Das Porzellanhaus (eBook)
480 Seiten
Festa Verlag
978-3-98676-082-3 (ISBN)
Die Engländerin Laura Purcell ist fasziniert von der finsteren Seite der königlichen Geschichte. Ihre unheimlichen, historischen Romane haben ihr schnell viele Fans beschert und den Ruf eingebracht, die »neue Königin der Gothic-Thriller« zu sein. Laura lebt mit ihrem Mann und ihren Meerschweinchen in Colchester, der ältesten bekannten Stadt Englands. Sie arbeitete in der Kommunalverwaltung, in der Finanzbranche und in einer Buchhandlung, bevor sie Vollzeitautorin wurde. https://www.laurapurcell.com/
1
Die Liebe ist fragil, sagte meine Mutter einmal. Sie kann zerbrechen.
Für manche Menschen mag das wahr sein, aber nicht für mich. Meine Liebe ist etwas, das Besitz ergreift. Eine Ranke, von der ich mich nicht befreien kann und die mich hinunter in die Tiefe zieht.
Sie schleppt mich bis nach Cornwall, in eine Grafschaft, in die ich nie zuvor einen Fuß gesetzt habe. Hätte ich diesen kalten Nebel gespürt, hätte ich es mir vielleicht noch einmal überlegt, ob ich mich auf die Anzeige als Krankenschwester und Kammerzofe bewerben soll.
Aber habe ich wirklich eine Wahl? Ich kann nie mehr nach London zurückkehren. Ich muss die Postkutsche nach Irgendwo nehmen, und es scheint angemessen, ans Ende des Landes zu flüchten, an einen Ort, der am Rande der Landkarte liegt.
Es ist der bitterste Winter, solange ich mich erinnern kann. Selbst für Schnee ist es zu kalt. Eine in weißer Unschuld gewaschene Welt soll mir Trost spenden, aber nein – das hier ist die Jahreszeit von Schneeregen und metallblauem Himmel. Alles ist grau und kalt. Wie im Eiskeller, wie in meinem Herzen.
Gefrorene Äste kratzen wie mit Fingern über das Dach, während wir mit schlitternden Rädern über die Straße rasen. Nicht einmal der saure Atem und der Körpergeruch meiner Mitreisenden erwärmen die Luft in der Kutsche. Eine ältere Frau, die nach Nachttopf riecht, drückt sich dicht an mich; mir gegenüber spreizt ein brutales Ungetüm von Mann die Beine. Offiziell bietet die Postkutsche innen Platz für vier Fahrgäste, doch dieser Fahrer hat sechs von uns hineingezwängt. Meine Arme sind an die Seiten geklemmt, ohne Gefühl. Dabei sind wir die Glückspilze, die drinnen sitzen und nicht auf dem Dach.
Die Fenster klappern ununterbrochen in ihren Rahmen; der Schneeregen prasselt unaufhörlich. Schatten kriechen über die Gesichter der Fahrgäste mir gegenüber, breiten sich wie Flecken aus. Nur ihre Augen bleiben hell und glänzen hin und wieder mit einer nagetierhaften Hinterlist.
Es scheint eine Ewigkeit her zu sein, dass wir die armen Pferde das letzte Mal gefüttert haben. Meine trockenen Lippen beginnen zu zucken. Den ganzen Tag bin ich schon unterwegs ohne jegliche Linderung.
Gekleidet wie ich bin, in ihren ausrangierten Sachen, mache ich einen seriösen Eindruck. Es wäre unpassend, jetzt mein Taschenfläschchen hervorzuholen und die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Das wäre unschicklich. Rücksichtslos. Und dennoch …
Meine Lippen sind sehr trocken.
Ich könnte es wagen.
Ich muss es wagen.
Gegen meine Begleiter ankämpfend, manövriere ich meinen am Handgelenk hängenden Pompadour auf den Schoß meines Kleides. Das Zinnfläschchen darin schlägt gegen meinen Oberschenkel. Mit geübten Händen richte ich den Hals zur Kordelöffnung meines Pompadours aus und ziehe den Pfropfen heraus. Die anderen Reisenden werden zwar sehen, wie ich die Tasche zum Mund führe, aber nicht, was sie enthält.
Nur einen Schluck – schnell und flüchtig wie die Berührung der Lippen eines Liebhabers. Das genügt. Als Arznei.
Ich senke den Pompadour, füge den Pfropfen wieder ein. Niemand bemerkt es.
Aber auch ohne ihre Blicke spüre ich einen Anflug von Scham. Ein inneres Bewusstsein, dass ich mich in letzter Zeit etwas zu sehr auf Spirituosen verlassen habe. Aber Alkohol reinigt Wunden, nicht wahr?
Wasser rinnt über die Scheiben. Trüber Nebel kriecht durch die Ritzen der Türen, ein ungebetener Gast. Im Moment scheint mir, dass dies die Hölle sein muss: keine Feuergrube, sondern auslaugende Kälte und die Sehnsucht nach Ruhe, die nie gewährt wird. Das tote Fleisch, die Marmorstatuen, die über den Gräbern stehen: Beide sind kalt.
Endlich ertönt der Ruf vom Dach: »New London Inn, Exeter!«
Unser Ziel, doch das wilde Tempo wird nicht gedrosselt. Stattdessen ertönt ein schreckliches, hohes Kreischen.
Mit einem Mal dreht sich die Kutsche. Wir werden gegeneinander geschleudert. Die alte Frau neben mir schreit. Zum ersten Mal bin ich froh, zwischen ihr und dem großen Mann eingezwängt zu sein. Ihre Masse hält mich an meinem Platz.
Andere haben weniger Glück.
Als wir ruckartig zum Stehen kommen, höre ich ein Knacken, spüre ein Kribbeln in meinen Backenzähnen. Die folgende Stille ist ohrenbetäubend.
Der Mann neben mir räuspert sich. »Wahrscheinlich ein Postsack«, sagt er wenig überzeugend.
Ich weiß, dass es das nicht ist.
Schreie von draußen. Die anderen fünf Passagiere starren sich an. Nur ich lehne mich nach vorn und höre, wie der Kutscher oben auf dem Kasten flucht.
Seine Worte klingen wie eine Beschwörung und wecken etwas, das ich schon lange für tot gehalten habe.
Das alte Gefühl, gebraucht zu werden.
»Lassen Sie mich hinaus«, rufe ich. »Bewegen Sie sich! Um Himmels willen, bewegen Sie sich!«
Der grobschlächtige Mann rührt sich kaum. Ich muss über seine Beine klettern und die Tür aufreißen. Kalte Luft strömt herein und brennt mir auf den Wangen. Ich springe aus der Kutsche.
Ich lande schwer auf meinen Knien, die ich mir aufschürfe, und verfehle nur knapp einen Misthaufen. Der enge Knoten meines Pompadours reibt gegen mein Handgelenk. Obwohl es erst später Nachmittag ist, ist es auf dem Hof beängstigend dunkel. Alles riecht nach Rauch und Stroh.
Unsere Kutsche steht fast völlig verkehrt herum, mit der Hinterseite zum Hofeingang. Dicke schwarze Linien auf dem reifbedeckten Kopfsteinpflaster zeigen die Spuren, die die Räder hinterlassen haben, als sie zu schnell auf dem Eis aufschlugen. Es ist die Schuld des Kutschers, der nicht rechtzeitig die Ketten anlegte. Die Kutschenlampen beleuchten die von den Pferden aufsteigenden Dampfschwaden und weiter hinten tiefrote Blutflecken auf dem Kopfsteinpflaster.
»Ein Wundarzt!«, ruft jemand.
Wie ich vermutet habe, ist ein Passagier vom Dach gestürzt.
Er kommt wieder zu Bewusstsein. Die Augenlider zucken und die Lippen spucken ihren Schmerz aus. Doch niemand nähert sich ihm. Ein paar Stallburschen stehen im Halbkreis und betrachten ihn, als wäre er ansteckend.
Ich sollte es ihnen gleichtun. Es dabei belassen, bis ein Wundarzt eintrifft, um dem Verletzten zu helfen. Aber ich habe mit meinem Vorsatz, mich unauffällig zu verhalten, bereits gebrochen, als ich aus der Kutsche sprang.
Er stößt ein herzzerreißendes Stöhnen aus, und ich weiß, dass ich nicht länger zögern kann.
Ich dränge mich an den Stallburschen vorbei und gehe neben dem Patienten in die Knie. Der Anblick ist nicht schön. Sein Kopf ist am Haaransatz aufgeplatzt und eine fleischartige, korallenrote Substanz säumt die Wunde. Wenn ich nicht eingreife, wird er mit Sicherheit sterben. Mit einer behandschuhten Hand drücke ich den Riss zu und spreche Worte des Trostes, die ich auswendig gelernt habe. Kupfernes Blut mischt sich unter den Gestank von Pferden und Holzrauch.
»Still jetzt. Ich werde Ihnen helfen.«
Er stöhnt.
Nur ein Bruch kann den Winkel seines rechten Beins erklären. Ich bete, dass es kein offener ist, denn dann würde er die Gliedmaße ganz und gar verlieren. Falls er die Amputation letztlich überlebt.
Als ich aufschaue, sehe ich, dass der Schaffner und der Kutscher abgestiegen sind. Drei der Passagiere aus dem Innenraum haben sich ebenfalls hinausgewagt, um zu gaffen, aber die Reisenden auf dem Dach sitzen wie versteinert da. Ich kann es ihnen nicht verdenken. Hätte ich diesen Mann hinabstürzen sehen, hätte ich Angst, selbst zu fallen und sein Schicksal zu teilen.
Ich erkenne den korpulenten Mann, der neben mir in der Kutsche so viel Platz einnahm.
»Sie da!«, dröhnt meine Stimme gebieterisch. »Kommen Sie her. Leihen Sie mir Ihren Stock.«
Er stolpert vorwärts, lässt seinen Gehstock mit dem Bernsteinknauf fallen und will sich zurückziehen, aber ich – vielleicht von einem unwürdigen Rachegefühl getrieben – brülle: »Jetzt die Bänder vom Gepäck. Schnur, Kordel, irgendetwas Starkes. Bringen Sie es mir. Beeilen Sie sich!«
Die beiden anderen Fahrgäste eilen ihm zu Hilfe. Ihre Gestalten bewegen sich vor dem schattigen Rumpf der Kutsche hin und her. Trotz allem spüre ich ein Hochgefühl. So lebendig habe ich mich seit vielen Wochen nicht gefühlt.
Die Muskeln in meinen Händen sind weniger erfreut; sie beginnen zu klagen. Das Blut des Patienten pulsiert unter meinen Fingern im Takt meines eigenen Herzschlags.
Ich wende mich an den Schaffner neben mir. »Sir, bitte legen Sie Ihre Hände hierhin, wo meine sind.«
Er starrt mich an, als ob ich den Verstand verloren hätte. »Sie hinlegen …?«
»Zu beiden Seiten der Wunde, und drücken Sie fest zu. Sie haben doch Kraft, nicht wahr?« Es ist eine unnötige Frage: Ich habe schon Zugpferde gesehen, die weniger Muskeln besaßen.
Sein Gesicht verzieht sich. »Wirklich, Miss, für so was werde ich nicht bezahlt.«
»Großer Gott! Was sind Sie nur für ein Mann?«, rufe ich. »Die Geschichte wird in den Herbergen die Runde machen: wie Sie es mit den Ketten vermasselten und dann eine um Hilfe schreiende Frau im Stich ließen, weil Sie kein Blut sehen können!«
Das kommt bei ihm an. Er gehorcht, wenn auch widerwillig, und beäugt mich, als wäre ich ein Hund, der ihn angreift. Ich vermute, dass er mich bis jetzt für eine Dame hielt. Das ist eine Illusion, die ich nicht länger aufrechterhalten kann.
Ich hole das Taschenfläschchen aus meinem Pompadour und schütte den Gin...
Erscheint lt. Verlag | 18.7.2023 |
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Übersetzer | Eva Brunner |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
ISBN-10 | 3-98676-082-2 / 3986760822 |
ISBN-13 | 978-3-98676-082-3 / 9783986760823 |
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Größe: 2,2 MB
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