Das Summen unter der Haut (eBook)
176 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-77799-1 (ISBN)
»Ein warmherziger Roman über die Schönheit und den Schmerz der ersten Liebe, über Freundschaft und über die Grenze dazwischen. Stephan Lohse findet dafür eine zarte Sprache mit umso eindrücklicheren Bildern.« Isabel Bogdan
Hamburg, 1977. Julle ist vierzehn Jahre alt. Kurz vor den Sommerferien bekommt er einen neuen Mitschüler, Axel. Sofort ist Julle verliebt. Dass er schwul ist, weiß keiner. Bis auf seine Schwester und seine Mutter vielleicht, Mütter sollen so etwas ahnen. Julle zählt die Stunden, die er Axel kennt, und freundet sich mit ihm an. Zusammen gehen sie ins Freibad, füttern Axels Kaninchen und entdecken eine versteckte, halb abgebrannte Hütte im Wald. Als sie deren Geheimnis beinahe gelüftet haben, ist Axel plötzlich verschwunden - und Julle ahnt, dass nach diesem Sommer nichts mehr so sein wird wie davor.
Mit viel Fantasie, Einfühlungsvermögen und Witz erzählt Stephan Lohse von zwei Jungen und den Dingen im Leben, die alles bedeuten. Das Summen unter der Haut ist ein Roman über Liebe und Freundschaft, über das Aufwachsen in den siebziger Jahren - einer Vergangenheit, wie sie vielleicht nie war, aber hätte sein sollen. Und über einen aufregenden Sommer, der alles verändert.
Stephan Lohse wurde 1964 in Hamburg geboren und stand als Schauspieler unter anderem am Thalia Theater Hamburg, an der Schaubühne in Berlin und am Schauspielhaus in Wien auf der Bühne. Noch immer leiht er Figuren seine Stimme, heute allerdings schreibend.
1
Vielleicht liegt es an seinen Brustwarzen. Sie haben ihn in die Mitte genommen, er liegt auf den Kanten ihrer Handtücher. Ihre Füße wippen, ihre Ellenbogen bohren sich ins Gras, ihre Schultern berühren sich. Sie lachen über etwas, was er gesagt hat. Ich habe es nicht verstanden, ich lache aber auch. Das Rauschen der schwarzen Tannen am Zaun verschluckt es. Mein Handtuch ist mir peinlich. Ein Badezimmerhandtuch, zu schmal fürs Freibad und zu weiß, die farbigen Streifen sind verblasst, es ist hart vom häufigen Waschen. Meine Mutter hat es eingepackt. Zum Glück ist meine Badehose in Ordnung. In einer kleinen Tasche mit Reißverschluss kann man den Schlüssel für den Schrank verstauen. Ich versuche, mit meinem Körper mein Handtuch zu verdecken. In der Kuhle auf meinem Rücken juckt der Schweiß. Ich liege abseits, auch wegen Claudia, niemand will direkt neben ihr liegen, keiner weiß so richtig, warum.
Vielleicht liegt es an seinen Brustwarzen. Sie sind winzig. Kleiner als Rüdigers, kleiner als Guidos, kleiner als meine. Und viel kleiner als die von Matthias aus der Parallelklasse. Die sehen wie Untersetzer aus, wie rosa Gummideckchen, in der Mitte gewölbt. Matthias ist dick, aber keiner sagt was, weil er Diabetes hat und Punkte auf dem Bauch von den Spritzen. Vielleicht liegt es an seinen Haaren. Sie sind hell und nach der Dusche struppig. Blonde Büschel. Auf seinen Armen sehen sie wie Stroh aus, wie Halme, die im Sand stehen. Vielleicht liegt es daran, dass er schön ist.
Axel ist vor kurzem hergezogen und neu in der Schule. Wir kennen ihn seit achtzig Stunden oder 4800 Minuten oder 288000 Sekunden. In der ersten Stunde am Dienstag, Bio bei Herrn Stahnke, Mitose und Meiose, hat Dr. Lachmann Axel in die Klasse gebracht und, ohne ihn uns groß vorzustellen, gesagt, er solle sich einen Platz suchen, und: »Hallo. Guten Morgen 8 b. Ausgeschlafen?« Dr. Lachmann leitet neben der Schule auch die Theater-AG und ist extrem locker. Manchmal geht er in der Pause zu den Rauchern aus der Oberstufe und schnorrt sich eine Zigarette. Er trägt Schlaghosen und hört Popmusik, nicht nur Schubert oder Brahms wie die anderen Lehrer. Wir sind ein musisches Gymnasium. Wir spielen alle ein Instrument und kennen sämtliche italienischen Tempobezeichnungen. Axel hat sich in die vorletzte Reihe gesetzt, auf den freien Platz neben Guido, rechts schräg hinter mir. Ich sitze in der vorvorletzten Reihe. Auf die Frage von Herrn Stahnke, wie er heißt, hat er »Peschke« geantwortet und auf die Frage, ob das wohl sein Vor- oder Nachname sei, »Nein« und erst nach einer Pause, vielleicht weil sich alle außer Claudia nach ihm umgedreht haben, »Axel«. »Und welches Instrument spielst du, Axel?« Das fragen bei uns alle Lehrer. »Geige«, hat Axel gesagt, und es klang wie »Leck mich«. Er hat sich umgesehen und nach einem Mikroskop gefragt. Wir hatten gerade angefangen, Zwiebelhäutchen zu mikroskopieren, und versucht, im Glibber die Zellkerne zu erkennen.
Von den achtzig Stunden waren zweiundzwanzig Stunden Unterricht. In diesen zweiundzwanzig Stunden habe ich, weil ich mich ja schlecht umdrehen konnte, versucht, Axel mit dem Rücken wahrzunehmen. Meine rechte, ihm zugewandte Seite wurde zu einer Art Antenne. Keine Antenne, wie man sie kennt, mit Stäben und Drähten, eher eine empfindliche Fläche, die summend warm wurde. Als würde sich mein Gehirn in dieser Fläche befinden und sie aufheizen. Habe ich Axel in der Pause irgendwo stehen sehen, habe ich in eine andere Richtung geblickt. Oder was im Ranzen gesucht. Oder so getan, als würde ich was beobachten. Oder mich gekratzt. Eigentlich zahlt der Staat dafür, dass ich in der Schule etwas lerne. In diesen zweiundzwanzig Stunden war das aber rausgeschmissenes Geld.
In den achtundfünfzig Stunden, in denen wir keinen Unterricht hatten, habe ich an nichts anderes denken können als an Axel Peschke. Ich habe in den Buchrücken meiner Eltern, in der Suppe zu Mittag, im Obst zum Nachtisch, in meinen Wasserfarben, meinen Hemden und Hosen, sogar in meinen Schulsachen, in unserem Garten, in den Gärten am Hang, im Mercedes auf der Einfahrt von Sierkes und dem verbeulten Ro80 auf der Straße, selbst im Himmel, als am Abend ein Gewitter aufzog und die Wolken sich wie Schwefel färbten, die Farbe seiner Haare erkannt.
Morgens bin ich in die Schule gerast, im siebten Gang, wenn die Kette gehalten hat, und habe mich, manchmal schon um zwanzig vor acht, entweder am Kiosk postiert, weil man von dort ungesehen die Einfahrt zum Schulparkplatz überblicken kann, durch die nicht nur die Schüler mit den Fahrrädern kommen müssen, sondern auch die, die die U-Bahn nehmen, oder ich bin auf den Parkplatz rauf und habe einen Lehrer, der seinen Wagen eben geparkt hatte, in ein Gespräch verwickelt und ihm dabei über die Schulter gesehen, oder ich habe am Fahrradständer herumgestanden und so getan, als würde mein Fahrradschloss nicht aufgehen. Zweimal hat es funktioniert. Einmal hat Axel auf den Boden gesehen, einmal hat er einem Mädchen schweigend bei etwas zugehört.
Auch im Unterricht sagt er nicht viel. Falls aber doch, dann mit einer Stimme, die zwar nicht tief ist, einem aber tief erscheint. Eine Zukunftsstimme, eine, von der man jetzt schon weiß, wie sie einmal klingen wird. Wenn er spricht, kommt es mir vor, als hörten wir anderen auf, Galgen in die Tische zu ritzen oder eckige Herzen. Nur Andi findet Axel bescheuert. Er findet Neue immer bescheuert, angeblich, weil er sich die Sitzordnung neu merken muss, weshalb ihm wahrscheinlich auch nicht auffällt, dass Claudia vergisst, sich mit der Spitze ihres Zopfes ins Auge zu stechen, was sie sonst ständig tut, und Natalja ihren Kopf in den Nacken wirft und Axel anlacht, obwohl sie eine Zahnspange trägt, an der manchmal noch Essensreste hängen, von Kohlroulade zum Beispiel.
Jetzt liegt Natalja rechts neben Axel auf einem Leinenhandtuch und saugt sich das Duschwasser aus den Haaren. Links liegt Guido auf einem großen Badetuch. Er hat am Stand eine Tüte Chips besorgt und teilt sie sich mit den anderen. Rüdiger, der zur Hälfte auf Guidos Handtuch liegt, sagt, er würde nie im Leben vierzig Pfennig für ein paar fettige Kartoffelscheiben ausgeben. Sein Mars bestehe aus Schokolade, aus Karamell und zusätzlich aus einer luftigen Creme.
»Aber es schmeckt überall gleich«, sagt Guido. »Die Chips schmecken hier aber besser als anderswo.«
»Und warum?«, fragt Natalja und schafft es, selbst bei einer so langweiligen Frage Axel anzulachen.
»Wahrscheinlich wegen dem Chlor«, sagt Guido. »Danach schmeckt alles wie neu.«
»Und warum mein Mars dann nicht?«
»Weil es zu süß ist«, sagt Guido. Er rollt die Chipstüte ein und schiebt sie unter sein Badetuch.
»Oder weil es viel zu heiß ist«, sagt Natalja, räkelt sich und seufzt.
Claudia sagt, und ich glaube, sie meint mich, zumindest sieht sie in meine Richtung, wenn auch irgendwie über mich hinweg, sie könne sich vorstellen, dass in ihrem Eis Holzstückchen seien. Für Krokant seien die Krümel in der Masse zu hart. Ich tue so, als würde ich sie wegen des Abstands zwischen uns nicht hören. Es wird still. Nur die schwarzen Tannen rauschen in den Kronen ihr Nadelgeflüster. Irgendwann sagt Axel, er glaube, dass Claudia recht haben könnte. Die Pfirsichstücke im Pfirsichjoghurt seien ja zum Beispiel auch kein Pfirsich, sondern eingeweichte Baumrinde, weil die Lebensmittelindustrie lügen und mit solchen Tricks Geld sparen würde.
Während ich darüber nachdenke, warum es billiger sein sollte, Bäume zu entrinden, die Rinde in Würfel zu zersägen, die klein wie Pfirsichstücke sind, sie in Zuckerwasser einzuweichen, mit Joghurt zu verrühren und in Becher abzufüllen, springen die anderen von ihren Handtüchern auf und rennen wie auf einen geheimen Befehl über die ausgetrocknete Wiese, staksen wie Störche durchs eiskalte Duschbecken und spritzen sich gegenseitig nass. Axels Zukunftsstimme überschlägt sich. Sie rempeln sich an, springen vom Beckenrand, klatschen ins Wasser, und Matthias, der für den Weg länger gebraucht hat, macht eine Arschbombe. Sie bekommen extrem viel Ärger mit dem Bademeister.
Ich will ihnen nach, doch ein weiterer Befehl hält mich zurück. Er kommt aus den schwarzen Tannen. Das Rauschen will, dass ich sie lasse. Sie haben schon Spaß. Ich suche mir einen Weg zwischen den Handtüchern und verschwinde im Gebüsch. Es gibt einen...
Erscheint lt. Verlag | 17.7.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 14 Jahre • 1970er Jahre • 70er • 70er Jahre • ab 14 • aktuelles Buch • All Age • Aufwachsen • Axel • beste Freunde • Booktok • bücher neuerscheinungen • Buch für den Strand • Buch für den Urlaub • Coming of Age • Coming-out • der große sommer • ein aufregender Sommer • Ein besonderer Sommer • Ein fauler Gott • Erinnerungen • Erste Liebe • Erwachsenwerden • Ewald Arenz • Familie • Ferien • Franz-Tumler-Literaturpreis 2017 • Freibad • Freunde • Freundschaft • Gefühle • Geheimnis • Geschenk Bruder • Geschenk Freund • Geschenk Sohn • gute Freunde • Hamburg • Heranwachsend • Homosexualität • Homosexuell • Hütte im Wald • Joachim Meyerhoff • Jugend • Jugendbuch • Jugendlich • Jugendliebe • Julle • jung • Jungs • Kindheit • lgbtqia+ • Liebe • Liebesgeschichte • Neuerscheinungen • neues Buch • Nostalgie • Pubertät • Queer • Schauspieler • Schule • Schwimmbad • Schwimmbecken • Schwimmen • Schwul • Sexuelle Orientierung • Siebziger Jahre • Sommer • Sommerbuch • sommergefühl • Sommerlektüre • Sommer-Lektüre • Sprungbrett • Sprungturm • Strand • Strand-Buch • Strandlektüre • Tauchen • Trauer • Urlaub • Urlaubslektüre • verliebt • Vierzehn • Vierzehnjährige • wahre Freundschaft • waldhütte • Wasser • Witz |
ISBN-10 | 3-458-77799-7 / 3458777997 |
ISBN-13 | 978-3-458-77799-1 / 9783458777991 |
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