Der tönerne Gott (eBook)
187 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-2883-3 (ISBN)
Ein kleiner Kreis junger Künstler, süchtig nach Luxus und Genuß, und im Mittelpunkt er, Heinrich Friedländer, vermögend, talentiert, als Mäzen geschätzt. Er ist ein 'Festmensch' wie alle seine Freunde, mit denen er Gelage feiert, orgiastisch und exzessiv. Gefühle sind ihm lästig, es sei denn, sie lassen sich zelebrieren, in Verse binden oder in Tönen verströmen. So wird das Leben zum Spiel, bis Heinrich durch leichtfertige Investitionen sein Vermögen verliert. Nur ein Betrugsmanöver kann ihn vor dem finanziellen Ruin retten. Die Frau, die ihn liebt, nimmt vor Gericht seine Schuld auf sich. Heinrich aber wird ihr niemals verzeihen, daß er ihr moralisch verpflichtet ist. Schwelgend im Pathos seiner Schwäche, akzeptiert er ihr zweites Opfer.
Lion Feuchtwanger, 1884-1958, war Romancier und Weltbürger. Seine Romane erreichten Millionenauflagen und sind in über 20 Sprachen erschienen. Als Lion Feuchtwanger mit 74 Jahren starb, galt er als einer der bedeutendsten Schriftsteller deutscher Sprache. Die Lebensstationen von München über Berlin, seine ausgedehnten Reisen bis nach Afrika, das Exil im französischen Sanary-sur-Mer und im kalifornischen Pacific Palisades haben den Schriftsteller, dessen unermüdliche Schaffenskraft selbst von seinem Nachbarn in Kalifornien, Thomas Mann, bestaunt wurde, zu einem ungewöhnlich breiten Wissen und kulturhistorischen Verständnis geführt. 15 Romane sowie Theaterstücke, Kurzgeschichten, Berichte, Skizzen, Kritiken und Rezensionen hatten den Freund und Mitarbeiter Bertold Brechts zum 'Meister des historischen und des Zeitromans' (Wilhelm von Sternburg) reifen lassen. Mit seiner 'Wartesaal-Trilogie' erwies sich der aufklärerische Humanist als hellsichtiger Chronist Nazi-Deutschlands.
Erstes Kapitel
Heinrich Friedländer sah, daß sein Bruch mit Else nie wieder werde verheilen können. Erst jetzt merkte er, wie fest die Gewöhnung gewesen war, die ihn an die kleine, flatterhafte, so unendlich oberflächliche und so wundervoll grazile Schauspielerin gebunden. Seine Tage wurden leer und grau und vergrübelt, seine Zerstreuungen schienen ihm albern, zu seinen Büchern fand er keine Beziehungen mehr, zu seiner Arbeit keine Wärme.
Die krittelnde Skepsis der Freunde war ihm zuwider; ihre neugierig täppische Teilnahme tat ihm weh. Die ganze Stadt störte seine Empfindlichkeit mit ihrer lauten Vergnügungssucht, mit ihrer breiten, seichten Gemütlichkeit. Und als nun gar der Karneval sein aufdringliches Schellengeklingel zu läuten begann, floh er aus München in die schroffe Einsamkeit des Nordtiroler Winters.
Weiß und stumm umgaben ihn die Berge. Tagelang streifte er auf Schneeschuhen über endlose, starre und trügerische Hänge. Die Gefahr schwieriger Fahrten forderte die ganze Kraft seiner geschärften Sinne, und die große, wilde Weite ringsum scheuchte seine brütende Dumpfheit. Sein Aug wurde schärfer, klarer, sein Fuß fester, seine Glieder schmiegsamer, seine Muskeln strafften sich. Hier tastete nicht geschäftig lärmende Gewohnheit an den Empfindlichen; hier rührte kein rauher Frager an seine sich narbende Wunde. Nur mit den ernsthaften, redverdrossenen Männern, die in den wenigen bewohnten Hochhütten hausten, hielt er Gemeinschaft. Und er, der sonst, ein witziger und seines Witzes froher Beobachter, mit armen, kleinen Dingen gespielt hatte, freute sich jetzt, in die Ferne zu schauen und über weiten, großen Hintergründen die Leere seines Alltags zu vergessen.
Wegmüde saß er eines Abends in einem Gasthaus an der Straße, die aus dem Bayrischen nach Innsbruck führt. Draußen klangen die jähen, dumpfen Weisen eines frühen Föhns. Er saß in der niedrigen, verräucherten und überhitzten Gaststube. Am Schenktisch schäkerten plumpe Bauernburschen mit der Kellnerin; ein paar ältere Knechte kartelten; lärmend, bald mit stumpfem Gelächter, bald hart und wuchtig schimpfend, spielten sie ein umständliches Spiel.
Der Postschlitten kroch heran, plump schaukelnd, schmutzig von schwärzlich vereistem Schnee. Dicht und schäbig vermummt tappte der Postbote in die Stube. Mit derbem Scherz grüßte er Wirt und Gäste. Der Wirt ließ ihm einen Schnaps reichen und übergab Heinrich voll Beflissenheit die Zeitungen.
Heinrich überflog lässig das Bündel von geschäftigen Eintagswichtigkeiten. Irgendwo hatte der Kaiser eine vielkommentierte Rede gehalten, drunten weit in der Türkei rüstete man, der Diskont wurde erhöht, eine Sudermann-Premiere, ein überraschender Bankkrach, Faschingsankündigungen, Übergriffe des Zentrums, eine japanische Kunstausstellung. Wie war dies alles schal, albern, gleichgültig! Wie weit lag dieses laute, aufgeregte Treiben hinter ihm!
Da plötzlich eine kleine, unscheinbare Notiz unter vermischten Nachrichten: »Das Befinden Else Rainhammers, die bekanntlich bei einem Automobilunfall in der Nähe von Brescia eine Gehirnerschütterung erlitt, ist hoffnungslos.« Es stand ganz deutlich da, mit klaren, kleinen, gleichgültigen Typen. In unbarmherzig nackten, dürren Worten. Hier war nichts zu zweifeln, nichts zu deuteln. Genau in der Mitte des Blattes stand es, von der Falzlinie in zwei Teile zerschnitten.
Heinrich legte die Zeitung weg, nahm Hut und Stock und sagte zum Wirt: »Ich gehe noch ein wenig spazieren. Ich esse auf meinem Zimmer zu Abend. Sorgen Sie, daß gut geheizt ist!«
Er ging ins Freie. Um ihn fauchte der Sturm, und der weiche Schnee, der sich unterm Fuß in schmutzigen Brei wandelte, hemmte ihm den Gang. Achtlos, langsam und fest schritt er vorwärts. Else hoffnungslos, tot vielleicht. Heute war Freitag; Montag war die Notiz in der Zeitung gestanden. Bekanntlich, hieß es, hatte sie eine Gehirnerschütterung erlitten. Also mochte das vielleicht schon länger her sein. Vierzehn Tage vielleicht schon oder, wer weiß, noch länger.
Wie seltsam das war! Hier glitt er fern von den Menschen über weiße, schweigsame Hänge, stapfte über weichen Schnee, ließ den Blick sich verlieren ins endlos Weite, trauerlos, glücklos, wunschlos. Und Else, die lebendige Else, an der alles zuckte von Leben und Lebensgier, lag im Hospital von Brescia, sterbend, tot vielleicht, vielleicht schon unter italienischer Erde.
Die Freunde in München wußten gewiß schon längst, wie alles zugegangen war; vielleicht war einer hinuntergefahren, sie zu bestatten, der Mutter zu helfen. Wahrscheinlich glaubten sie ihn in Brescia. Und er war hier!
War er bewegt? Gewiß. Aber war er voll eines großen Schmerzes? Gewiß nicht. Wie hätte er sich sonst freuen können über die Leichtigkeit, mit der er die Mühen des Weges überwand, den Stößen des Sturmes standhielt, der ihm angenehm ins Ohr klang! Fast war es ihm leid, daß er von dem großen Pathos des Schmerzes so gar nichts verspürte.
Der Föhn jagte seltsam satt gefärbte, erhaben grotesk zerfetzte Wolken vor sich her; auf den Hängen weiter unten verlor der Schnee seinen Glanz und schollerte in Klumpen zu Tal; die Bäume neigten sich ächzend und schwer, und ihre Last brach dumpf zerstiebend nieder; fernher langte die Nacht über die Gegend. Wer mochte wohl auf der Unglücksfahrt Elses Begleiter gewesen sein? Der dicke, elegante und wohlgelaunte Brauereibesitzer Kaspar Rahmeder? Der war ein Mann für solche Streiche. Wer weiß, vielleicht war der lustige Knabe auch umgekommen. Oder Herr von Schielinsky? Nein, das wagte sie wohl nicht. Man wußte ja in ganz München, daß er nur Schielinskys wegen mit ihr gebrochen. Möglich auch, daß der Oberleutnant Mensing sie zu der Fahrt eingeladen oder der wackere Lehrer Kattaner, an dessen treuherzig schmachtender Verehrung sie so viel Freude gehabt.
Er bemerkte mit Befriedigung, wie kühl er alle diese Möglichkeiten erwog. Es war kein Zweifel, Else war ihm gleichgültig geworden. Er stellte sich ihr frisches Gesicht vor in der wächsernen Farbe, in den häßlich scharfen Linien einer qualvoll Sterbenden. Aus einem verzerrten Antlitz, das der Tod pierrothaft weiß geschminkt hatte, sprang grotesk das kecke, böhmische Näschen; die lieben, flachsweißen Härchen ihrer Wangen, sonst nur kosenden Händen spürbar, traten deutlich hervor; gebrochen starrten die großen, grauen, kindhaft fragenden Augen; wund klaffte unter Strähnen trockenen, braunen Haares die Stirn; die biegsamen, warmen, würfigen Glieder lagen kalt und gelähmt. Er malte sich ihr reges, artiges Persönchen in ihrer glücklichsten Zeit, jung, warm, behend, verliebt, glücklich. Er ließ seine Sinne von der Erinnerung an ihre schmiegsamen Umarmungen umschmeicheln und knüpfte daran in heftiger Verzerrung die Vorstellung eines gewaltsam entstellenden Todes. Aber alle diese Versuche, sich ein großes Leid einzuflößen, fruchteten nicht.
Schwere Dämmerung wob um ihn und nahm den Bergen ihre Konturen. Er wandte sich zur Heimkehr. Der Weg war schwierig; Heinrich watete tief in nachgiebigem Schnee. Durch sturmzerfetztes Gewölk blinkten spärliche, gelassene Sterne.
Ein starkes Lebensgefühl reckte sich in ihm. Else war tot, und er zog hier wuchtig und umsichtig durch stürmische Nacht, Kraft und Leben in Gliedern und Hirn. Er dachte an das wohlig warme Zimmer, das ihn erwartete, an sein schmackhaft rauhes Abendmahl. Und Elses Gedächtnis wurde ihm zu flachem Mitleid, in das sich ferne Verachtung und leise Schadenfreude mischte. Er atmete tief und zischte durch die Zähne: »Else ist tot; die junge, liebe, schöne Else ist tot.«
Der Wind trug ihm die Worte von den Lippen, daß sie sogleich verklangen. Freundlich blinkten die Lichter der Herberge. Heinrich reckte die Glieder, öffnete weit die Augen und schrie, sang, trotzte, jauchzte in den Sturm: »Ich lebe!«
Andern Morgens in aller Frühe machte er sich auf den Weg. Der Föhn hatte sich gelegt, ein schimmernder Tag brach an. Die Straße wurde gangbarer, mächtig breit und weiß. Er kam an ein altes, verlorenes, merkwürdig an einem Berghang klebendes Dorf. Drunten dampfte, in die Ferne sich weitend, ein Tal. Hütten zeigten sich, Häuser, Dörfer. Auch die Hänge gegenüber schienen bewohnt. Dann schwamm breit und gemächlich die blasse Sonne herauf. In den hellen, stahlbleichen Himmel rissen die blendend weißen Berge scharfe Zacken.
Heinrich schritt rasch talab, munter und lebfrisch. Von den Bäumen stiebte Schnee und glänzte hellsten Glanz. Heinrich schwang den Stock und sang vor sich hin. Tannhäusers Venuslied, den Fledermauswalzer. Er war voll vom Vergnügen einer seltsamen, zuckenden Erwartung, als ob ihm etwas sehr Willkommenes begegnen müsse.
Nun wälzte sich unten breit und gelassen der blaßgrüne Fluß. Daneben glänzten die Geleise der Bahn. Dörfer dehnten sich, behäbig, mit gemütlichen Kirchtürmen. Alles atmete gleichmäßiges, sich genügendes Leben.
Das bewohntere Tal sandte seine Zeichen. Kärrner, Wegwärter, holzsammelnde Weiber kamen ihm entgegen; offen und frisch antwortete er ihrem gleichmütigen Gruß.
Langsamer schritt er durch das besonnte Dorf, von neugierigen Kindern scheu belacht, von Hunden bekläfft und von den Männern und Frauen flüchtig beguckt und begrüßt. Die Bahnstation lag am andern Ufer des Flusses, außerhalb des Dorfes.
Heinrich hatte nicht lange auf den Zug zu warten, der ihn nach Innsbruck führte. Hier hatte er zwei Stunden Aufenthalt. Er depeschierte zunächst seinem Diener, daß er um halb vier Uhr in München sein werde. Dann, während er ausgiebig und...
Erscheint lt. Verlag | 1.8.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Feste und Geselligkeit • Finanzieller Ruin • Luxus • Opfer • Reichtum • Verbrechen • Verlust |
ISBN-10 | 3-8412-2883-6 / 3841228836 |
ISBN-13 | 978-3-8412-2883-3 / 9783841228833 |
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