Nachtfahrt (eBook)

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2023 | 1. Auflage
256 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31088-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nachtfahrt -  Jan Costin Wagner
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'Ein exzellenter Krimi aus der Sicht eines eiskalten Täters erzählt.' Stern Mark Cramer ist schlichtweg anders. Denn Mark Cramer ist jenseits von Gefühl und Moral. Und Mark Cramer geht kalten Blutes immer aufs Ganze. Im Spielcasino bleibt er ungerührt, wenn der Rest des Saales ob seiner Einsätze atemlos auf den Lauf der Kugel starrt - und man ahnt, daß es nichts Gutes verheißt, als er im französischen Ferienparadies Cap Ferret über die Schwelle der Villa des in die Jahre gekommenen Schauspielerstars Fraikin tritt, dessen Biographie er schreiben soll ...

Jan Costin Wagner, Jahrgang 1972, lebt als Schriftsteller und Musiker bei Frankfurt am Main. Seine Romane um den finnischen Ermittler Kimmo Joentaa wurden von der Presse gefeiert, vielfach ausgezeichnet (u. a. Deutscher Krimipreis, Nominierung zum Los Angeles Times Book Prize) und in 14 Sprachen übersetzt. Tage des letzten Schnees und Das Licht in einem dunklen Haus wurden 2019 und 2022 vom ZDF u.a. mit Henry Hübchen und Bjarne Mädel verfilmt. Sommer bei Nacht erhielt den Radio Bremen Krimipreis, Am roten Strand ist nominiert für den Glauser-Preis für den besten deutschsprachigen Krimi. 

Jan Costin Wagner, Jahrgang 1972, lebt als Schriftsteller und Musiker bei Frankfurt am Main. Seine Romane um den finnischen Ermittler Kimmo Joentaa wurden von der Presse gefeiert, vielfach ausgezeichnet (u. a. Deutscher Krimipreis, Nominierung zum Los Angeles Times Book Prize) und in 14 Sprachen übersetzt. Tage des letzten Schnees und Das Licht in einem dunklen Haus wurden 2019 und 2022 vom ZDF u.a. mit Henry Hübchen und Bjarne Mädel verfilmt. Sommer bei Nacht erhielt den Radio Bremen Krimipreis, Am roten Strand ist nominiert für den Glauser-Preis für den besten deutschsprachigen Krimi. 

2


Den Abend verbringe ich im Hotel, weil ich weiß, dass Fraikin auf mich wartet und möglicherweise seinen Unmut an seiner Ehefrau auslässt, die ich nicht kenne, die er aber erwähnte in jenem Telefongespräch, das wir führten, kurz bevor ich mich ins Auto setzte und losfuhr.

Ich sitze im Speisesaal des Hotels, der gedämpft beleuchtet ist. Draußen hat es zu regnen begonnen, man kann kaum hinausschauen durch die Scheiben, ich frage mich, wo die Hitze geblieben ist, die den Sand unter meinen Füßen brennen ließ, kaum zwei Stunden ist das her.

Ich lasse mir Fleisch, Kartoffeln und Wein schmecken, plaudere mit der für meinen Tisch zuständigen Hoteldame, die immer nur lacht, egal, was ich sage, sogar wenn ich schweige. Das Hotel ist spärlich belegt, im hintersten Winkel speist ein Ehepaar, Engländer, wenn ich die Wortfetzen richtig verstanden habe, am Nebentisch sitzt ein Mann meines Alters, vielleicht etwas älter. Ich schätze ihn auf Mitte dreißig, werde ihn bei Gelegenheit fragen, obwohl es mich nicht interessiert.

Während die Bedienung mir den Nachtisch reicht, kommt noch einer, einer mit langen weißen Haaren, tiefen Furchen im Gesicht, der Mann ist sechzig und fühlt sich wie dreißig, denke ich unwillkürlich, nein, will sich wie dreißig fühlen, ein vorschnelles, ungerechtes Urteil, aber ich bin es gewohnt, vorschnell zu urteilen, hastig endgültige Bilder zu entwerfen. Ich liebe es, Charaktere einfach aus der Luft zu greifen, hier ein schmales Gesicht, dort ein harter Zug um den Mund, so machte ich das in meinen kleinen Geschichten (Röder gefiel das alles sehr gut, damals).

Der Weißhaarige lächelt, die Augen leuchten, die Dame an der Rezeption macht ein schiefes, amüsiertes Gesicht in seine Richtung, ein Gesicht, das missbilligend und wohlwollend zugleich ist und das er nicht sehen kann, weil er ihr den Rücken zukehrt. Er ist ganz Dynamik und Unternehmungslust und kommt auf meinen Tisch zu, ich weiß nicht, warum.

Sein Name sei Fignon, Bernhard Fignon, sagt er, er habe schon gehört, dass ich aus Deutschland komme, er spreche sehr gerne Deutsch, habe mal in Nürnberg gelebt, na ja, das sei lange her, aber gelernt ist gelernt, drückt meine Hand, klopft mir auf die Schulter.

Guten Abend, sage ich.

Ich müsse ihn heute Abend ins Casino begleiten, unbedingt, er werde jetzt essen, gegen 22 Uhr möchte er losfahren, Richtung Bordeaux, er wäre sonst alleine gefahren, ja, er mache keinen Hehl daraus, er sei ein Spieler, ein Trinker, ein Wahnsinniger, wenn ich so wolle, aber wir werden viel Spaß haben, verspricht er.

Wunderbar, sage ich, zehn Uhr. Warum soll ich nicht ins Casino gehen. Es spielt ohnehin keine Rolle, was ich tue, wichtig ist nur, Fraikin warten zu lassen, der in seinem Ferienhaus sitzt und möglicherweise seine Frau beschimpft, weil ich nicht komme.

Ich gehe hinauf in mein Zimmer, ziehe meinen schwarzen Anzug an und verbringe die Zeit, die noch totgeschlagen werden muss, auf meinem Bett, dahindämmernd. Mein Zimmer ist alles in allem braun und weiß, braun die Fliesen am Boden, weiß der Kleiderschrank an der Wand, braun der Holztisch, weiß die Tapete, braun das Bett, weiß das Laken, braun die Tagesdecke, weiß das Waschbecken, braun der Duschvorhang, weiß die Zimmerdecke, die ich anstarre für eine ganze Weile, bis ich auf die Idee komme, dass es möglicherweise bald zehn Uhr ist und ich in der Halle erscheinen muss, um mit Bernhard Fignon ins Casino zu fahren. Ich suche nach meiner Uhr, die ich verlegt habe. Sie findet sich schließlich in meiner Jackentasche, ich weiß nicht, wie sie dahin kam, es ist 21.43 Uhr.

Ich nehme mein Geld, alles, was ich habe, und gehe hinunter, vorzeitig, finde Fignon bereits wartend vor, glühend vor Ungeduld. Er plaudert mit der Rezeptionsdame, redet gestikulierend auf sie ein, und sie lächelt nur und nickt. Dann sieht er mich, stößt einen lang gezogenen Ausruf der Begeisterung und Erleichterung aus und kommt auf mich zu. »Da sind Sie ja, mein Freund. Kommen Sie, wir fahren.«

Ich bin derjenige, der fährt, Fignon sitzt breit auf dem Beifahrersitz und lobt mein Fahrzeug, er selbst besitzt leider nur einen Kleinwagen, mit dem er angereist ist aus Paris, wo er lebt und irgendein Handwerk betreibt, ich verstehe nicht genau, welches. Ich stelle das Radio lauter, um Fignon das Reden zu erschweren, aber Fignon redet weiter, ist nicht zu bremsen, schreit auch, wenn es sein muss.

Ich konzentriere mich auf die Straße, fahre absichtlich mit hoher Geschwindigkeit in die kleinen Kreisel, aber das stört Fignon nicht, er scheint es gar nicht zu bemerken. Einmal verliere ich um ein Haar die Kontrolle über den Wagen, die Reifen quietschen, wir enden fast im Straßengraben, und Fignon sagt nur: »Das war knapp.«

Ich lache mit kurzen Pausen für den Rest der Fahrt, die noch etwa zwanzig Minuten dauert, ich lache, Fignon redet, ich fahre 170 Stundenkilometer auf der Landstraße, die Musik ist so laut, Fignon redet und redet … Als wir im Parkhaus unter dem Casino zum Stillstand kommen, stehen mir die Tränen in den Augen, Lachtränen natürlich, die kleben auch, ich habe mich amüsiert.

Im Casino berührt mich sofort das feierliche Stimmengewirr, dazwischen die strengen Ansagen der Croupiers, das alles hören wir schon, als wir die weinroten Stufen der Treppe hinaufsteigen, die in goldenem Licht liegt. Wir betreten das Casino durch eine breite Flügeltür, Fignon hüpft hin und her beim Anblick der Spieltische, er hat mir schon im Auto versichert, dass er ein sehr gutes Gefühl habe, er werde gewinnen heute und »dann, mein Freund, machen wir kräftig einen drauf«.

Ich achte nicht weiter auf Fignon, lasse ihn mit seiner Begeisterung alleine und schlendere an den Tischen entlang, beobachte die Gesichter, die unbeteiligten der Croupiers, die fiebrig-erhitzten der bedauernswerten Menschen, die ihre Hoffnung auf eine kleine Kugel und eine Zahl setzen.

Ich könnte Geschichten schreiben über die junge Frau mit den gelben Zähnen, die aus dem Kichern nicht herauskommt und ständig versucht, sich unauffällig in den Besitz fremder Gewinne zu bringen. Über den fetten Mann im gelben Anzug, der glaubt, ihm gehöre die Welt, weil er mit 100-Francs-Chips um sich werfen kann.

Ich werde es nicht tun, wahrscheinlich.

Irgendwann verliere ich die Lust am Herumstehen, am unbeteiligten Zusehen und gehe, um mein Geld, alles, was ich habe, in Chips umzutauschen, kleine Chips aus Plastik, die man eigentlich in den nächsten Müllkorb werfen könnte, wenn nicht eine Zahl darauf stünde, die ihren Wert anzeigt.

Ich bitte den jungen Mann hinter dem Wechselschalter, mir Tausenderchips zu geben und lege ihm 35.900 Francs hin, alles, was mir der Bankbeamte gab, als ich mein Konto leerte in Deutschland, kurz bevor ich losfuhr. Alles, abgesehen von den 74 Francs in meiner Hosentasche, die reichen nicht, um das Hotel zu bezahlen.

Den jungen Mann, so scheint es, trifft fast der Schlag, sogar der Fette im gelben Anzug ist so weit nicht gegangen. Ich lächle, fühle mich gut, während der Mann mir ungeschickt die Chips zuschiebt, ein Tausender fällt auf den Boden. Ich verzichte darauf, ihn aufzuheben.

Ich gehe mit meinem ganzen Reichtum zum Tisch, an dem der fette Gelbe sitzt, direkt neben dem Croupier, dem er dann und wann mit Gönnerblick ein Trinkgeld zukommen lässt. Fignon, der beim Black Jack steht, auf- und abhüpfend, erhitzt grinsend, sieht mich von Weitem, winkt mir zu, registriert mit dem geübten Blick für das Sensationelle die Geldmenge in meinen Händen und rennt in meine Richtung, mit weit aufgerissenem Mund. »Was machen Sie da, mein Freund, das sind ja Tausender, um Gottes willen!«

Ich lächle nur, stelle mich neben den fetten Gelben, warte, bis die Kugel eine Zahl findet. Der Gelbe gewinnt und wirft dem Croupier einen Hunderter zu.

Ich errege einiges Aufsehen, eine alte Frau in geschmacklosem Kostüm kreischt, als ich 30.000 Francs, den Höchsteinsatz, auf die Zahlen Vier bis Sechs lege, warum ich diese Zahlen wähle, weiß ich nicht, ich verbinde nichts mit ihnen, sie sagen mir nichts. Dem fetten Gelben fallen fast die Augen aus dem Kopf, er läuft rot an, die junge Frau, die an seiner Schulter hing, lässt ihn los. Der Croupier, ebenfalls etwas irritiert, wirft die Kugel, Fignon schreit entsetzt, das könne ich nicht machen, was sei denn in mich gefahren. »Ich bitte Sie, zumindest eine Drittelchance müssen Sie wahrnehmen bei diesem Einsatz, mein Freund!« Das alles ist sogar Fignon, dem Verrückten, zu viel. Er macht Anstalten, die Chips zu verrücken, schaut mich an wie ein Hund, der seinen Herrn vor einer Dummheit bewahren will. Ich tue ihm den Gefallen, schiebe meinen Einsatz in das Drittel der Zahlen Eins bis Zwölf, kurz bevor der Croupier »Rien ne va plus« verkündet und die Kugel langsam ausrollt.

Ich schaue gar nicht hin, es interessiert mich nicht, wie die Zahl lautet, es interessiert mich wirklich nicht (und diese Erkenntnis versetzt mir einen Magenstoß, ich spüre Brechreiz für einen Moment), dann grölt Fignon, der fette Gelbe sitzt zerschlagen auf seinem Stuhl (obwohl er einige Hundert Francs gewonnen hat), ein erregtes Raunen geht um den ganzen Tisch, von anderen Tischen kommen Neugierige. Die junge Frau an der Schulter des...

Erscheint lt. Verlag 7.9.2023
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Cap Ferret • Debüt • Jan Costin Wagner • Kriminal-Roman • Psychogramm • Südfrankreich • Südfrankreich-Krimi • Täter-Perspektive
ISBN-10 3-462-31088-7 / 3462310887
ISBN-13 978-3-462-31088-7 / 9783462310887
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