Mit wie vielen gegnerischen Schiffen es die angegriffene Einheit des Space Army Corps zu tun hatte, ließ sich nicht sagen. Denn den Ort des Angriffs hatten sich die Qriid gut ausgewählt. Sehr gut sogar. Die einhundertfünfundzwanzig Planeten des Schetzchen-Schwarms mit ihrer riesigen, immer wieder gewaltige Protuberanzen ausstoßenden Zentralsonne und den ungezählten Satelliten, Monden und Asteroiden boten selbst für eine in die tausende gehende Flotte genug Ortungsschatten, um jedes einzelne Schiff vor einem sich nähernden Gegner sorgfältig zu verbergen.
Ein perfekter Ort für eine perfekte Falle. Der so harmlos klingende Name dieses Systems war gerade im Begriff, für die Humanen Welten das zu werden, was Waterloo für Napoleon gewesen war.
Ein Synonym für die ultimative Niederlage.
Schon seit vielen Stunden lag Ron-Nertas, der Prediger, fast regungslos auf dem Rücken, Arme und Beine weit ausgestreckt. Während er den langen Schnabel leicht geöffnet hatte, waren seine beiden, seitlich am Kopf befindlichen Augen fest geschlossen, da er sonst das grelle Licht der auf ihn herabsengenden Sonne nicht hätte ertragen können. Die vielen Stunden seiner tiefen Versenkung dienten nur einem Ziel, Kontakt aufzunehmen zur großen, allumfassenden Gottheit seines Volkes. In diesem lautlosen Zwiegespräch wollte er Gewissheit über seinen Weg, seine Pläne und das weitere Vorgehen erlangen.
Doch es war schwer, hier auf Shaltraan II – einem der beiden vor aller Welt verborgenen Planeten – diesen Kontakt überhaupt herzustellen.
Vor allen Dingen jedesmal dann, wenn Milgor von seinen Exkursionen in die weitläufigen Dünen zurückkehrte und seinen Herrn noch immer in der gleichen Position daliegen sah. Immer wieder brach der kleine Gengo auf, um nachzuschauen, ob tiefer hinein in dem schattigen Tal, das hinter den Dünen begann, weitere Flinkkriecher-Familien unter den großen, runden Steinen lebten, die hier überall herumlagen.
Milgor war eigentlich an den wuseligen Flinkkriechern kaum interessiert. Zum einen war er satt und zum anderen schmeckten ihm diese seltsamen kleinen Tiere – die aussahen wie pelzige Würmer mit einem Dutzend Beinchen und drei immerzu in alle Richtungen sichernden Stielaugen – gar nicht.
Aber was sollte er machen in dieser Einöde, in der sich kaum etwas anderes finden ließ. In seinem kleinen Köpfchen befanden sich noch Reste von unbestimmten Bildern einer namenlosen Erinnerung an Sarashtar, jener großen, gewaltigen Stadt auf Garinjan. Erinnerungen an eine vergangene Zeit, als Milgor zusammen mit seinem Clan durch die Straßen und über die Dächer der Gebäude dieser Stadt tobte; immer auf der Suche nach Essbarem.
Oh ja, der Hunger war allgegenwärtig gewesen, aber sein Clan hatte immer etwas zu essen gefunden. Die vielen Wesen, die in den Gebäuden lebten, warfen jeden Tag viele schmackhafte Dinge auf die Straße, über die sich dann Milgor und sein Clan hermachte, um sie zu vertilgen. Nicht alles, was die anderen von der Art seines Herrn auf die Straße warfen, war genießbar, aber vieles.
Gutes Futter von bösem Futter und von Nichtfutter zu unterscheiden, das gehörte zu den ersten Dingen, die ein frisch geborener Gengo lernen musste. Sonst währte das Leben des Neugeborenen nicht lange. Nach den Kriterien seiner alten Heimat waren Flinkkriecher Gutes Futter, sogar Sehr Gutes Futter, besonders, wenn die Beute noch lebendig war. Aber seit Milgor zu Ron-Nertas, seinem neuen Herrn, gehörte, erhielt er regelmäßig Bestes Futter zu fressen und brauchte sich selbst überhaupt nicht mehr darum zu kümmern, etwas zwischen die Zähne zu bekommen.
Doch Milgor war langweilig. Besonders dann, wenn sich sein Herr in der Weise in die Sonne legte, wie er es jetzt schon wieder tat. Milgor wusste genau, dass Ron-Nertas nicht schlief, sondern etwas anderes tat – oder nicht tat oder was auch immer …
Milgor verstand nicht, was gerade vorging, wenn sich sein Herr so auf den Boden legte. Aber in den immer mehr verblassenden Bildern seiner Erinnerung hatte er in seiner alten Heimat regelmäßig die großen Wesen, die Nahrung aus ihren Häusern warfen, dabei beobachten können, wenn sie sich in ähnlicher Weise hinlegten. Nur taten sie es dort meist in besonderen Gebäuden. Die Gebäude wurden von den Qriid, wie sich die Wesen, die Nahrung aus ihren Häusern warfen, selbst nannten, als Tempel bezeichnet.
Und so schlau war Milgor, dass er wusste, dass es hier, wo er seit einiger Zeit bei seinem Herrn Ron-Nertas lebte, keine Tempel gab. Auch keine Stadt mit Straßen, überhaupt nur sehr wenige Gebäude und vor allem nur eine Hand voll Qriid. Außerdem waren da einige jener anderen Geschöpfe in den seltsamen Anzügen, die Naarash genannt wurden und die er auch schon in seiner alten Heimat gelegentlich zu Gesicht bekommen hatte.
Einem dieser seltsamen Wesen, einem Naarash, hatte Milgor es zu verdanken, dass er hierher zu Ron-Nertas gekommen war. Daran konnte er sich noch gut erinnern.
Eines Nachts, als er wie üblich mit seinem Clan durch die Straßen tobte – auf der Suche nach Futter, das kurz zuvor aus irgendwelchen Gebäuden geworfen worden war – hatte er ein leises, lockendes Pfeifen gehört. Milgor war noch ganz außer Atem gewesen, weil sich kurz zuvor ihr Clan mit einem anderen Clan eine regelrechte Schlacht geliefert hatte. Die Eindringlinge wollten partout nicht aus ihrem Revier verschwinden.
Es war ein kurzer, aber nichtsdestotrotz erbitterter Kampf gewesen, bei dem einige Mitglieder von Milgors Clan böse Verletzungen erlitten hatten. Aber schließlich war es einem von ihnen gelungen, dem Anführer der Angreifer in die Kehle zu beißen, der sich daraufhin heftig blutend in letzter Not zusammen mit seiner Gruppe zurückgezogen hatte.
Milgor bezweifelte, dass der fremde Clan-Chef die Wunde überlebt hatte. Aber er wusste es nicht. Denn wenig später erklang der lockende, leise Pfiff bereits ein zweites Mal. Milgor blieb neugierig stehen, um sich umzusehen.
Im Schatten zwischen zwei Gebäuden sah er den im fahlen Mondschein schimmernden Anzug des Naarash, der sich auf den Boden gesetzt und den Pfiff ausgestoßen hatte. Milgor konnte sich nicht erinnern, dass jemals irgendeines der vielen anderen Wesen, die neben den Gengo-Clans in dieser Stadt lebten – egal ob Qriid oder Naarash –, versucht hätte, mit ihm Kontakt aufzunehmen.
Im Gegenteil! Nicht selten wurden sie von den viel größeren und stärkeren Wesen verscheucht. Besonders, wenn einer der Gengos es wagte, in einen der Tempel hineinzurennen, weil er dort eine leckere Mahlzeit entdeckt hatte. In so einem Fall wurden die sonst so freigiebigen Qriid besonders fuchtig und wütend. Den Jung-Gengos erzählte man gerne, dass bei derartigen Gelegenheiten schon mancher tollkühne Gengo von aufgebrachten Qriid erschlagen worden war.
Doch Milgor täuschte sich nicht. Die Pfiffe galten eindeutig ihm. Der Naarash versuchte, ihn heranzulocken. Flink sah sich Milgor um, aber kein anderer seines Clans war stehen geblieben.
Dummköpfe, dachte er, als er sah, weshalb der Naarash ihn heranwinkte.
Vor dem Wesen in dem schimmernden unförmigen Anzug lag ein großer Haufen Bestes Futter. Der betörende Geruch stieg Milgor in die Nase und kitzelte ihn so sehr, dass er unwillkürlich niesen musste.
Er schüttelte sich und hüpfte ein paar Schritte näher. Der Geruch wurde stärker. Es roch so lecker, dass Milgor noch in der Erinnerung das Wasser im Mund zusammenlief. Er bemerkte es kaum, aber trotzdem war ihm bewusst, dass er eine regelrechte Tröpfchen- und Schleimspur hinter sich herzog.
Endlich saß er vor dem Besten Futter und langte zu. Mit einem raschen Blick hatte er sich vorsichtig umgesehen, doch jetzt konnte er nicht mehr an sich halten. Mit beiden Händen stopfte er das Beste Futter in sich hinein. Es war ihm gleichgültig, dass der Naarash, während er aß, einfach sitzen blieb. Die verspiegelte Oberfläche des Helms verbarg ohnehin das Gesicht und die Augen seines Gönners.
Es schmeckte wunderbar. Und es war mehr als genug da. Er würde die Portion alleine überhaupt nicht schaffen. So satt hatte sich Milgor schon lange nicht mehr gegessen. Er wollte den anderen Bescheid sagen, ehe ein anderer Clan dieses Angebot fand und ihnen das Revier streitig machte.
Satt und rund erhob er sich ächzend und sah, dass er noch nicht einmal ein Drittel des Besten Futters vertilgt hatte. Milgor drehte sich um, um die Kameraden zu holen, da merkte er, dass er plötzlich ganz schläfrig wurde. So müde hatte er sich noch nie gefühlt.
Ich habe wohl zu viel auf einmal ge gessen …. dachte er noch.
Anschließend klaffte eine Lücke in seiner Erinnerung.
...