Julia war vor Schreck stehengeblieben, und ihre Füße begannen schon wieder langsam im naßkalten Moor zu versinken. Doch dann sah Julia das schreckliche Wesen. Augenblicklich war die Gefahr, die vom Moor ausging, vergessen. Denn vor ihr lauerte etwas weitaus Gefährlicheres. Ein grauer Werwolf! In geduckter Haltung löste er sich aus dem Dunkel des Gebüsches, wo er sich verborgen gehalten hatte. Den mächtigen Schädel hatte er lauernd und witternd gesenkt. Die rotglühenden Augen funkelten unheimlich.
Verzweifelt kämpfte die junge Frau gegen die drohende Lähmung an. Ihre Angst war so übermächtig, daß sie unfähig war, auch nur einen Schritt zurückzuweichen. Das schreckliche Wolfswesen kam unaufhaltsam näher. Schon war es nur noch einige Schritte von Julia entfernt. Sie konnte die Pfoten des Tieres ganz deutlich sehen.
Die blitzenden Krallen, die im Mondlicht wie Dolche glänzten…
Ihre fürchterlichen Augen glühten in der Dunkelheit. Das grauweiße Fell dampfte vor Schweiß. Julia glaubte, ihren hechelnden Atem zu hören, ihre Pfoten, die sich sachte in den feuchten Untergrund drückten, während sie immer näher schlichen.
Wie angewurzelt stand Julia da. Ihre Angst vor den wolfsartigen Tieren war so groß, daß sie zu keiner Bewegung fähig war. Nur ihr Gehirn funktionierte einwandfrei, quälte sie mit entsetzlichen Gedanken und Vorstellungen. Was werden sie mit mir anstellen, wenn sie mich erreichen? dachte sie ganz unentwegt.
Die wolfsartigen Tiere kamen näher, beobachteten Julia lauernd. Langsam bildeten sie einen Kreis um die junge Frau.
Julia versuchte, den Blick von den grauenerregenden Tieren abzuwenden, aber es gelang ihr nicht. Wie hypnotisiert starrte sie die unheimlichen Wölfe an.
Dann hatte sich der Kreis um Julia geschlossen. Die Tiere setzten sich auf ihre Hinterläufe, reckten ihre Hälse und warfen den mächtigen, kantigen Kopf in den Nacken. Und dann stimmten sie ein Geheul an. Es war grauenerregend. Julia konnte sich nicht daran erinnern, je einen so beängstigenden und bedrohlichen Laut vernommen zu haben.
Sie heulen wie Wölfe, dachte Julia entsetzt, aber es sind keine Wölfe. Ihr Fell ist zotteliger, die Hälse sind kürzer und die Beine unnatürlich lang und haarlos. Es sind Werwölfe!
schoß es Julia durch den Kopf. Und sie sind gekommen, um mich zu holen!
Mit dieser schockierenden Erkenntnis erlangte Julia plötzlich ihre Bewegungsfähigkeit wieder. Sie spürte förmlich, wie das Leben in ihre Arme und Beine zurückflutete.
Julia begann zu rennen. Aber es gab keinen Ausweg aus dem Kreis der Werwölfe. Wohin Julia auch ihre Schritte lenkte,
immer stand ihr eins der grauen Tiere im Weg und starrte sie mit funkelnden roten Augen an.
Panik! Dieses Gefühl überkam Julia wie ein Fieberschauer.
Wie verrückt wirbelte sie im Kreis herum, während die schrecklichen Tiere ihren Ring erbarmungslos enger zogen.
Julia spürte, wie der Atem der Werwölfe über ihre nackte Haut strich, wie er selbst das Gewebe ihres Nachthemds durchdrang.
Und dann streckten die Tiere ihre krallenbewehrten Klauen nach ihr aus. Sie berührten ihre Fußgelenke, zogen am Saum ihres Nachthemds.
Mit weit aufgerissenen Augen und starr vor Schreck beobachtete Julia die Werwölfe. Aber dann konnte sie nicht mehr an sich halten. Sie stieß einen markerschütternden Schrei aus, der selbst das Hecheln der Tiere und ihr furchtbares Geheul noch übertönte…
Schreiend fuhr Julia aus dem Schlaf. Noch begriff sie nicht, daß alles nur ein Traum gewesen war, und schlug in ihrer Angst wild um sich. Sie wußte nicht, wo sie sich befand – bis sie plötzlich ziemlich unsanft auf dem Boden neben ihrem Bett landete! Erschrocken blickte Julia sich um und bemerkte verwundert den flauschigen Teppich, mit dem ihr Schlafzimmer ausgelegt war. Langsam kam sie zu sich. Ein Alptraum! Es war nur ein Alptraum, dachte sie erleichtert.
Aber die Erleichterung hielt nicht lange an. Sie wußte, daß es mehr als nur ein gewöhnlicher Alptraum gewesen war. Immer wieder durchlebte sie diese Hölle. Und wie jedesmal, nachdem Julia aus einem Werwolftraum erwacht war, fragte sie sich, wie weit sie noch vom Wahnsinn entfernt war.
Julia schüttelte die trüben Gedanken ab und befreite sich aus der Bettdecke. Es hatte keinen Sinn, sich unnötig zu beunruhigen. Sie mußte lernen, mit diesen Träumen zu leben, das jedenfalls hatte Joe Villach, ihr Therapeut, ihr geraten.
Bei dem Gedanken an den jungen Joe Villach verflog ein Großteil der Angst, die sie aus dem Alptraum mit in die Wirklichkeit hinübergenommen hatte. Julia schaute sich in ihrem Zimmer um. Die vertraute Umgebung übte eine beruhigende Wirkung auf sie aus. Die weißen Seidenvorhänge vor dem geöffneten Fenster bauschten sich im kühlen Wind.
Ein heller Schimmer, der durch den Stoff drang, verriet Julia, daß der Morgen bereits angebrochen war. Der Lärm der Straße drang gedämpft zu ihr herauf.
Julia trat an das Fenster und öffnete den Vorhang einen Spaltbreit. Sie wohnte im fünfzehnten Stock eines Wohnhauses. Von hier bot sich ihr ein herrlicher Ausblick auf das Häusermeer von New York. Auf den Straßen herrschte die übliche Betriebsamkeit. Menschen hasteten zu den U-Bahn-Schächten oder überquerten in großen Gruppen die Kreuzungen. Die allmorgendliche Blechlawine aus gelben Taxis und großen Limousinen schob sich durch die Straßen.
Julia atmete tief durch. Die Wirklichkeit hatte sie wieder!
Doch dann begann sie zu frösteln. Der kalte Wind, der durch die Fensteröffnung drang, ließ sie erzittern. Sie trat vom Fenster zurück und streifte ihr schweißdurchtränktes Nachthemd ab. Dann ging sie ins Badezimmer. Auch für sie würde heute ein normaler Tag beginnen. Und sie war froh darüber. Denn der Alltag würde ihr dabei helfen, die Schrecken der Nacht zu vergessen.
Kurz betrachtete sie sich im Spiegel. Sie fand, daß sie fürchterlich aussah. Das lange rotbraune Haar hing ihr in Strähnen vom Kopf herab. Ihr Gesicht war so blaß, als habe sie gerade ein Gespenst gesehen, und unter ihren Augen lagen tiefe Schatten.
Julia versuchte ein Lächeln, was ihr aber kläglich mißlang.
Sie mußte wohl ein wenig Geduld haben und ganz einfach abwarten, bis sich ihre Laune besserte.
Viele ihrer Kolleginnen behaupteten, daß man ihr ihre irische Abstammung deutlich ansah. Aber Julia fand, daß es unsinnig war, aufgrund der äußeren Erscheinung eines Menschen auf seine Abstammung schließen zu wollen. Trotzdem fühlte sie sich jedesmal geschmeichelt, wenn jemand ihr sagte, sie würde aussehen wie eine typische Irin, denn Julia Kildare liebte ihre Heimat, die sie bisher nur von den wenigen Reisen kannte, die ihre Eltern vor langer Zeit mit ihr unternommen hatten.
Julia begab sich unter die Dusche, und während sie das heiße Wasser über ihren Körper rieseln ließ, faßte sie einen Entschluß. Sie würde sich heute einen Termin bei Joe Villach, ihrem Therapeuten, geben lassen. Er hatte sie darum gebeten, ihn gleich darüber in Kenntnis zu setzen, wenn der Werwolftraum sie wieder heimsuchte.
Nachdem Julia sich für den Tag frisch gemacht hatte, bereitete sie sich ein Frühstück zu. Kurz dachte sie darüber nach, wie schön es jetzt gewesen wäre, einen geliebten Menschen an ihrer Seite zu haben. Einen Menschen, dem sie vertrauen konnte, mit dem sie die Freuden und Leiden des Lebens teilen konnte.
Aber bisher war Julia solch ein Mensch noch nicht begegnet.
Unwillkürlich mußte sie an Joe Villach denken. Er war so ein Mensch, dem sie vertrauen konnte. Aber ob sie ihn liebte, wußte sie nicht so genau. Er war ihr Therapeut. Sie bezahlte ihn dafür, daß er ihr zuhörte und gute Ratschläge erteilte. Und es war nicht gerade wenig, was er verlangte.
Julia seufzte auf. Sie war froh, daß es Menschen wie Joe Villach gab. Schließlich zog sie das drahtlose Telefon zu sich heran und rief die Praxis von Joe Villach an. Nach kurzer Zeit wurde der Hörer abgenommen. Villachs Sekretärin war am Apparat. Julia ließ sich einen Termin für den Abend geben.
Dann legte sie wieder auf und widmete sich ihrem Frühstück.
Die Aussicht, sich bald alles, was sie bedrückte, von der Seele reden zu können, beruhigte sie.
*
Die Anwaltskanzlei, in der Julia Kildare als Sekretärin arbeitete, befand sich in einem Hochhaus in der Lexington Avenne. Die McRowland-Kanzlei war eine angesehene Institution mit vielen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Die Bezahlung war gut und das Arbeitsklima hervorragend. Aber dies war für Julia nicht ausschlaggebend gewesen, als sie sich vor drei Jahren für diesen Job beworben hatte. Am wichtigsten war ihr, daß sie auf dem Weg zur Kanzlei nicht den Central Park durchqueren oder auch nur an ihm vorbeifahren mußte.
Denn dieser Park inmitten von Manhattan hatte für Julia eine diabolische Ausstrahlung. Schon wenn sie nur die hohe Mauer sah, die den Park von der Straße trennte, bekam sie ein merkwürdiges Gefühl im Magen. Angst schnürte ihr...