MERKUR 8/2023 (eBook)
104 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12175-9 (ISBN)
Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010). Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.
Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010). Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.
Beiträge
DOI 10.21706/mr-77-8-5
Philip Manow
Der Geist der Gesetze
Contested concepts
1956 veröffentlichte der Philosoph Walter B. Gallie den vieldiskutierten und bis heute immer wieder zitierten Aufsatz Essentially Contested Concepts.1 Die darin entwickelte Kernthese besagt, dass bestimmte notorisch umstrittene Großbegriffe – als Beispiele dienen »Kunst«, »Demokratie« und »soziale Gerechtigkeit« – zwangsläufig auf ewig umstritten bleiben werden. Nach Gallie ist das kein Zufall, sondern hat mit wesentlichen Eigenschaften dieser Begriffe zu tun, etwa mit hoher Komplexität, einem engen Wertebezug oder auch historischer Offenheit. Die Hoffnung, irgendwann einmal, wenn man nur lange und systematisch genug nachgedacht und miteinander geredet hat, zu einer konsensuellen Klärung ihrer Bedeutungsgehalte zu kommen, muss folglich illusorisch bleiben.
Liest man den Aufsatz vor dem Hintergrund der aktuellen Krisenliteratur erneut, muss eigentlich überraschen, dass Gallie bei der Aufzählung der Gründe, weshalb umstritten bleiben wird, was die Demokratie ihrem Wesen nach ausmacht, den vielleicht wichtigsten gar nicht anführt: nämlich political contestation, das heißt contestation for power. Ist doch schnell einsichtig, dass unterschiedlichen Sprecherpositionen unterschiedliche Vorstellungen von Demokratie plausibel werden. Die Mehrheit interpretiert – Überraschung – Demokratie eher majoritär. Die Minderheit betont hingegen checks and balances, den Schutz von Minderheiten und die Gefahr einer Tyrannei der – Überraschung – Mehrheit.2 Die Mehrheit möchte durchregieren, die Minderheit möchte das Durchregieren der Mehrheit verhindern.
Die einen sagen Demokratie und meinen Volkssouveränität, die anderen sagen Demokratie und meinen Gewaltenteilung. Seit einiger Zeit behaupten die, die Gewaltenteilung sagen, darüber hinaus auch, dass Volkssouveränität alleine ja noch keine wirkliche Demokratie ausmache – sondern, ganz im Gegenteil, von ihr eigentlich eine besondere Gefährdung der Demokratie ausgehe. Die vorherrschende Diagnose ist heute eine der elektoralen Selbstgefährdung der Demokratie: »While liberal democracy in the early 1990s may have appeared a climax, if not the end of history, it is now widely perceived as being in the grip of a crisis from within. It is through elections, the process most closely associated with the democratic system, that the danger most often arises.«3 Demokratien sterben, aber sie werden nicht getötet, sondern begehen Selbstmord – so die dominante Deutung unserer gegenwärtigen Lage: »democratic backsliding today begins at the ballot box«.4
Will man den suicide of democracy verhindern, ist es so gesehen geboten, sie vor sich selbst zu schützen. Die Demokratie, heißt es daher, ließe sich vor allem durch die Abschwächung ihrer elektoralen Elemente retten – entweder durch die Einschränkung des Wahlrechts5 oder durch die Abwertung von Wahlen und die Aufwertung deliberativer Elemente – oder durch den Schutz, den nichtdemokratische Institutionen der Demokratie gegenüber dem Demos angeblich gewähren würden. Colin Crouch blickt nach über zwanzig Jahren zurück auf seine Diagnose der Postdemokratie: »Another lesson, which I had not appreciated when I wrote my 2001 book, is the importance of those institutions of the state, which are themselves not democratic, but which protect us from abuse of democracy by leaders claiming that the fact of their election entitles them to act as they please: law courts, independent central banks, independent information and statistical services, various audit and surveillance agencies.«6
Für einen sich selbst als dezidiert links verstehenden public intellectual liegt jetzt also der Schlüssel zur Rettung der Demokratie dort, wo sich seit den 1980er Jahren die Lieblingsfeinde der Linken organisierten: in der unabhängigen Zentralbank. Selbst das bekannte Demokratiedefizit der Europäischen Union wird so unter der Hand zum demokratischen Vorteil. Das Motto der Gegenwart scheint zu lauten: Weniger (elektorale) Demokratie wagen – vielleicht ja nur ein wenig weniger.7
Sind das nur Reflexe einer Demophobie, wie sie Gertrude Lübbe-Wolff jüngst beschrieben hat?8 Beruhen sie auf einer strukturellen Veränderung des demokratischen Arrangements von Mehrheitsbildung und konstitutionellen restraints? Oder hängen sie vor allem mit einer veränderten diskursiven Beschreibung von Demokratie, mit der Sprecherposition der Demokratietheorie zusammen? Die Frage stellt sich, weil die Argumente für starke institutionelle Beschränkungen des Mehrheitswillens normativ recht unbedarft erscheinen.9 Worauf gründet sich eigentlich die Vorstellung, man müsse das Majoritäre nur mit allerlei nonmajoritären Institutionen um- und zustellen, dann würden sich Interessenausgleich, Gerechtigkeit und Stabilität schon von selbst ergeben? Genau das, was Crouch emphatisch begrüßt, sehen ja viele als Ursache für den populistischen Protest, als Protest gegen die Aushöhlung der Demokratie, gegen die »Euthanasie der Politik« durch die Herausnahme aller möglichen Entscheidungsbereiche aus der Politik und ihre Überantwortung an nichtdemokratische Institutionen.10 Die Politik stirbt den guten, schönen Tod, sie stirbt am Guten und Schönen, für das man auch gar nicht mehr Mehrheiten mobilisieren muss, wenn man es auch einfach einklagen kann. Aber dass jeder ein Interesse hat, seine spezifische Vorstellung von Demokratie zu der Vorstellung von Demokratie zu machen, ist ja gerade der zentrale Grund für die prinzipielle Umstrittenheit des Konzepts.
Tatsächlich erscheinen die einschlägigen Debattenbeiträge geprägt von einer ermüdenden politischen Vorhersehbarkeit bei gleichzeitig überraschend hoher Bereitschaft zur argumentativen Inkonsistenz: Exemplarisch dafür ist die Wahrnehmung der Rolle von Verfassungsgerichten. Aus einer politisch progressiven Position heraus befürwortet man Roosevelts berühmte Drohung gegenüber einem marktliberalen Anti-New-Deal Supreme Court, applaudiert Roe vs. Wade, auf welch fragwürdige Art und Weise das Gericht – gerade im Vergleich mit dem epochemachenden Urteil der Bürgerrechtsära Brown v. Board of Education – auch immer seine Entscheidung damals begründet haben mag. Dann aber entdeckt man die demokratietheoretische Problematik weitreichender richterlicher Normenkontrolle just, sobald konservative Richter die Mehrheit im Höchsten Gericht stellen. Oder: »Israel’s Mapai (Labor) Party and its mainly secular Ashkenazi establishment constituencies opposed judicial review for decades but embraced constitutional supremacy once the country’s electoral balance shifted against it.«11
Solange die Arbeiterpartei die Geschicke des Landes exklusiv bestimmen konnte, behandelte sie die Frage nach einer Verfassung dilatorisch. Angesichts des Aufstiegs von Likud entdeckte sie dann, wie unerlässlich in einer Demokratie doch eigentlich eine verfassungsrechtliche Einhegung des Mehrheitswillens ist. Was heute, im Kontext der notorischen israelischen Justizreform, zu der bemerkenswerten Pointe führt, dass Netanjahus rechts-religiöse Koalition mit der einfachen Mehrheit von 61 Stimmen in der Hundertzwanzig-Sitze Knesset ein neues Grundgesetzkapitel verabschiedet hat, das erlaubt, Beschlüsse des Supreme Court mit einfacher parlamentarischer Mehrheit zu überstimmen, und der Supreme Court daraufhin ankündigt, dieses neue Grundgesetzkapitel auf der Basis eines in den 1990er Jahren mit einfacher Mehrheit verabschiedeten anderen Grundgesetzkapitels für verfassungswidrig erklären zu wollen.12
Hinter dem Skandal der Möglichkeit zum parlamentarischen override eines Verfassungsgerichtsurteils – der in anderer Form in Kanada seit einiger Zeit in Form der Nonwithstanding Clause in der Canadian Charter of Rights and Freedoms nichtskandalös geltendes Verfassungsrecht ist – steht aber in Israel nichts anderes als die historische Weigerung der israelischen Arbeiterpartei, so etwas wie eine Verfassung anders als...
Erscheint lt. Verlag | 25.7.2023 |
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Reihe/Serie | MERKUR | MERKUR |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | Debatte • Essay • Essayistik • Essays • Geschichte • Gesellschaft • Kunst • Literatur • Philosophie • Politik |
ISBN-10 | 3-608-12175-7 / 3608121757 |
ISBN-13 | 978-3-608-12175-9 / 9783608121759 |
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Größe: 1,4 MB
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