Die Farbsplitter -  Cem Yilmaz

Die Farbsplitter (eBook)

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
180 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7578-7518-3 (ISBN)
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Vier Fremde begegnen sich am Grab eines gemeinsamen Bekannten. Sie alle kamen dem Toten in einem Moment seines Lebens zur Hilfe, als er sein durch Leid vernarbtes Leben hinter sich lassen wollte. Unter Vorwürfen und Anschuldigungen scheiden sich die Wege der vier Fremden wieder. Doch Sie alle waren in der Lage, ihren Freund Can zu Lebzeiten zu inspirieren, zu verändern und ihm immer einen weiteren Lebensabschnitt zu ermöglichen. Mehr und mehr beginnen sich die Identitäten der vier Gestalten durch die prägende Begegnung mit Can zu enthüllen. Eine gemeinsame Sicherheit verdichtet sich: Die Gewissheit über die anderen Menschen, die einen schlechten Einfluss auf Cans Leben hatten und der Verdacht, dass eben diese ihn fortwährend in die ausweglose Situation seines Suizid brachten. Doch wer ist wirklich verantwortlich für das tragische Ende ihres Freundes?

Cem Yilmaz ist »Nur ein Poet«. Mit diesem Titel wurde sein bisheriger Werdegang als Lyriker und Poet gezeichnet. Sein Vorstoß in die Welt der Bücher und Geschichten begann 2020 mit seinem Debütroman »Das lachende Kind« und wird mit der Erscheinung seines nächsten Werks »Die Farbsplitter« konsequent ausgebaut.

KAPITEL 1


MACHT


Während sich die eben noch trockene Wiese des kalten und nahezu stillen Friedhofs mit ihrem dunkelgrünen Ballkleid vollends dem anbahnenden Regen hingibt, schenkt sie auf ihrem Hoheitsgebiet dem in schweren und großen Schritten vorbei passierenden Stiefelpaar keinerlei Beachtung.

An Regentagen gibt es Wichtigeres.

Die einzige Aufmerksamkeit, die Besucher heute von ihr bekommen, ist der frische Duft ihres feuchten Grüns.

Die Stiefel interessieren sich herzlich wenig weder für die Wiese oder den Regen noch für den weichen, aber trittfesten Sandbelag des Friedhofsweges. Ihr majestätisches Selbstbewusstsein, mit der sie das Sandgemisch unter sich zerdrücken, geht einher mit der geballten Männlichkeit des Trägers.

Die Kraft und das damit verbundene Durchsetzungsvermögen stehen diesem Mann wie angegossen. Es sind nicht nur die breiten Schultern, seine schrankähnliche Größe oder der südländische Typus, die vielleicht dieses gewisse Flair eines Draufgängers vermitteln. Es ist viel mehr die Art, wie er andere Menschen anschaut. Diese pure Ausstrahlung von Gewalt und Gefahr. Die ersten Sekunden einer Begegnung sollen bekanntlich über Sympathie oder Antipathie entscheiden. Bei ihm wechselt man schon von Weitem lieber freiwillig die Straßenseite. Wer ihm doch eines Blickes in sein diamantförmiges Gesicht würdigt, bekommt ein sehr direktes und dominantes Anstarren zurück. Seine großen kastanienbraunen Augen sind dabei aber nicht ausschlaggebend, im Gegenteil. Sie wirken fast zärtlich und warm, nahezu harmlos im Gegensatz zu den aggressiven Augenbrauen. Diese fallen einem als allererstes auf. Nicht, weil sie übermäßig groß oder buschig wären. Es ist eher diese nackte Emotion, die sie einem vermitteln. Die meiste Zeit sieht es aus, als wären sie in Lauerstellung wie ein Raubtier, das sich, mit den Vorderpfoten gestreckt, an seine Beute herangepirscht hat und jederzeit bereit zum Angriff ist. Natürlich tut die klassische Boxernase ihr Übriges dazu. Spätestens die abgeplattete und überbreite Nasenform gibt jedem zu verstehen, dass er mehr als nur Erfahrung im Faustkampf hat.

Der hochgeklappte Kragen seines Ledermantels hat einen unnahbaren und zugleich mystischen Effekt auf andere.

Seine wellige Haarpracht, die bis zu seinem Kinn geht, gibt er nur selten preis. Sie ist zu einem kleinen, unauffälligen Dutt gebunden. Wobei ein bis zwei Haarsträhnen gekonnt nach vorn fallen und er sie immer wieder hinter sein Ohr streichen muss. Das ist auch wohl das einzig Feminine, was man an ihm ausmachen könnte, wenn er mit gespreizten Fingern die Strähne zärtlich, am Dreitagebart vorbei, hinters Ohr streichelt und dabei Mittelfinger und Zeigefinger sanft am Ohrläppchen abtropfen lässt.

Dieses leichte Ziehen an seinem frei hängenden Ohrläppchen erinnert ihn immer daran, wie er einmal als Jugendlicher auf dem Pausenhof in der Schule von einem Jungen, der seiner Meinung nach homosexuell war, angesprochen wurde mit:

»Hey Starker, hat dir schon jemand gesagt, dass du wunderschöne Ohrläppchen hast?« Alle fingen an zu lachen und ehe man sich versah, setzte es eine Kopfnuss und der Junge lag blutüberströmt mit gebrochener Nase auf dem Boden. Er wurde daraufhin der Schule verwiesen. Seinem sehr konservativen und strengen türkischen Vater erklärte er, dass er sich nur verteidigen und schützen habe wollen, weil er von einem Schwulen angemacht worden sei und sich nicht anders zu helfen gewusst habe. Trotzdem kam er der Tracht Prügel seines Vaters nicht davon, da auch die Polizei eingeschaltet wurde und eine Anzeige mit Schmerzensgeld ins Haus flatterte.

Er ist diesem Jungen nie wieder über den Weg gelaufen, aber seither hat er das mit seinen Ohrläppchen nicht mehr vergessen.

Die Bekanntschaft mit Papas Gürtel wurde jedoch zu einem immer wiederkehrenden Ereignis. Anfangs hatte er noch Angst vor dem stechend heißen Schmerz, den der Aufprall des harten Leders auf seiner nackten Haut verursachte. Aber er wunderte sich selbst darüber, wie schnell er sich jedes Mal an diesen Schmerz gewöhnen konnte. Als er nach einigen dutzend Malen, nicht mehr so schreien und wimmern musste wie zu Anfang, merkte das natürlich auch sein Vater und schlug mit immer härterer Kraft zu. Also fing er an, die Schmerzen und das Schreien zu simulieren, damit weder sein Vater sich allzu anstrengen noch er selbst schlimmere Schmerzen erleiden musste. Es war wie ein stilles Abkommen zwischen beiden. Eine Art Symbiose, die sie schweigend hinnahmen. Der Vater durfte sich abreagieren und hatte zumindest das Gefühl, etwas getan zu haben und der Sohn wusste diese Art von Bestrafung auszuhalten, bis er eines Tages gar nichts mehr spürte.

Von dem Moment an war er nicht nur schmerzerprobt, sondern verlor auch jeglichen Bezug zur Angst vor körperlichen Auseinandersetzungen. Er machte sich fortan einen Namen mit Schlägereien in seinem Viertel. Jeder wusste bald, dass man sich mit ihm besser nicht anlegen sollte. Mit äußerster Brutalität streckte er seine Gegner nieder, sodass er bald in der ganzen Stadt als der Schläger bekannt wurde. Er genoss den Respekt und vor allem die Angst, die seinem Ruf vorauseilte. Noch mehr gefiel ihm das Machtgefüge und die daraus entstandenen Möglichkeiten. Er lernte schnell, dass er körperlich unterlegene Menschen mit Gewalt gefügig machen konnte. Diese Art von Autorität war es, die er zu Hause über sich ergehen ließ und jetzt auf andere übertragen konnte. Anderen wehzutun, fing an, an Bedeutung zu gewinnen.

Als er dann eines Tages anfing, für Kredithaie Geld einzutreiben und an illegalen Boxwettkämpfen teilzunehmen, wurde sein Name Programm.

Er ist sich sicher, dass wenn sein Vater am Leben wäre, er ihn immer noch mit dem Gürtel zügeln würde, obwohl er schon Mitte 30 ist. Und er würde es zulassen, ohne auch nur seine Miene zu verziehen, denn es wäre schließlich sein Vater.

Der Regen hat mittlerweile etwas nachgelassen, aber die Wolken, die den Himmel in ein dunkles Grau verfärbten, sind immer noch da.

Als er sich mit seinem geraden und langsamen Gang einem Grab nähert, sieht er, dass bereits drei andere Gestalten davorstehen.

Eine Frau und zwei Männer.

Er erkennt sie sofort. Der bärtige Hodscha mit seiner Gebetskappe, der wie gewohnt, mit beiden Händen in die Höhe gestreckt, betet. Die aufgetakelte Frau mit ihren hochhackigen Schuhen, die breitbeinig mit den Händen an ihrer Hüfte neben dem Hodscha steht, könnte wie immer provokanter nicht sein. Und der Jüngste in der Runde, der ihn als Erstes erblickt hatte und dessen Angst er förmlich riechen kann, sodass es in ihm nahezu einen Trieb auslöst. Der Angst in Menschen kann er kaum widerstehen.

Er stellt sich seitlich zu ihnen und blickt aufs frisch zugeschüttete Grab, auf dem der Name Can steht.

»Wir dachten schon, dass du nicht mehr kommst«, sagt der Gebetskappe tragende Mann rechts von ihm. Er wirft dem Mann mittleren Alters einen ernsten Blick zu und schaut wieder aufs Grab zurück.

»Wie konnte das passieren?«, fragt der Schläger und blickt den Jüngsten in der Runde an.

»Ich, ich kann nichts dafür, wirklich«, antwortet er und tritt ängstlich hinter die Frau, als wäre sie ein Schutzschild.

»Wir wussten, dass das irgendwann passieren könnte. Ist schließlich nicht das erste Mal, dass er es versucht hat«, antwortet sie, während sie eine rote Rose auf das Grab legt.

»Ihr wisst, was das heißt? Ich werde Vorkehrungen treffen müssen. Wenn einem Menschen weder Kraft noch Lust noch Glaube und Liebe vom Leben überzeugen, dem widerfährt nichts Gutes mehr«, murmelt der Schläger laut vor sich hin, während er sich vom Grab und den anderen entfernt.

Seine Schritte und Gedanken werden immer schneller und lauter.

»Du hättest nur mir vertrauen dürfen«, murmelt er zähneknirschend weiter. Er läuft sichtlich wütend vom Friedhof, steigt in sein Auto und haut mit halber Kraft die Faust auf's Lenkrad. Ein lautes Tuten ertönt, als würde das Auto um Hilfe schreien. Dann hört man plötzlich quietschende Reifen und ein Auto, das auf der gegenüberliegenden Straße davonrast. »Wer zum Teufel ist das?«, erschrickt er, startet den Motor und versucht, das Auto einzuholen.

Doch vergeblich. Noch bevor er Kennzeichen oder Marke erkennen kann, hat sich das Auto aus dem Staub gemacht. Er fragt sich immer wieder, wer das war und ob er schon die ganze Zeit verfolgt worden ist. Aber eigentlich ist er sich bereits sicher, dass es etwas mit Can zu tun haben muss.

Während er das Auto auf die Schnellstraße lenkt und in Richtung seines Viertels fährt, dessen dicht bebaute Hochhaussiedlungen wie ein Mahnmal für soziale Brennpunkte über der Stadt ragen, schweift er in Gedanken zu Can und ihr erstes Aufeinandertreffen ab.

∞∞ ∞

Die gelbe Kugel strahlte in ihrer ganzen Pracht hoch über dem Firmament und peitschte mit ihrer lähmenden Dominanz alles, was sich ihr in den Weg stellte....

Erscheint lt. Verlag 30.6.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
ISBN-10 3-7578-7518-4 / 3757875184
ISBN-13 978-3-7578-7518-3 / 9783757875183
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