Beim Lösen der Knoten -  Simon Sahner

Beim Lösen der Knoten (eBook)

Nachdenken über Krebs

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
233 Seiten
Verlag Freies Geistesleben
978-3-7725-4438-5 (ISBN)
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Narrative einer Krankheit Im Sommer 2008 wurde bei Simon Sahner fälschlicherweise die Diagnose Knochenkrebs gestellt, dabei handelte es sich eigentlich nur um eine harmlose Erkrankung am Knie. Unerwartet entwickelte sich jedoch innerhalb von neun Jahren tatsächlich ein bösartiger Tumor an dieser Stelle, der mit Chemotherapien und einer Operation behandelt werden musste. Der Autor erlebte die Krankheit als etwas, das von Geschichten umgeben ist, von Mythen und Bildern, die sein Erleben dieser Zeit stark beeinflusst haben. In 'Beim Lösen der Knoten' geht Simon Sahner dem eigenen Erleben auf den Grund - der Unsicherheit vor der Diagnose, dem Schock, den die Krankheit auslöst, den Monaten der Therapie und dem Leben danach. Seine individuellen Erfahrungen verknüpft er dabei mit anderen autobiografischen und fiktionalen sowie dokumentarischen Erzählungen über Krebs.

Simon Sahner, 1989 in Heidelberg geboren, ist freier Autor, Literaturwissenschaftler, und leitender Redakteur beim feuilletonistischen Online-Magazin '54books'. Außerdem schreibt und spricht er als Literaturexperte und Kritiker u.a. bei DLF Kultur, ZeitOnline und Die Presse. Er lebt in Freiburg im Breisgau.simon-sahner.de

Simon Sahner, 1989 in Heidelberg geboren, ist freier Autor, Literaturwissenschaftler, und leitender Redakteur beim feuilletonistischen Online-Magazin "54books". Außerdem schreibt und spricht er als Literaturexperte und Kritiker u.a. bei DLF Kultur, ZeitOnline und Die Presse. Er lebt in Freiburg im Breisgau.simon-sahner.de

1. Einleitung –
Eine Krankheit in Erzählungen


Im Juli 2008 sagte man mir eines Morgens, ich hätte Krebs. Ich war fast 19 Jahre alt und ging noch zur Schule. Als ich die Arztpraxis verließ, in der ich mich gerade einer Untersuchung im MRT unterzogen hatte, trat ich mit Wucht gegen einen Laternenpfahl. Unzählige sich teils widersprechende Emotionen entstanden in diesem Moment zur selben Zeit, körperlich waren sie in allen Extremitäten spürbar und ich versuchte instinktiv, allen zugleich gerecht zu werden. Jede Emotion für sich genommen erforderte eine eigene Reaktion, noch bevor der Verstand sie ordnen konnte, und zur gleichen Zeit wollte der Körper physisch reagieren, wollte die Anspannung lösen, die durch alle Glieder jagte. Der Tritt gegen einen Gegenstand war somit der verzweifelte Versuch des Körpers Schock, plötzliche Verunsicherung, Angst und Verwirrung nach außen zu tragen, sich Platz zu verschaffen, und die mit einem Mal vorhandene panische Energie aus dem Körper zu schleudern. Die Anspannung, die aus dem Innersten des Körpers nach außen drängte, löste sich im Moment des Trittes. Der Raum der Psyche wurde explosionsartig vergrößert, indem Energie nach außen entlassen wurde. Erst jetzt konnte der Verstand mit der Überforderung umgehen, der Körper wurde wieder kontrollierbarer. Er hatte Raum zu agieren. Ähnlich beschreibt Olivia Laing den Drang, Gegenstände zu zerstören in The Lonely City.1 Es kommt zu einem wechselseitigen Zusammenspiel von Psyche und Körper. Erst der Körper, der reagiert, verschafft der Psyche den Raum, um die Emotionen zu ordnen, wodurch im gleichen Moment der Körper seine Anspannung lösen kann.

Es war, als hätten mein Körper und meine Psyche in diesem Moment gemeinsam die Systeme getestet für das, was noch kommen würde.

Mit erschreckender Genauigkeit erinnere ich mich an diesen Moment, habe ihn wie einen leicht verzerrten Film vor Augen. Zumindest meine ich, dass bestimmte Bilder, die ich im Kopf habe, zu diesem Moment gehören. Da gibt es folgende Szene: Ich sehe meinen Fuß, der gegen einen Laternenpfahl tritt, der Pfahl ist grau-schwarz und beklebt mit teilweise abgerissenen Aufklebern, auch eine dünne Schnur ist darum gebunden. Die Sonne scheint schräg von oben, würde ich den Kopf heben, würde ich sie rechts von mir knapp über einem Haus sehen. Ich sehe aber nur den Asphalt und ein Stück der Bordsteinkante, die um eine Kurve geht, in der Kurve steht die Laterne und direkt daneben, halb auf der Straße, halb auf dem Bordstein, das Auto meiner Mutter. So genau ich diese Szene vor Augen habe, so genau weiß ich doch, dass sie bis auf das zentrale Element des Tritts gegen den Pfahl nicht mit dem tatsächlichen Moment übereinstimmt, für den ich sie gespeichert habe. Ich habe eine Erinnerung in meinem Kopf inszeniert. Manchmal stelle ich sogar den Tritt infrage. Erinnerungen sind fragil und beginnt man einmal zu zweifeln, fängt die Sicherheit der eigenen Geschichte an zu bröckeln, das Bild bekommt Risse. Seit diesem Vormittag im Sommer vor fünfzehn Jahren stand ich mehrmals vor dem Haus, in dem die Praxis des Radiologen war, oder ich lief oder fuhr daran vorbei und stellte bei jedem Mal wieder fest, dass meine Erinnerung nicht mit der damals erlebten Realität übereinstimmen konnte.

Aber ich habe in meinem Kopf diese Szene gespeichert, die ich immer wieder ablaufen lassen kann. Und wie in einem Film, einem Reel auf Instagram oder einem kurzen Video auf TikTok ist sie geschnitten, mit einem Filter belegt worden und nachträglich bearbeitet – sie steht für ein Cluster an Emotionen und ist eine Aneinanderreihung von Bildern, die dazu passen. Krankheit an sich und Krebs im Besonderen sind nicht nur, wie Susan Sontag in ihrem Essay Krankheit als Metapher festgestellt hat, unter anderem Metaphern, es sind vor allem Bilder und Erzählungen. In der fiktionalen Literatur, in Filmen, Serien, Memoiren und Beschreibungen der Krankheit wird das Kranksein mit Bildern belegt und in erzählende Abläufe eingebettet. Es wird mit Elementen einer Handlung umschrieben, die Patient:innen kämpfen gegen die Krankheit, die sich ausbreitet und die bösartig ist, als wäre sie ein Lebewesen mit einem Willen, einem Ziel. Tonspuren in Filmen werden verzerrt, Geräusche sind nur dumpf hörbar, um Apathie und Schock auszudrücken, eine verwackelte Kamera soll das verzweifelte Suchen nach Halt vermitteln. Die Bilder und Begriffsfelder dieser Geschichten haben sich fest in das kollektive Gedächtnis gebrannt: das leere Gesicht mit eingefallenen Augen und gänzlich ohne Haare ist das universelle Bild für den Mensch im Kampf gegen die Krankheit, der Körper, der in die Röhre des Kernspintomografen einfährt, das exemplarische Bild für den Moment der Diagnose, der Kranke, noch im Unklaren über sein Schicksal, im Sprechzimmer einer Ärztin.

In der Serie Breaking Bad über einen Chemielehrer, der an Lungenkrebs erkrankt und deswegen aus finanzieller Not heraus zum Drogenboss wird, sieht man in der ersten Folge den Kopf des Protagonisten Walter White, der langsam aus der Röhre des MRT herausfährt. Nach dem nächsten Schnitt sitzt White in einem Zimmer vor einem großen Gemälde, die Kamera fährt über einen glänzenden Schreibtisch langsam auf seine Kopfhöhe, er starrt jemanden an, der ihm gegenübersitzt. Ein eindringlicher Pfeifton und dumpf verzerrtes Sprechen sind zu hören, dann sieht man den Mund seines Gegenübers in Nahaufnahme, man hört und sieht, dass er spricht, kann ihn aber nicht verstehen. Es ist offensichtlich ein Arzt. Als die Kamera nach schräg links unten fährt, erkennt man, dass es sich um die Perspektive von White handelt. Sein Blick bleibt an einem deutlich sichtbaren gelben Fleck auf dem weißen Kittel des Arztes hängen. Man könnte jemandem, der mit der Handlung der Serie nicht vertraut ist, diese Szene zeigen und wahrscheinlich könnte die Person erraten, wovon sie ungefähr handelt – so kulturell vertraut sind diese ästhetische Strategie und die Ikonografie der Diagnose, dass sie wie Codes funktionieren. Dadurch haben wir nicht nur eine mentale Galerie der Krankheit, die uns hilft, sie in Filmen und Serien zu erkennen, sondern diese ästhetischen Mittel, mit denen Krebs erzählt wird, nehmen auch Einfluss auf unsere Wahrnehmung und Erinnerung unseres eigenen Erlebens. Sie konstruieren unsere Ängste, unsere Vorahnungen und Sorgen im Umgang mit Krankheit und vor allem mit Krebs. Auch wegen solcher Szenen wie der aus Breaking Bad konnte meine Erinnerung an diesen Morgen vor über einem Jahrzehnt selbst eine solche Filmszene werden. Sie ist genauso wie mein gesamtes Erleben der Krankheit, der Chemotherapie und der Untersuchungen von all diesen Erzählungen, Bildern und Szenen beeinflusst. Eine ganze Kultur umgibt diese Krankheit, die kaum zu entwirren ist – versuchen kann man es vielleicht trotzdem.

Ich habe diese Krankheit erlebt, habe mehrere Stufen der Diagnose durchlaufen, acht Monate lang Chemotherapie bekommen, in einer mehrstündigen Operation wurde mir ein Knochentumor aus dem Oberschenkel entfernt und das Kniegelenk vollständig durch eine Prothese ersetzt. Ich habe alle meine Haare verloren, ich habe mich vor mir selbst geekelt, ich habe von Weinkrämpfen geschüttelt abends auf meinem Bett gesessen, weil ich nicht ins Krankenhaus wollte, und bin dann doch in die Notaufnahme gefahren. Ich hatte Krebs. Ich bin gesund, aber noch nicht geheilt. Wenn der Krebs nicht wiederkommt, gelte ich in einigen Jahren als geheilt. Im Moment bin ich gesund. Es geht mir gut.

Krebs. Es scheint allein der Name der Krankheit zu sein, der auf eine Weise Ängste auslöst, wie es kaum eine andere Bezeichnung für ein körperliches Leiden vermag. Schon in den 1970er Jahren zitiert Susan Sontag den Psychiater Karl A. Menninger mit der Behauptung, dass «schon dem bloßen Wort «Krebs» nachgesagt wird, manche Patienten zu töten, die der Bösartigkeit ihrer Krankheit, an der sie leiden, sonst nicht (so schnell) erlegen wären.»2 Krebs ist eine Krankheit, so wirkt es, die mit solch einer kulturellen Wucht verbunden ist, dass das Aussprechen ihrer Bezeichnung als Diagnose sie zu verschlimmern scheint. Diesem kulturellen Konstrukt einer Krankheit möchte ich hier auf den Grund gehen und es meinem eigenen Erleben gegenüberstellen. Ich möchte meinem eigenen Verhältnis zu dieser Krankheit näher kommen, die zu meiner Krankheit wurde. Ich möchte herausfinden, wie sich meine ganz persönliche Erfahrung in die kulturelle Geschichte von Krebs einfügt, wie sie damit verwoben ist, wie sie sich an ihr reibt und sie bricht. Vielleicht gelingt es mir dann besser zu verstehen, was die Diagnosen, die Monate der Therapie und die Jahre danach mit mir gemacht haben und bis heute machen. Aber auch, um festzustellen, wie sich die Geschichten, Bilder und Mythen, die die Krankheit Krebs umranken, mit der Realität des Leidens und Lebens damit vereinbaren lassen. Wie sie auf mich wirkten, in Momenten der...

Erscheint lt. Verlag 23.8.2023
Reihe/Serie Oktaven. Das kleine feine Imprint für Kunst im Leben und Lebenskunst
Oktaven. Die literarische Reihe für Kunst im Leben und Lebenskunst
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Erfahrung mit Krebs • Erfahrungsbericht • ermutigende Essays • Essay • individuelle Erfahrungen über Krebs • Knochenkrebs • Krebs • Nachdenken über Krebs • Verarbeitung einer Krankheit
ISBN-10 3-7725-4438-X / 377254438X
ISBN-13 978-3-7725-4438-5 / 9783772544385
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