Zündeln an den Strukturen (eBook)

Ein Reportage-Roman

(Autor)

Katrin Grund (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2023 | 4. Auflage
316 Seiten
epubli (Verlag)
978-3-7575-7976-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zündeln an den Strukturen -  Ottmar Miles-Paul
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Sie haben es tatsächlich getan und sind selbst überrascht, dass sie zu einer solchen Tat fähig waren. Bestimmt hunderte Male hatten sie mit wachsender Frustration durchgespielt, wie sie sich gegen die Ungerechtigkeiten in der Werkstatt für behinderte Menschen wehren könnten. Heute Nacht haben Helen Weber und ihre beiden Freunde das Werkstattgebäude in Brand gesetzt. Warum diese Brandstiftung? Kommen Helen Weber und ihre Freunde mit dieser Tat davon? Und was wird nun in der Praxis aus ihrem theoretischen Gedankenspiel 'Was wäre möglich, wenn es keine Werkstatt für behinderte Menschen in unsrer Stadt gäbe?' Katrin Grund, eine junge Volontärin der Lokalzeitung, ist aufgrund ihrer Schlaflosigkeit schnell an der Brandstelle. Bei der Brandstiftung wittert sie eine größere Story. Sie hofft, damit endlich in der Redaktion Fuß fassen zu können, und beginnt über das System der Werkstätten für behinderte Menschen zu recherchieren. Dabei lernt sie die Enthinderungsgruppe kennen. Deren Mitglieder setzen sich für Inklusion und den Abbau von Barrieren ein. So entstehen Freundschaften, aber auch Verirrungen und Verwirrungen.

Ottmar Miles-Paul engagiert sich seit über vierzig Jahren für die Rechte behinderter Menschen. Als Redakteur des Online-Nachrichtendienstes zu Behindertenfragen, den kobinet-nachrichten, berichtet der selbst Seh- und Hörbehinderte fast täglich über Aktivitäten der Behindertenpolitik und Behindertenarbeit. Bisher hat er hauptsächlich Fachbücher und Fachartikel veröffentlicht. Im Hinblick auf die aktuelle Diskussion über die Beschäftigung in Werkstätten für behinderte Menschen weit unter dem Mindestlohn hat er diesen Roman verfasst. In seinem Nachwort ordnet der langjährig aktive Streiter für die Menschenrechte behinderter Menschen die Entstehung des Buches und die aktuellen Entwicklungen für menschenrechtsorientierte Arbeitsmöglichkeiten für behinderte Menschen ein.

Ottmar Miles-Paul engagiert sich seit über vierzig Jahren für die Rechte behinderter Menschen. Als Redakteur des Online-Nachrichtendienstes zu Behindertenfragen, den kobinet-nachrichten, berichtet der selbst Seh- und Hörbehinderte fast täglich über Aktivitäten der Behindertenpolitik und Behindertenarbeit. Bisher hat er hauptsächlich Fachbücher und Fachartikel veröffentlicht. Im Hinblick auf die aktuelle Diskussion über die Beschäftigung in Werkstätten für behinderte Menschen weit unter dem Mindestlohn hat er diesen Roman verfasst. In seinem Nachwort ordnet der langjährig aktive Streiter für die Menschenrechte behinderter Menschen die Entstehung des Buches und die aktuellen Entwicklungen für menschenrechtsorientierte Arbeitsmöglichkeiten für behinderte Menschen ein.

Nach diesem Telefongespräch brauchte ich erst einmal einen starken Kaffee. In den letzten Monaten hatte ich vereinzelt mit Betriebsrät*innen verschiedener Firmen und mit Gewerkschafter*innen zu tun gehabt. Das Gespräch mit dem Werkstattratsvorsitzenden hatte im Gegensatz dazu wenig Kämpferisches. Von Horst Zinke gab es kaum Kritik an den Beschäftigungs- und vor allem Entlohnungsbedingungen, dafür aber viel Entschuldigendes für die Werkstatt, also seinen Arbeitgeber.

Die 150 bis 375 Euro im Monat lagen mir schwer im Magen. Grob berechnet waren das für jeden behinderten Beschäftigten durchschnittlich vielleicht so um die 220 Euro pro Monat. Der Hammer! Horst Zinke hatte diese geringe Entlohnung weitgehend emotionslos genannt. Scheinbar nahm selbst er als Werkstattratsvorsitzender dies so hin. Gleichzeitig hatte er aber auch immer wieder durchscheinen lassen, dass die Arbeit in der Lindentalwerkstatt zuweilen kein Zuckerschlecken sei: Aufträge müssten pünktlich erledigt werden, und die Qualität müsse natürlich stimmen. Von einem Mindestlohn schien hier also keine Spur.

Warum dieser dort nicht galt, auch das musste ich unbedingt ergründen. „Jetzt fange ich schon selbst damit an, mit meinem Namen zu spielen“, entfuhr es mir. Selbst wenn jemand am oberen Ende der Entlohnungsskala 375 Euro im Monat bekam, waren das bei einer Vollzeitbeschäftigung nicht einmal 3 Euro pro Stunde. Bei 150 Euro war das sogar weniger als ein Euro pro Stunde. Unfassbar!

Langsam begann ich zu verstehen, warum Helen Weber ihren Unmut nicht einfach so am Telefon erzählen wollte. Wenn der Werkstattratsvorsitzende schon so zögerlich in seinen Äußerungen war, wie schwer musste dies erst für einfache Beschäftigte sein? Vielleicht war es hier ähnlich, wie bei meiner Oma. Mit ihr fühlte ich mich sehr verbunden. Seit einem Jahr lebte sie in einem Seniorenheim. Auf der einen Seite erzählte sie mir, welche Ungerechtigkeiten sie im Heim tagtäglich beobachtete und wie herablassend sie selbst zum Teil behandelt wurde. Auf der anderen Seite beendete sie ihre Klagen immer mit dem Satz „Sag bloß nichts!“ So ein Satz, gerade von ihr, tat mir immer besonders weh. Immerhin hatte man meine Oma schon selbst extra lang im Bett warten lassen, als sie dringend auf die Toilette musste. Klar war ‚es‘ dann auch schon mal in die Hose gegangen. Was für eine Demütigung ersten Ranges für meine stolze Oma, eine gestandene Frau. Trotzdem hielt ich mich an ihre Vorgabe, nichts zu sagen, und machte gegenüber der Heimleitung und den Mitarbeiter*innen des sogenannten Seniorenheims gute Miene zum bösen Spiel.

„Vielleicht ist die strukturelle Macht in der Werkstatt gar nicht so viel anders als die im Seniorenheim meiner Oma?“, murmelte ich vor mich hin. Ich musste mich unbedingt mit dieser Behindertenrechtskonvention vertraut machen, bevor ich Helen Weber traf. Immer mehr begann ich zu verstehen, warum im Zusammenhang mit Behinderteneinrichtungen immer wieder von Menschenrechten gesprochen wurde.

Wie aufschlussreich der Austausch mit Helen Weber werden sollte und meinen weiteren beruflichen und sogar meinen persönlichen Lebensweg entscheidend prägen würde, auch das ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Anfangs tasteten wir uns bei unserem Treffen im Café Charlie vorsichtig aneinander heran. Wir liebten den gleichen Kuchen, zu dem ich sie einlud. Obwohl, meine Vergütung als Volontärin war auch nicht gerade üppig. Es gab auch sonst ein paar Gemeinsamkeiten, die sich im Laufe unseres Vorgeplänkels herausstellten: Wir schwärmten beide für Justin Bieber und schauten gerne die Serie Mord mit Aussicht – aber nur die alten Folgen.

Als der Nachbartisch frei wurde und der Kaffee und Kuchen serviert waren, hatten wir schließlich etwas mehr Privatsphäre. Ich ergriff die Initiative und erzählte ihr, dass ich mit Horst Zinke, dem Werkstattratsvorsitzenden, gesprochen hatte. Ich bekannte, dass ich offengesagt entsetzt war, unter welchen Bedingungen in der Werkstatt gearbeitet werden musste. Diesen Hinweis hatte ich mir als Türöffner für das Gespräch mit Helen Weber überlegt. Nach kurzem Schweigen, in dem sie mich abzuschätzen schien, fragte sie mich, ob ich unser Gespräch wirklich vertraulich behandeln könne. Natürlich wollte ich darüber berichten, ich sicherte ihr aber zu, dass ich all ihre Informationen vertraulich behandeln würde. „Ich gebe Ihre Identität auf keinen Fall preis“, lautete mein Versprechen.

„Die geringe Bezahlung, klar stört die mich und einige andere wirklich an der Arbeit in der Werkstatt. Viel schlimmer finde ich, dass wir so gut wie keine Chance haben, aus der Werkstatt rauszukommen. Ein Bekannter vergleicht das immer mit einer abschüssigen Straße bei Glatteis: Man kommt leicht rein, aber so gut wie nicht wieder raus. Ich bin seit über zehn Jahren in der Lindentalwerkstatt. Ich habe noch nie auch nur einen Hauch von einer Chance auf ein Praktikum oder einen Arbeitsplatz draußen bekommen. Aber das ist doch ein zentraler Auftrag der Werkstätten. Die sollen uns für den allgemeinen Arbeitsmarkt fit machen und uns vermitteln.“

„Zehn Jahre und kein Angebot auf ein Praktikum?“. Ich wollte sicher gehen, ob ich das wirklich richtig verstanden hatte.

„Man fragt immer wieder, ob es nicht Möglichkeiten für eine echte Arbeit gibt, aber es tut sich einfach nichts. Ich habe irgendwann aufgehört zu fragen. Und dann erzählt man mir noch ‚Bleib lieber hier bei uns in der Werkstatt. Draußen ist das viel zu schwer für dich, und am Ende bist du froh, wenn du wieder zurückdarfst,‘ das hat was mit mir gemacht. Das ist echt bitter. Manchmal – aber nur manchmal – frag‘ ich noch, ob es nicht wenigstens einen Praktikumsplatz für mich gibt.“

Helen Weber hielt inne. Sie überlegte wohl, ob sie schon zu viel gesagt hatte, fuhr nach einem ermunternden Nicken von mir aber fort. „Früher hab’n die das beschützende Werkstatt genannt – ein Witz! Wer wird da beschützt? Wir behinderten Beschäftigten, oder diejenigen, die uns betreuen und mit uns ihr Geld verdienen? Oder die da draußen? Wir werden so oft von oben runter behandelt. Da war auch schon richtig Gewalt von Betreuern oder von Werkstattbeschäftigten untereinander. Dagegen kann man sich so schwer wehren. Ganz ehrlich, selbst dann geht man weiterhin in die Werkstatt. Man will ja nicht nur zu Hause rumsitzen. Eine ehemalige Mitarbeiterin, eine tolle Betreuerin, hat mal versucht, dagegen anzugehen. Sie hat das mit der Gewalt offen bei der Leitung angesprochen. Sie war dann aber die, die nach einigen Monaten gegangen ist. Und die, die uns beschimpfen und schikanieren, sind noch immer fast alle da. Manchmal ist man dann richtig froh, wenn man bei so was in eine andere Abteilung versetzt wird, selbst wenn man vielleicht noch weniger verdient. Zum Glück gehen jetzt einige schwierige Betreuer in Rente.“

Helen Weber holte nur kurz Luft, um gleich fortzufahren: „Der Werkstattrat, in dem hab‘ ich mal eine Weile mitgemacht. Der ist bei solchen Problemen ziemlich machtlos. Wir waren echt überfordert. Öffentlich machen will man das nicht, wenn es Ungerechtigkeiten oder sogar Gewalt gibt. Man will schließlich nicht, dass die Werkstatt einen schlechten Ruf bekommt. Und ehrlich gesagt, richtig ernst genommen werden wir meist eh nicht von den Leitenden.“

Das war einiges, was da aus Helen Weber heraussprudelte. Mir wurde immer klarer, dass ihre Schilderung der Situation ein enormer Vertrauensbeweis ihrerseits mir gegenüber war. Ich musste gut reagieren, denn das würde entscheiden, ob sie sich zu weiteren Treffen hinreißen ließ und weiteren Berichten zustimmen würde oder nicht. „Vielen Dank für ihr Vertrauen und ihre große Offenheit!“ Direkt anschließend berichtete ich ihr mit ironischem Unterton, dass von solchen Zuständen in meinen bisherigen Gesprächen mit der Geschäftsführerin und dem Vereinsvorsitzenden des Fördervereins keinerlei Rede gewesen war.

„Kann ich mir gut vorstellen. Unsere Geschäftsführerin ist eine Meisterin, sich zu verstellen. Sie sollten die mal erleben, wenn Politiker und Politikerinnen zu uns in die Werkstatt kommen. Das ist wie im Zoo. So fühle ich mich immer. Denen wird eine heile Welt vorgegaukelt und wir spielen alle mit. Keiner von uns will noch weniger verdienen als jetzt schon. Und wenn man doch was Falsches sagt oder wir nicht freundlich gelächelt haben, dann – dann wird man hinterher so richtig zusammengestaucht. Echt nicht schön. Ich sag‘ meist nur, dass es mir in der Werkstatt gut gefällt. Viele von uns haben leider kein großes Selbstbewusstsein. Wir werden zum Teil richtig klein gemacht.“

„Kann ich mir gut vorstellen“, warf ich ein, wollte aber den Gesprächsfluss von Helen Weber nicht weiter unterbrechen.

„Unter uns behinderten Beschäftigten gibt es immer wieder Stress. Wir sind dort nicht alle gut Freund miteinander. Eher andersrum. Wenn einer mehr verdient oder mehr geachtet wird, kommt leicht Neid auf.“

Ich dachte sofort an das Prinzip ‚Herrsche und Teile‘, das scheinbar auch unter den behinderten Beschäftigten der Werkstatt bestens zu funktionieren schien. Währenddessen erzählte Helen Weber immer emotionaler weiter.

„Unter uns behinderten Beschäftigten knallt es dauernd. Dauernd gibt es Gewalt und Beschimpfungen. Wir Frauen haben es besonders schwer. Gut, dass es endlich Frauenbeauftragte für behinderte Frauen in den Werkstätten gibt, ehrlich. Leider wird unsere Frauenbeauftragte klein gehalten.“

Was für eine ernüchternde Bilanz von Helen Weber. Und da war sie also, die anscheinend identische Erfahrung, die ich mit meiner Oma im Seniorenheim gemacht hatte: Wer etwas sagte, wurde noch schlechter behandelt.

„Gibt es denn unter Ihren Betreuer*innen ein paar...

Erscheint lt. Verlag 17.8.2023
Mitarbeit Mitglied der Redaktion: Katrin Grund
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Arbeit • Behinderung • Budget für Arbeit • Inklusion • Mindestlohn • UN-Behindertenrechtskonvention • Werkstatt für behinderte Menschen
ISBN-10 3-7575-7976-3 / 3757579763
ISBN-13 978-3-7575-7976-0 / 9783757579760
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