Shadowman (eBook)
462 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77593-6 (ISBN)
Camoha, die Insel der Kleinen Antillen, kommt nicht zur Ruhe. Michael »Digger« Digson, ein begnadeter junger Forensiker, muss seiner Kollegin und Seelenfreundin Miss Stanislaus beistehen: Sie hat einen Mann in Notwehr erschossen - ihre Vorgesetzten glauben, dass es Mord war, denn der Getötete ist Miss Stanislaus' persönliche Nemesis, Juba Hurst, der sie als Jugendliche vergewaltigte, und er ist der Vater ihrer Tochter. Digger und sie haben nur sechs Wochen Zeit, um ihre Unschuld zu beweisen. Und das alles mitten in einer Welle von Gewalt gegen Frauen, die sich zunehmend gegen diesen permanenten Terror zur Wehr setzen. Nicht hilfreich ist dabei, dass anscheinend gerade eine neue Drogenroute in der Karibik aufgebaut werden soll. Zudem ist Digger noch immer hinter dem oder den Mördern seiner Mutter her. Die Uhr tickt - für Digger und besonders für die fabelhafte Miss Stanislaus. Und für manche Leute läuft die Uhr auch ab ...
Jacob Ross, geboren 1956 auf Grenada, schreibt Kurzgeschichten, Gedichte, Theaterstücke und Romane; außerdem journalistische und essayistische Arbeiten. Er lebt seit 1984 im United Kingdom, ist »Fellow of the Royal Society of Literature«. <em>Die Knochenleser</em> wurde mit dem renommierten Jhalak Prize for Book of the Year by a Writer of Colour ausgezeichnet.
1
Eins hatte ich in meinen drei Jahren der Verbrechensbekämpfung auf Camaho gelernt: Um für Recht und Ordnung zu sorgen, muss man manchmal gegen die verdammten Regeln verstoßen.
Fünf Tage nachdem ich einen Polizisten wegen Trunkenheit am Steuer und noch viel Schlimmerem verhaftet hatte, erschoss Miss Stanislaus, meine Partnerin beim San Andrews CID, einen Mann namens Juba Hurst – den Mann, der sie als Kind vergewaltigt hatte. Der Ärger, den ich mir mit der Festnahme des Kollegen eingehandelt hatte, war nichts im Vergleich zu dem, was sie erwartete. Und auf keinen Fall würde ich sie die Folgen allein ausbaden lassen. So bin ich nun mal, Michael Digger Digson. Ich bin so gepolt.
Ich hatte den Sonntag im Norden der Insel bei meinem Freund Caran verbracht, der eine halbmilitärische Einheit bestehend aus vier Leuten leitete, drei Männer und eine Frau namens Toya Furore, sein Lieutenant. Die Bush Ranger, so nannten wir sie. Sie verfügten über die Schießfertigkeit und die Überlebenstechniken von Soldaten, die Festnahmebefugnis von Polizisten und die deduktiven Fähigkeiten von Kriminalisten.
Detective Superintendent Chilman, unser alter Chef, hatte Carans handverlesenes Team speziell für Patrouillengänge im dunklen Inselinneren abgestellt. Fit, flink und bewaffnet, blieben sie manchmal wochenlang in den Bergen, wenn es sein musste, spürten Ganja-Anbauer und Buschfleisch-Wilderer auf, Mörder und vereinzelte Gefängnisausbrecher, die sich in die nebeligen Hochwälder Camahos geflüchtet hatten. Die Bush Ranger kannten die Insel wie ihre Westentasche. Im Nordteil waren sie schon zu einer Legende geworden.
Wie so oft redeten Caran und ich die erste Stunde über den Job und wunderten uns mal wieder darüber, was DS Chilman mit uns gemacht hatte. Der Alte, fanden wir, war voller Widersprüche. Zwar hatte er sich vor ein paar Jahren aus dem Polizeidienst zurückgezogen, kam aber immer noch ins San Andrews CID, um uns herumzukommandieren. Er war ein Vollzeitsäufer mit einem Gehirn, in dem es keinen Platz für Schwachsinn gab, und einer messerscharfen Zunge. Chilman hatte dreißig Jahre lang bei der Polizei gearbeitet und verachtete die meisten seiner Kollegen, weil sie zu nichts zu gebrauchen waren, was die Verfolgung von Straftaten anging. Seiner Ansicht nach verursachten sie manchmal sogar Verbrechen. Wie im Fall einer jungen kanadischen Touristin: Sie war an einem der abgelegenen Strände der Westküste mit ihrem Hund spazieren gegangen und von einem Typ drangsaliert und umgebracht worden, den die Polizei erst wenige Stunden zuvor wegen Körperverletzung festgenommen hatte. Der Superintendent, der seine Freilassung angeordnet hatte, war mit ihm verwandt.
Danach hatte Chilman die Nase voll gehabt. Wenn er schon die Polizeibehörde nicht ändern konnte, so konnte er zumindest ein eigenes Team ins Leben rufen, »koste es, was es wolle«. Was bedeutete, dass er sich über sämtliche Bestimmungen für die Personalrekrutierung hinwegsetzte.
Mich hatte er in San Andrews buchstäblich von der Straße aufgegabelt. Ich war damals neunzehn und gerade von der Schule abgegangen, ohne irgendwelche Jobperspektiven trotz guter Noten. Ein Mord auf offener Straße wurde für mich zum Wendepunkt. Mein Vergehen bestand darin, dabei gewesen zu sein. Chilman entdeckte mich auf dem Bürgersteig, wo ich damit beschäftigt war, nichts zu tun. Er nahm mich fest und brachte mich in sein Büro. Stellte mich vor die Wahl: Entweder trat ich der neuen kriminalpolizeilichen Abteilung bei, die er gerade gründete, oder ich ging ins Gefängnis. Ich wusste, dass er nicht scherzte.
Chief Officer Malan Greaves hatte er mit einer Einkaufstüte voll Marihuana, das er an Touristen verkaufen wollte, auf dem Grand Beach hoppgenommen. Vierzehn Jahre Gefängnis und eine nicht limitierte Geldstrafe oder eine Festanstellung mit Sonderzulagen und Perspektiven lautete Chilmans Angebot an Malan. Dann war da noch Spiderface, verhaftet wegen eines Ballens Ganja auf seinem Motorboot. Spiderface hatte der Küstenwache dermaßen das Leben schwer gemacht, bevor sie ihn endlich schnappten, dass Chilman genug beeindruckt war, um ihn mit einer legalen Erwerbstätigkeit zu belohnen.
Miss Stanislaus dagegen, seine Tochter, musste er mit etwas anderem überzeugt haben. »Hellster Kopf der Insel«, sagte er, als er die Frau eines Tages einfach in unser Department schickte. Und Pet und Lisa, beide Verwaltungs-Azubis in einer benachbarten Abteilung, wurden zum Mittagessen eingeladen und kehrten nie mehr auf ihre alten Stellen zurück.
»Scheiß Erpressung«, hatte ich dem Alten einmal in einem Anfall von Ärger vorgeworfen.
»Talentförderung«, erwiderte er. »Sieh dir mal eure Erfolgsquote an, Digson! Eintausend Polizisten auf der Insel im Dienst, sechzehn Wachen verteilt auf die verschiedenen Bezirke, und San Andrews CID hat jetzt das zweite Jahr in Folge die beste Verbrechensbekämpfungsbilanz. Kein Wunder, dass die ganze verdammte Polizeibehörde uns plattmachen will. Einschließlich des Justizministers!«
Satt und zufrieden von dem Essen, das Mary, Carans Frau, mir vorgesetzt hatte, verließ ich das kleine Haus der beiden. Ich lachte in mich hinein bei dem Gedanken an Carans Geschichten über die Geheimnisse von Camahos Wäldern: kochend heiße Quellen, die aus Felsspalten hervorsprudelten, Stimmen im Wind, die sie, wie er schwor, dort oben in den Bergen hörten, Schattenwesen, die sich flüchtig blicken ließen, Prinzess-Orchideen, die sich vom Saft der Waldbäume ernährten und sie zum Absterben brachten. Am Ende hatte er mich mit dem Ellbogen angestoßen. »Schönheiten, Digger. Schönheiten, die einen umbring tun, weisde.«
Dabei hatte er grinsend mit dem Kinn auf seine Frau gedeutet. Mary hatte schallend gelacht und ihm ein Geschirrtuch ins Gesicht geworfen.
Es dämmerte schon, als ich von der mörderischen Bergstraße durch die Grand Etang Hills auf die River Road einbog, die mich nach San-Andrews-Stadt bringen würde. Plötzlich eine lange Autoschlange vor mir, bis hin zu der alten, überm Meer hängenden Eisenbrücke. Lautes Gehupe und Geschrei irgendwo vorn.
Ich fuhr an den Straßenrand, stieg aus und ging dem Lärm nach. Ein Mann wurde von einem Mob gegen einen Nissan-Minibus gedrängt. Die Windschutzscheibe war spinnennetzartig gesplittert, das Fahrzeug stand mit laufendem Motor quer zur Straße. Etwa drei Meter weiter verglich eine Gruppe schnatternder Teenager Handyaufnahmen von etwas, das wie eine verstümmelte Leiche aussah. Ein schmaler, abgetrennter Arm mit fünf Kupferarmreifen sagte mir, dass es sich um eine Frau handelte. Etwa fünfundzwanzig Jahre alt, schätzte ich. Der Rest von ihr, hörte ich, sei über den ganzen Straßenabschnitt verteilt.
Ich trat in die Menge, hielt meinen Ausweis in die Höhe und wies die Leute an, sich zu zerstreuen. Unter aufgebrachten Rufen wichen sie ein paar Schritte zurück.
Ich kannte den Fahrer. Es war ein Constable von San Andrews Police Central namens Buso, wegen einer Beinprothese an den Schreibtisch gefesselt. In der Behörde ging das Gerücht um, dass seine Frau einen Liebhaber hatte, mit dem sie vor seiner Nase herumpoussierte.
Jemand hatte bereits den Krankenwagen gerufen. Niemand die Polizei.
Ich rief die Leichenbergung an, ein Drei-Mann-Team, das Superintendent Chilman speziell für solche Situationen zusammengestellt hatte. Jungs, die sich nichts dabei dachten, ihr Abendessen von Tellern einzunehmen, die sie auf einem Kadaver abgestellt hatten. Vorher waren sie Totengräber gewesen.
»DC Digson hier. Hab ’nen Abkratz-Job für euch. Gut vier Stunden Arbeit.«
Ich gab ihnen die Koordinaten und wandte mich dann an den Officer. Er stank nach Alkohol. »Also, was ist passiert?«
Die Leute ringsum mussten von meinen Lippen abgelesen haben.
»Er hat die Frau umgefahrn, ist besoffen Auto gefahrn! Das war Mord! Die Frau hat zwei kleine Kinder und … und das Arschloch hat sie noch ein ganzes Stück mitgeschleift, von da bis …«
Mit erhobener Hand unterbrach ich den Sprecher – ein junger Mann mit zu abstehenden Büscheln frisierten Haaren, wie ein flauschiges Stachelschwein....
Erscheint lt. Verlag | 17.7.2023 |
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Reihe/Serie | Digson und Miss Stanislaus ermitteln | Digson und Miss Stanislaus ermitteln |
Übersetzer | Karin Diemerling |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Black Rain Falling |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
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ISBN-10 | 3-518-77593-6 / 3518775936 |
ISBN-13 | 978-3-518-77593-6 / 9783518775936 |
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