Die Bibliothek im Nebel (eBook)
560 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-46759-6 (ISBN)
Kai Meyer hat rund siebzig Romane veröffentlicht, von denen viele auf die SPIEGEL-Bestsellerliste gelangten. Übersetzungen erscheinen in dreißig Sprachen. Seine Geschichten wurden als Film, Hörspiel und Graphic Novel adaptiert und mit Preisen im In- und Ausland ausgezeichnet.
Kai Meyer hat rund siebzig Romane veröffentlicht, von denen viele auf die SPIEGEL-Bestsellerliste gelangten. Übersetzungen erscheinen in dreißig Sprachen. Seine Geschichten wurden als Film, Hörspiel und Graphic Novel adaptiert und mit Preisen im In- und Ausland ausgezeichnet.
2
Das Erwachen war viel schlimmer als mein Taumel in die Bewusstlosigkeit. Man hat davon gelesen und glaubt es zu kennen: Die Dunkelheit teilt sich wie Vorhänge, man steigt gemächlich empor, nimmt wie im Halbschlaf dieses und jenes wahr, reibt sich die Augen und ist wieder bei Sinnen.
Alles Unfug.
In Wahrheit gibt es keine Vorhänge, man entschwebt auch keinem wohligen Schlummer. Die Wirklichkeit bricht mit brutaler Gewalt über einen herein, und in meinem Fall war es eine, die ich niemandem wünsche. Abgesehen von Spiridon. Ihm sogar sehr.
Da waren Stimmen von Erwachsenen und klägliches Kindergeschrei, ein seltsames Halblicht voller Umrisse und verschwommener Gesichter, ein Geruch wie in einer Hundehütte, dazu ein tiefes, rhythmisches Wummern, das mich mehr beunruhigte als das Durcheinander ringsum. Denn auf wundersame Weise wusste ich trotz aller Benommenheit, was das Geräusch bedeutete.
Als Nächstes nahm ich wahr, dass jemand an mir zerrte. Nein, nicht an mir – an meiner Jacke. Irgendwer versuchte, sie mir auszuziehen. Dabei war es nicht mal meine Jacke. Die hier hatte ein dickes Futter aus Fell, was vermutlich der Grund war, warum der andere es darauf abgesehen hatte.
Ich brachte ein protestierendes Keuchen zustande, stieß die Hände flach gegen einen Menschen und sah jemanden zurückstolpern und davonhuschen. Schwankend richtete ich den Oberkörper auf. Das war keine gute Idee, denn etwas schien von innen gegen meine Stirn zu stoßen, eine Kugel, die durch meinen Schädel rollte wie durch einen Roulettekessel.
Ein niedriger Raum voller Menschen. Männer und Frauen saßen auf dem Boden, meist in kleinen Gruppen, dazu viele Kinder jeden Alters. Es gab zwei runde Spiegel, die sich bei näherem Hinsehen als nachtschwarze Bullaugen entpuppten, und ein paar Kojen, auf denen sich sitzende Menschen aneinanderdrängten. Schlafen würde darauf wohl keiner, ganz sicher nicht im Liegen.
Falls – außer dem Jackendieb – jemand Notiz davon nahm, dass ich aufgewacht war, so verbargen sie alle es hinter Mienen, in denen sich Trauer und Fassungslosigkeit die Waage hielten. Manche weinten, andere starrten schicksalsergeben ins Leere. Die meisten waren gut gekleidet, als hätten sie sich auf diese Reise gründlich vorbereitet. Auch ich war mit dem Nötigsten versorgt worden. Meine Sachen rochen nach Spiridons Laden, nach staubigen Schränken und Siegelwachs. Am liebsten hätte ich sie mir vom Leib gerissen, aus Wut über das, was er mir angetan hatte.
Wahrscheinlich hatte er mir das Leben gerettet, aber ich war noch nicht bereit, das zu akzeptieren. Zumal dieses Schiff kein sicherer Ort war. Wenn alle Kabinen aussahen wie diese hier, dann war der Kahn hoffnungslos überladen, und wir steuerten hinaus auf eine Ostsee, in deren Tiefen ein gnadenloser U-Boot-Krieg tobte. Selbst ich, der ich mein Lebtag keinen Fuß auf ein Deck gesetzt hatte, wusste, dass die Unterseeflotte der Deutschen keinen Unterschied machte zwischen zivilen Dampfern und Marinekreuzern.
Ich tastete umher und fand einen Lederkoffer, an dem mein Kopf gelehnt hatte. Auch deshalb tat mein Nacken so weh. Mühsam zog ich ihn hinter mir hervor, öffnete die beiden Schnallen und klappte vorsichtig den Deckel nach oben, nur ein kleines Stück, damit keiner der anderen hineinsehen konnte. In Anbetracht der Enge war das zum Scheitern verurteilt, aber ich erwartete auch nicht, dass im Koffer Goldschmuck und Geldbündel lagen – oder irgendetwas, das jemanden hier hätte interessieren können. Andererseits hatte man meine Jacke stehlen wollen. Die Regeln von Anstand und Zivilisation waren in unserer Heimat zurückgeblieben.
Unter dem Deckel lagen ein brauner Wollpullover und eine Wechselhose, die mir mit Sicherheit zu groß war. Dazu ein Stoffbeutel, in dem ein Stück Seife, eine Schachtel Zahnpulver und eine hölzerne Zahnbürste steckten; hoffentlich kein gebrauchtes Stück aus Spiridons Laden. Darunter lag die versiegelte Pappschachtel mit dem Manuskript, hinter der Kordel klemmte ein gefaltetes Papier. Als ich die Schachtel ein wenig anhob, entdeckte ich am Grund des Koffers mein Exemplar des Kalevala und Maras bunte Farbpalette.
Mit einem Aufatmen zog ich den Zettel hervor und las, was Spiridon in seiner schönen Fälscherhandschrift geschrieben hatte.
Ich wünsche dir eine gute Reise, stand da, als wäre ich zu einer Wochenendfahrt auf einem Wolgadampfer aufgebrochen. Die wichtigsten Dinge hast du bestimmt schon im Koffer gefunden. Unter dem Stoff im Deckel ist ein Armeemesser befestigt, das du hoffentlich nicht brauchen wirst. Bring die Schachtel ungeöffnet zu Iwan Iwanowitsch Petrow nach Leipzig. Ich hoffe, dass du findest, was du suchst. Dein Freund (der wirklich dein Freund ist, auch wenn du daran gerade zweifelst) S.
Das Messer war da, die Scheide mit ein paar Tropfen Leim am Deckel befestigt. Ich überlegte, es unter meine Jacke zu stecken, aber das hätten alle mitangesehen, und ich wollte kein Misstrauen wecken. Ohnehin schien hier jeder jeden zu belauern, und das nicht ohne Grund. Wir alle waren mit dem Wissen aufgewachsen, dass Augen und Ohren der Geheimpolizei allgegenwärtig waren. Man musste nicht krankhaft misstrauisch sein, um sie auch hier zu vermuten. Jeder war ein potenzieller Spion.
Ich klappte den Kofferdeckel zu, schloss die Schnallen und kämpfte mich unsicher auf die Beine. Das Schiff und ich, wir schwankten beide, aber ich packte den Koffer und ging mit Schlagseite zur offenen Kabinentür, zwischen den Menschen am Boden hindurch, die alle zu mir aufblickten, als täte ich etwas ganz und gar Unbegreifliches.
»Frische Luft«, murmelte ich im Ton einer Entschuldigung, als ich einer Frau mit Kleinkind auswich, und sofort sagte jemand: »Verboten.« Ich muss ziemlich begriffsstutzig dreingeschaut haben, denn der Mann fügte hinzu: »Keiner von uns darf an Deck.«
Ich nickte ihm zu, als hätte ich verstanden, trat aber trotzdem hinaus auf den Gang und sah rechts und links weitere Türen, die meisten offen. Auch hier draußen hielten sich Menschen auf, einige tuschelten, andere lehnten stumm an den Wänden und starrten mich an.
Ich fand eine Treppe, die aufwärts führte. Niemand hielt mich auf, als ich die Eisenstufen emporstieg, in einer fremden Felljacke und mit einem Koffer, der nicht mir gehörte. Auf einer Reise, die nicht meine war. Die Nachwirkungen des Betäubungsmittels waren noch nicht völlig verflogen, und so kam mir die Treppe viel länger vor, als sie tatsächlich war, so als stiege ich vom Grund des Meeres auf, durch einen Turm aus gestapelten Schiffswracks, der von dort unten bis zur Oberfläche reichte. Es roch nach Maschinenöl und den Körpern vieler Menschen, obwohl jetzt keine mehr um mich waren. Ich war allein auf der Treppe, und für einen Augenblick dachte ich wirklich, sie nähme kein Ende, bis ich an eine Metalltür kam. Als ich benommen zurückblickte, waren da nicht mehr als fünfzehn Stufen.
Ich rechnete damit, dass der Ausgang verschlossen war, um das Menschenvieh in seinen Pferchen zu halten, doch die Klinke klemmte nur für einen Moment. Eiskalte Seeluft drang mir entgegen. Draußen herrschte Düsternis, vereinzelte Lampen glühten milchig in einem dichten Nebel, der sogar das Stampfen der Motoren und das Meeresrauschen dämpfte. Alle Lichter waren kurz über dem Boden hinter der geschlossenen Reling angebracht.
Ich drückte die Tür hinter mir zu, atmete tief durch und blickte mich um. Das Deck entlang der Reling war verlassen. Zwischen klobigen Aufbauten befanden sich Schneisen, zu dunkel, um darin Einzelheiten zu erkennen. Abgesehen von den kleinen Lampen, die kaum zur Orientierung genügten, gab es keine Beleuchtung. Die Saltan wollte nicht schon aus der Ferne von feindlichen Schiffen erspäht werden. Unvermittelt stellte ich mir vor, wie der Nebel aufriss und der Bug eines deutschen Schlachtschiffes auf uns zukam, doppelt so hoch wie der Dampfer, und fortan wurde ich das Bild nicht mehr los.
Ich trat an die Reling, stellte den Koffer ab und legte beide Hände auf das eisige Geländer. Handschuhe besaß ich nicht, aber die schmerzhafte Kälte tat mir gut, vertrieb meine Müdigkeit und half, ein paar klare Gedanken zu fassen. Damit kehrte die Trauer um Ofeliya zurück, auch um meinen Onkel und meine Tante, obgleich ich nie große Zuneigung für die beiden verspürt hatte. Auf seine Weise hatte Alexej es gut mit mir gemeint. Xenia hingegen hatte nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie eine Last in mir sah, die sie nur aus verwandtschaftlicher Verantwortung erduldete.
Ich nahm die Hände von der Reling und hob den Koffer auf. Langsam ging ich ein paar Schritte, näherte mich einer der dunklen Schneisen zwischen den Aufbauten und hörte von dort plötzlich Laute, ein leises Stöhnen und Stoßen, das Klatschen von Fleisch auf Fleisch.
»Nicht da lang«, raunte eine Männerstimme links von mir im Nebel. »Da treiben es zwei im Stehen. Weiter hinten ist noch ein Paar. Unten sind zu viele Menschen, und sie kennen das Schiff noch nicht gut genug, um die warmen Verstecke zu finden.«
Ich versuchte, zu erkennen, wer da gesprochen hatte, aber ich sah nur einen breitschultrigen Umriss, geisterhaft im wabernden Dunst.
»Sie tun es aus Verzweiflung«, sagte der Mann, »nicht aus Leidenschaft.« Dann trat er zurück in die Nebelschwaden und wurde wieder eins mit ihnen.
Ein wenig konsterniert drehte ich mich um und ging in die andere Richtung, fort von den beiden in der Schneise und hoffentlich nicht geradewegs zu den anderen, von denen der Mann gesprochen hatte. Ich war sicher, dass alle an Bord mit Ängsten zu kämpfen hatten, und jeder bewältigte sie auf seine Weise. Trotzdem war ich heilfroh, allein zu...
Erscheint lt. Verlag | 1.10.2023 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • 60er Jahre Romane/Erzählungen • Büchersammler • Bücher über Bücher • bücher wie die bücherdiebin • die bücher der junge und die nacht • Die Seiten der Welt • dramatische Romane • düsteres Geheimnis • Familienfehde • Familiengeheimnis • Familiengeschichten Romane • Frankreich • Französische Atlantikküste • historische Familienromane • Historische Romane • historische romane 20. jahrhundert • historische Romane 2. Weltkrieg • Historische Romane Deutschland • Historischer Roman • kai meyer beste bücher • Kai Meyer Bücher • kei meyer die seiten der welt • Leipzig • Romane 2. Weltkrieg • Romane Familiengeheimnisse • Romane Liebe • Romane spannend • Romane Zweiter Weltkrieg • Russische Revolution • Sankt Petersburg • Zeitgeschichte Roman |
ISBN-10 | 3-426-46759-3 / 3426467593 |
ISBN-13 | 978-3-426-46759-6 / 9783426467596 |
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