Eismond (eBook)

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2023 | 1. Auflage
320 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31087-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Eismond -  Jan Costin Wagner
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Ein psychologischer Kriminalroman der besonderen Art: über Trauer, Verlust und die Abgründe der menschlichen Psyche. Sanaa ist tot, eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Ihr Mann, Kommissar Kimmo Joentaa, weiß, dass seine junge Frau gerade an Krebs gestorben ist, aber er kann es nicht begreifen. Wie in Trance versucht er, sein Leben in der finnischen Stadt Turku weiterzuführen, als sei nichts gewesen. Doch dann erreicht ihn die Nachricht, dass eine Frau schlafend in ihrem Bett erstickt wurde. Als Joentaa den Tatort betritt, glaubt er Sanaa vor sich zu sehen - eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Die Tote wird nicht das einzige Opfer bleiben. Alle werden im Schlaf erstickt, von einem Mörder, der durch Wände zu gehen scheint. Jan Costin Wagners »Eismond« ist ein psychologischer Kriminalroman der besonderen Art: tiefsinnig, von einem geradezu hypnotischen Sog und getragen von einer melancholischen Grundstimmung. Ein fesselnder Auftakt zur Krimireihe um Kommissar Kimmo Joentaa, der den Leser tief in die Abgründe der menschlichen Psyche blicken lässt.

Jan Costin Wagner, Jahrgang 1972, lebt als Schriftsteller und Musiker bei Frankfurt am Main. Seine Romane um den finnischen Ermittler Kimmo Joentaa wurden von der Presse gefeiert, vielfach ausgezeichnet (u. a. Deutscher Krimipreis, Nominierung zum Los Angeles Times Book Prize) und in 14 Sprachen übersetzt. Tage des letzten Schnees und Das Licht in einem dunklen Haus wurden 2019 und 2022 vom ZDF u.a. mit Henry Hübchen und Bjarne Mädel verfilmt. Sommer bei Nacht erhielt den Radio Bremen Krimipreis, Am roten Strand ist nominiert für den Glauser-Preis für den besten deutschsprachigen Krimi. 

Jan Costin Wagner, Jahrgang 1972, lebt als Schriftsteller und Musiker bei Frankfurt am Main. Seine Romane um den finnischen Ermittler Kimmo Joentaa wurden von der Presse gefeiert, vielfach ausgezeichnet (u. a. Deutscher Krimipreis, Nominierung zum Los Angeles Times Book Prize) und in 14 Sprachen übersetzt. Tage des letzten Schnees und Das Licht in einem dunklen Haus wurden 2019 und 2022 vom ZDF u.a. mit Henry Hübchen und Bjarne Mädel verfilmt. Sommer bei Nacht erhielt den Radio Bremen Krimipreis, Am roten Strand ist nominiert für den Glauser-Preis für den besten deutschsprachigen Krimi. 

3


Kimmo Joentaa lag auf dem Steg. Er streckte seine Arme und Beine weit aus und versuchte, sich nicht zu bewegen, nichts zu tun und nichts zu sein.

Irgendwann setzte die Dämmerung ein, er beobachtete sie, zum ersten Mal in seinem Leben, das Wechselspiel der Farben. Schwarz wurde Grau und Grau Hellgrau, Dunkelblau, Blassblau. Es wurde schnell heller, nahtlos, er verpasste den Übergang, obwohl er sich zwanghaft auf den Moment konzentrierte, in dem die Schwelle zwischen Hell und Dunkel überschritten würde.

Der Morgen war kalt und klar.

Als das Schauspiel vorüber war, dachte er daran, wie gerne Sanna jetzt neben ihm gelegen hätte. Auf dem Nachbargrundstück rechts von ihm stiegen Kinder in ein rotes Ruderboot und paddelten auf den See hinaus. Er sah ihnen nach. Das Bild verschwamm vor seinen Augen, die begeisterten Rufe entfernten sich.

Er schloss die Augen und sah ein graues Ruderboot auf grauem Wasser, in dem Sanna saß und lachte. Er versuchte, das Boot rot und das Wasser blau zu sehen, aber es ging nicht. Je mehr er sich bemühte, desto blasser wurde das Bild. Nach einer Weile verschwand es ganz, und er schlief ein, gerade als er dachte, dass er nie mehr würde schlafen können.

Er schlief unruhig, immer nah an der Oberfläche, und erwachte von etwas Kaltem auf seinem Gesicht. Er richtete sich ruckartig auf und schrie unkontrolliert. Die drei Jungen im roten Ruderboot saßen neben ihm und sahen ihn mit großen Augen an. Ob alles in Ordnung sei, fragte einer von ihnen. Joentaa nickte und entschuldigte sich.

»Ich war wohl eingeschlafen«, sagte er.

»Wir dachten, dass vielleicht etwas nicht stimmt«, sagte Roope, der Sohn der jungen Frau, die im Nebenhaus wohnte. »Sie lagen … irgendwie komisch.«

»Alles in Ordnung«, sagte Joentaa und stand auf. »Trotzdem danke, dass ihr nach mir gesehen habt.« Er zog seine Jacke aus, die verstaubt und faltig war. »Habt ihr Ferien?«, fragte er, um irgendetwas zu sagen.

»Noch zwei Wochen«, antwortete einer.

Joentaa nickte, wandte sich ab und ging die Anhöhe hinauf zu seinem Wagen. Der Schlüssel steckte in der Zündung. Er zog ihn heraus und stolperte über die drei Stufen zur Haustür. Während er aufschloss, registrierte er, dass es sehr heiß geworden war. Er hatte offensichtlich eine ganze Weile geschlafen. In der Küche sah er auf die Uhr. Es war Viertel nach elf. In der Spüle lagen Teller, auf denen sich Schimmel gebildet hatte, weil er die vergangene Woche fast ausschließlich im Krankenhaus verbracht hatte. Er war nur nach Hause gefahren, um Kleider zu wechseln.

Einmal hatte Sanna ihn gebeten, alte Fotos zu holen. Bilder aus Lahti, wo sie sich vor sechs Jahren kennengelernt hatten, in einem eiskalten Winter, beide Zuschauer eines Langlaufrennens. Er hatte sich kaum wiedererkannt auf den Bildern, und sie hatte gelacht, als er sich über seine Frisur aufgeregt hatte, schulterlange Haare, blaue Zipfelmütze. Er sehe lächerlich aus, hatte er gesagt, und sie hatte erwidert, seine Haare hätten ihr damals besonders gut gefallen: »Wer weiß, ob ich dich ohne diese Haare und vor allem ohne die Mütze genommen hätte.«

Er erinnerte sich an ihr Lächeln und daran, dass sie fest seine Hand gedrückt hatte. Am Tag darauf hatte sie zu fantasieren begonnen und immer häufiger gefragt, wer er sei und wo sie sich befinde.

Er füllte das Spülbecken mit heißem Wasser, ließ die Teller hineinsinken und begann, alle Fenster im Haus zu öffnen. Auf dem Glastisch im Wohnzimmer lag die Modezeitschrift, die Sanna zuletzt gelesen hatte, im Schlafzimmer war das Bett nicht gemacht. Die Decken lagen halb auf dem Boden.

Er erinnerte sich an die Nacht, in der sie ihn geweckt und gesagt hatte, sie müsse jetzt wohl doch ins Krankenhaus, weil sie unerträgliche Schmerzen habe. Er hatte ihr angesehen, dass sie weinen wollte. Sie hatte nicht geweint, sondern mühsam gelächelt, und er hatte plötzlich ganz sicher gewusst, dass sie bald sterben würde, dass die Ärzte recht hatten und dass es keine Hoffnung mehr gab. Auf der Fahrt zum Krankenhaus hatte sie still neben ihm gesessen und die Schmerzen verschluckt.

Er hatte das Gefühl gehabt, in vollkommene Leere hineinzufahren.

Er öffnete im Wohnzimmer die Terrassentüren, setzte sich auf die Lehne des Sofas und dachte, dass diese Leere jetzt wirklich da war, eine umfassende, endgültige Leere. Er blieb eine Weile sitzen, dann ging er in die Küche und füllte ein Glas mit Wasser. Als er es zum Mund führen wollte, bemerkte er, dass seine Hände zitterten. Er stellte das Glas ab, legte seine Hände flach auf die Tischfläche und spannte die Muskeln und Sehnen an, um das Zittern zu kontrollieren.

Durch das Küchenfenster sah er Pasi und Liisa Laaksonen, ein älteres Ehepaar, das im Nachbarhaus wohnte. Die beiden gingen wie jeden Tag um diese Zeit hinunter an den See. Pasi trug seine Angel über der Schulter, Liisa den hellbraunen Korb für die Fische, die ihr Gatte immer verblüffend mühelos aus dem Wasser zog. Die beiden sahen ihn hinter dem Fenster stehen und winkten. Er reagierte nicht.

Er senkte den Blick und beobachtete die explodierenden Perlen im Wasserglas. In seinem Magen breitete sich langsam ein taubes Gefühl aus, das weiterwanderte, bis sein ganzer Körper wie betäubt war.

Nach einer Weile ging er ins Wohnzimmer zum Telefon und wählte die Nummer von Merja und Jussi Sihvonen, Sannas Eltern. Er brach den Wählvorgang bei der letzten Ziffer ab, legte den Hörer auf die Gabel und atmete durch.

Sannas Eltern waren noch am Tag vor ihrem Tod bei ihr gewesen und hatten angekündigt, am kommenden Wochenende wiederzukommen. Er erinnerte sich an den liebevollen, müden Blick, mit dem Merja ihre Tochter betrachtet hatte, und an die hilflosen Aufmunterungsversuche ihres Vaters. Sannas Eltern wohnten in der Nähe von Helsinki, rund zwei Autostunden entfernt von Turku. Kimmo Joentaa hatte anfänglich nicht begriffen, dass sich die beiden in der vergangenen Woche keinen Urlaub genommen hatten, um dauerhaft bei ihrer Tochter sein zu können. Erst allmählich war ihm klar geworden, dass sie entweder nicht verstanden oder nicht verstehen wollten, wie schlimm es um Sanna stand.

Insbesondere Jussi Sihvonen hatte sich von Anfang an dagegen gesperrt, ihre Krankheit als Tatsache anzuerkennen. Er hatte zunächst beharrlich von einer Fehldiagnose gesprochen, erst die Ärzte und dann das ganze Gesundheitswesen kritisiert. Es sei undenkbar, dass Sanna die Hodgkinsche Krankheit habe, es sei eine statistische Unmöglichkeit. Diese Krankheit bekämen nur Männer, er habe sich erkundigt. Später, als sich Sannas Zustand verschlechterte, als die Chemotherapie die Krankheit sichtbar machte, hatte er ständig versucht, gute Laune zu erzwingen, während Merja Sannas Hand gehalten, ihr gut zugeredet und lethargisch gelächelt hatte. Joentaa hatte sich einige Male über Sannas Vater geärgert, aber wenn er jetzt an Merja und Jussi dachte, an ihr Entsetzen und ihre hilflosen Bemühungen, die Katastrophe zu bewältigen, spürte er nur tiefe Traurigkeit.

Er hielt kurz inne, dann wählte er erneut. Sein Magen krampfte sich zusammen, als er Merjas erschöpfte, heisere Stimme am anderen Ende der Leitung hörte.

»Hier spricht Kimmo«, sagte er.

»Kimmo, schön, dass du dich meldest. Wie geht es Sanna?«, sagte sie leise.

»Merja … es ist vorbei … sie ist eingeschlafen, gestern Nacht.« Er wollte den Satz ruhig und deutlich aussprechen, aber auf halbem Weg brach seine Stimme. Einige Sekunden vergingen. Merja entgegnete nichts, und in seinen Gedanken hallten die Worte nach, die er eben gesprochen hatte.

»Sie hat keine Schmerzen gehabt«, sagte er, als sich die Pause in die Länge zog.

»Aber wir wollten doch am Wochenende zu euch kommen, du weißt doch, dass wir das wollten«, rief Merja, und während Kimmo nach beruhigenden, tröstenden Worten suchte, begann sie, zu schreien und zu weinen. Joentaa hörte Jussis Stimme, erst leise, dann direkt in der Leitung.

»Was ist los, Kimmo?«, fragte er hektisch, und Joentaa wiederholte, was er Merja gesagt hatte. Wieder brach seine Stimme, und wieder hallte der unwirklich wirkende Satz wellenartig in seinen Gedanken nach. Jussi schwieg, aber Joentaa hatte den Eindruck, sein Entsetzen über die Distanz hinweg zu spüren.

Im Hintergrund weinte Sannas Mutter in hektischen Stößen. »Du musst dich jetzt um Merja kümmern«, sagte Joentaa, aber Jussi schwieg noch immer.

»Gestern Nacht …«, sagte er nach einer Weile sehr langsam. »Gestern Nacht, hast du gesagt …«

»Gestern Nacht um kurz nach drei«, entgegnete Joentaa.

»Das ist eine schlimme Nachricht …«, sagte Jussi mehr zu sich selbst als zu ihm. »Eine sehr schlimme Nachricht …«

»Du solltest dich jetzt um Merja kümmern«, sagte Joentaa noch einmal. »Ich werde mich am Abend wieder melden.«

»Tu das, Kimmo«, sagte Jussi Sihvonen, aber Joentaa hatte noch immer den Eindruck, dass er gar nicht aufnahm, was er ihm sagte, weil er nicht zu begreifen schien, was passiert war.

»Bis nachher,...

Erscheint lt. Verlag 7.9.2023
Reihe/Serie Ein Kimmo-Joentaa-Roman
Ein Kimmo-Joentaa-Roman
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte düstere Spannung • Ermittler Kimmo Joentaa • finnische Literatur • Finnland • Finnland-Krimi • Jan Costin Wagner • Jan Costin Wagner Bücher • Kimmo Joentaa • Kommissar Kimmo Joentaa • Kriminalroman • Krimireihe • Melancholie • moderne Krimis • Nordic Noir • nordische Kriminalromane • Nordische Spannung • Psychologischer Krimi • skandinavische Krimireihe • Trauer • Trauer und Verlust • Turku • Verlust Partner • Verlust und Trauer
ISBN-10 3-462-31087-9 / 3462310879
ISBN-13 978-3-462-31087-0 / 9783462310870
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