahren in Hamburg.
So ein schöner Sommertag! Die Luft, die seicht durch mein abgeklapptes Fenster drang, trug den Geruch von Wärme und unzähligen süßen Blüten. Und so begannen die ersten Stunden meiner Ferien. Endlich, dachte ich, mein neues Tagebuch in der Hand, dazu einen Milchkaffee – mit viel Milch und Zucker – und trat auf die Terrasse. Viel zu lange hatte es gedauert, bis ich mich aufgerafft hatte, um mir auf dem Markt ein neues Buch zu kaufen und darum hatte ich nun viel zu schreiben. Madlana hieß die Frau. Ich fürchte, ich habe ihren Namen jedes Mal falsch geschrieben. Papa sagte, sie sein eine Zigeunerin, aber da ich wusste, dass das ein irgendwie negativer Ausdruck war, fragte ich sie nie, woher sie eigentlich stammt. Und was für eine imposante Erscheinung sie war mit ihrem dichten, braunen Haar, in das sie dünne farbige Stoffbänder geflochten hatte – und wenn der Wind es durchwehte, wirkte sie magisch mit ihren grünen Augen und einer Hautfarbe, auf die ich Blassnase nur neidisch sein konnte. Außerdem trug sie luftige, beige Leinenkleider. Diese gaben einen hübschen Kontrast zum Rest ihrer Erscheinung. Sie passte so gar nicht auf unseren biederen Markt, aber trotzdem gehörte sie einfach dazu. Ich blickte immer zu ihr auf – sie war so anders, in einer Zeit, wo mir Anderssein als absolute Notwendigkeit erschien. Sie sprach nicht gut deutsch und ich war in ihrer Nähe wahnsinnig schüchtern, weshalb wir kaum mehr als ein paar Worte wechselten. Und so verlor ihre Aura nie an Wert für mich, trotzdem sie Westvill besuchte, seit ich zurückdenken kann. Und ihr Stand zog mich seit jeher am meisten in den Bann. Als ich noch klein war, hatte mir meine Mutter einen Traumfänger mit blauen Federn von Madlanas Holzwagen gekauft, nachdem ich sie die ganze zuvor Woche anbettelte. Und immer wenn ich ein Tagebuch gefüllte hatte, brauchte ich nur auf den wöchentlichen Markt zu warten. Ihr Mann, den ich nie zu Gesicht bekam, machte diese selbst, erzählte sie mir in einem unserer wenigen Gespräche. Und auf jedem Cover war ein verschlungenes Zeichen ins Leder gestickt. Ich erinnere mich an das Symbol des blauen Tagebuchs, welches ich an diesem Tag aufklappte, und dass es für einen freien, glücklichen Morgen stand. Perfekt, also!
Und ich begann zu schreiben, dass die Schule endlich sechs freien Wochen gewichen war und nun bald das Fest zum Beginn des Sommers anstehen würde. Wie in den vergangenen Jahren hatten sowohl Mama wie auch ich wieder einen kleinen Auftritt. Sie würde in dem Kleid, das sie sich an Omas Nähmaschine extra für diesen Anlass geschneidert hatte, tanzen, und ich sollte mal wieder die Stadthymne singen und – Premiere! – noch ein Lied, welches ich selbst aussuchen durfte. Dass es eins von Placebo werden würde, war mir sofort klar, als unser Bürgermeister mich darum bat, den Einwohnern mal etwas Peppiges entgegenzuschmettern. Ja, genau so, sagte er das. Ich freute mich über diese Chance, wie ich mir die schockierten Gesichter vorstellte, wenn der Song mehr abging, als meine Nachbarn es gewohnt waren, aber auch weil mir das Lied Westvills – Bei einem Wald, an einem Fluss, da ließen sie sich nieder – mit jedem weiteren Lebensjahr immer peinlich wurde.
Auch mir hatte Mama ein Kleid genäht – ganz chic in weiß und mit Spitze –, aber als es dann soweit war, zog ich doch lieber ein ganz normales Top mit kurzem Rock an. Daraufhin war meine Mutter noch wochenlang sauer und ließ das Kleid auf dem Schaukelstuhl im Lesezimmer liegen, um jedes Mal rüberzusehen und zu seufzen, wenn wir uns beide gleichzeitig im Raum befanden.
Wenn es sonst in Westvill auch ziemlich ruhig zuging, belebte das anstehende Fest das Städtchen doch jedes Jahr aufs Neue. Alle rüstigen Rentnerinnen standen schon eine gute Woche vor den eigentlichen Planungen im Gemeindezentrum auf der Matte und wollten helfen. Ich absolvierte gerade mein Schulpraktikum in diesem Jahr dort am Empfangstresen.
»Ach, Frau Nahlik. Ihr Mann wird das schon verstehen. Und wenn sie sich am nächsten Montag früh anstellen, haben sie immer noch genug Zeit, die Papiergirlanden auszuschneiden. Ich find das wirklich lieb von ihnen, dass Sie so … so motiviert sind. Aber wenn ich Sie in dieser Woche schon einschreibe, bekomme ich riesen Ärger und es wäre auch den anderen Helfern gegenüber unfair.«
»Aber Marla-Mädchen, wir machen das doch jedes Jahr. Und die Augen von meinem Hermann werden auch nicht besser. Vielleicht ist es das letzte Jahr, in dem er noch richtig mit anpa...«
»Ich weiß, Frau Nahlik. Aber jeder soll doch die gleiche Chance erhalten, etwas zum Fest beizutragen. Und es gibt doch auch so viele andere, tolle Sachen, die sie machen könnten, wenn-«
»Wir schneiden immer die Girlanden!«, motzte sie, drehte sich auf der Stelle um und stapfte wütend aus der Gemeindehalle. Am darauf folgenden Montag stand sie dann bereits vor der Öffnungszeit vor der Tür und bekam, was ihr sicherlich eine schlaflose letzte Woche beschert hatte.
Da in jedem Jahr ungefähr das gleiche Schauspiel dargeboten wurde, verliefen die Proben zum Bühnenprogramm in einer Routine, die, wenn überhaupt, nur gestört wurde, weil alte Fehden unter Nachbarn wieder hochkochten oder jemand seine Brille verlegt hatte. Schnell hatten wir Beteiligten also ein zweistündiges Programm auf die Beine gestellt, das zwar recht abgedroschen war, aber – abseits meines neuen Beitrags – garantiert gut ankam. Wie in den letzten vier Jahren musste ich die Hymne der Gründer Westvills zum Auftakt des Festes singen. Und wie immer hatte ich schon den Abend davor Bauchschmerzen und schlief schrecklich.
Die Leute, die sich um die Gestaltung des Marktplatzes gekümmert haben, haben das echt wieder schön hinbekommen, dachte ich mir, als ich am Mittwochnachmittag um 18 Uhr mit weichen Knien die Bühne betrat. Etwas, dass mich jedes Jahr aufs Neue freute, aber meinem Vater stets wahnsinnig stresste, waren die extra für diesen Tag neu bepflanzten Blumenkästen, die im Kreis um den Marktplatz verliefen. Dies war nämlich die Aufgabe, der Bewohner, die sich nicht weiter an den Vorbereitungen für das Fest beteiligten. Jede Straße in Westvill war nach einer bestimmten Pflanze benannt, und so lag es an jedem Betroffenen, die jeweilige Blumendekoration zu organisieren. Und Papa … tja. Zwei Wochen vor dem Fest erinnerten Mama und ich ihn täglich an seine Pflicht, was er mit genervten Handbewegungen abtat, nur um dann am Abend vor dem Event in Hektik zu verfallen. Gut, dass Frau Hinnings mitdachte.
Sie war in diesen Tagen glücklicher als im gesamten Restjahr. Ihr Blumenladen, den sie in diesem Jahr endgültig an ihre Nichte übergeben wollte, florierte mehr denn je, da sich keiner der Dorfbewohner die Mühe machte, extra in die Stadt zu fahren, um das blöde Grünzeug zu besorgen. So sah man in der Woche vor der Feier hauptsächlich ältere Männer, die keine Lust hatten an einem Satirestück oder anderem Schauspiel teilzunehmen, mürrisch in den Laden von Margarete schleichen. So kam alles zusammen und der Platz schwamm erneut in einem Meer aus Blumen.
Girlanden hingen in allen erdenklichen Farben und Formen an und über den Pflanzkübeln und -kästen. Hier waren ganz klar Profis am Werk, dachte ich grinsend. Und der alte Herr Mertens stellte traditionell die Verpflegung. In dem Jahr präsentierte er Bratwurst, Cola und Gummitiere in seinem alten Verkaufsanhänger, den er mit Folie optisch Richtung Bayrische Holzhütte verkleidet hatte. Still hoffte er wahrscheinlich, dass dies bis zum nächsten Jahr einen Umsatzbonus bringen würde – denn seit er nicht mehr selbst im Kiosk stand, konnte man ihn zu jedem Anlass über die ständig weniger werdenden Einnahmen meckern hören. Doch heute hatte er sich aufgerafft und sein faltiges Gesicht lächelte, wie zu seiner besten Zeit, als er gerade einer Frau ein Glas Spezi mischte.
Im zweiten Mertens-Wagen, der am westlichen Eingang des Marktplatzes stand, wischte Sohn Frank gerade die Theke ab. Hier gab es Bier und Wein. Und man sah ihm an, dass er beides bereits probiert hatte.
Der Marktplatz, der wie ein großes Trapez angeordnet war, füllte sich zusehends mit Leben. Und an der Spitze, auf der Bühne, stand ich und beobachtete die Rathaus-Uhr, die mir gegenüber durch die kleinen Hecken des Platzes zu sehen war. Meine Handflächen schwitzten. Der große schwarze Minutenzeiger bewegte sich auf den nördlichsten Strich zu. Ich klopfte auf das Mikro, und das Klacken aus den Boxen verriet mir, dass es angeschaltet war. Ich atmete tief durch. Dann begann ich mein Lied zu singen.
Bei den ersten Tönen drehten sich alle Köpfe gen Bühne, was mich immer total fertig macht und mir auch bei diesem Mal eine unglaubliche Gänsehaut bescherte. Da zu der Hymne keine Hintergrundmusik existiert, hörte man jeden Wackler in der Stimme, darum war ich ganz froh, dass die Westviller schnell begannen, laut (im falschen Rhythmus) zu klatschen.
Applaus. Ich drückte das Mikro zurück in die Halterung, knickste und lächelte, geblendet von der Sonne. Sicher waren meine Wangen knallrot. »Vielen Dank. D-danke.«
Links auf der Treppe zur Bühne sah ich meine Mutter in ihrem Kleid. Sie applaudierte mir ebenfalls mit glänzenden Augen. Ich atmete durch, nahm das Mikro wieder an mich und nickte dem Tontechniker zu, der an allen anderen Tage unser Apotheker ist. »Jetzt ein Song, den ich mir selbst ausgesucht hab. Special Needs von Placebo.« Und weil das Playback noch nicht anfing, schob ich hinterher »Das ist...
Erscheint lt. Verlag | 23.8.2023 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Lyrik / Dramatik ► Dramatik / Theater |
Schlagworte | Agenten • Drama • Krimi • Roman • Sammelband • Teenager • Verschwörung |
ISBN-10 | 3-7575-8135-0 / 3757581350 |
ISBN-13 | 978-3-7575-8135-0 / 9783757581350 |
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