Die Nacht (eBook)
464 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3098-3 (ISBN)
Marc Raabe hat eine TV- und Medienproduktion aufgebaut, bevor er sich 2021 für ein Leben als Autor entschied. Zu diesem Zeitpunkt begann er mit der Art-Mayer-Serie. Raabes Bestseller erscheinen in mehr als zehn Sprachen. Sein Handwerkszeug sind filmisches Erzählen, Schnitttechniken, Cliffhanger und Psychologie. Das Ergebnis: ein rasantes Kopfkino mit Tiefe. So wie seine Ermittlerfiguren bricht auch Marc Raabe hin und wieder Regeln.
MARC RAABE hat eine TV- und Medienproduktion aufgebaut, bevor er sich 2021 für ein Leben als Autor entschied. Zu diesem Zeitpunkt begann er mit der Art Mayer-Serie. Seine Bestseller erscheinen in mehr als zehn Sprachen. Sein Handwerkszeug sind filmisches Erzählen, Schnitttechniken, Cliffhanger und Psychologie. Das Ergebnis: ein rasantes Kopfkino mit Tiefe. So wie seine Ermittlerfiguren bricht auch Marc Raabe hin und wieder Regeln.
Kapitel 1
Kurz vor vier. Gerade noch rechtzeitig.
Nele Tschaikowski schaltete den Motor des Volvos aus. Ein familienfreundlicher Kombi, natürlich. Sie saß wirklich in jeder Hinsicht in der Falle. Erst Roman mit seiner Dauerflucht vor seinen Vaterpflichten, und jetzt auch noch Art. Sie ärgerte sich, dass sie sich einverstanden erklärt hatte. Was war so schwer an einem einfachen Nein? Gut, er hatte es wirklich dringend gemacht, wie immer allerdings, ohne ihr den wahren Grund zu nennen. Und, hey, da sie ohnehin zurzeit nicht im Dienst war, schien sie die perfekte Besetzung für die Rolle zu sein.
Mama für alle.
Nele seufzte, stieg aus dem Wagen und sah in den orangefarbenen Staub-Himmel über der Elbe-Schule in Neukölln. Seit gestern Nachmittag brannte es südlich von Berlin. Bei Blake standen mehr als 200 Hektar Wald in Flammen. Der Rauch zog direkt über die Stadt, und als wäre das nicht genug, trug der Wind auch noch Saharastaub über das Mittelmeer bis nach Berlin. Die Sonne war eine trübe rötliche Scheibe, und in den sozialen Medien kursierten apokalyptische Bilder, die den Anschein erweckten, Berlin sei eine Stadt auf dem Roten Planeten.
Nele nahm einen prüfenden Atemzug.
Immerhin, die Luft auf dem Mars war halbwegs okay. Ein Mundschutz wäre ihr übertrieben vorgekommen, obwohl sie auf der Fahrt bereits ein paar Menschen damit gesehen hatte.
Sie band sich das Tragetuch um und nahm ihren schlafenden Sohn aus dem Kindersitz auf der Rückbank. Als sie ihn ins Tragetuch schob, meldete sich ihr Rücken. Lasse war inzwischen sieben Monate alt und wog jetzt fast acht Kilo. Instinktiv ruckelte sich der Kleine zurecht und drückte sich an sie.
Nele schloss die Autotür und wandte sich der Schule zu, einem klotzigen grauen alten Bau aus der Jahrhundertwende. Die Nachmittagsbetreuung war gerade zu Ende, und Kinder tröpfelten aus der Rundbogentür und liefen die kurze Treppe hinab. Ein paar Meter von Nele weg stand ein junger Mann mit Basecap und einem flaumweichen Tu-so-Bart, der sein Handy zückte und zur Schultür blickte. Er kam ihr irgendwie unreif und für einen Vater deutlich zu jung vor.
Nele fragte sich, welches Kind wohl zu ihm gehörte. Vielleicht holte er auch nur ein jüngeres Geschwister ab.
In diesem Moment kam Milla durch die Tür. Sie trug einen Schulranzen auf dem Rücken und blickte sich suchend um. Milla war jetzt acht, und gemessen an Lasse kam sie Nele geradezu erwachsen vor. Nele hob die Hand und winkte, im selben Augenblick bekam Milla etwas von hinten an den Kopf, ein paar braune Spritzer flogen durch die Luft, und dann landete ein kleiner, halb aufgerissener Tetra Pak neben ihr. Milla blieb stehen, als wäre sie vor eine Wand gelaufen. Hinter ihr traten zwei Jungs feixend aus der Schultür. »Grüß schön zu Hause«, rief der eine, ein schlaksiger Junge mit Undercut. Er trug ein hellblaues T-Shirt mit der Aufschrift Falcon.
»Ja, die bekloppte Omma«, lachte sein deutlich kleinerer Kumpel.
Neles Herz zog sich zusammen. Dass Milla allein mit ihrer halb dementen Großmutter zusammenleben musste, war schon Strafe genug, aber das hier war wirklich zu viel. Milla rührte sich nicht, ertrug es stumm und schien abzuwarten, bis alles vorbei war. Der kleinere der Jungs lief an ihr vorbei und rempelte sie an, und Nele wollte die beiden scharf zurechtweisen, da sah sie, dass Milla ganz leicht ihr rechtes Bein herausstellte. Der Schlaksige, der gerade an ihr vorbeilief, reagierte zu spät, stolperte, stieß einen überraschten Schrei aus und fiel vornüber die Treppenstufen hinab.
Nele rutschte ein verblüfftes Lachen heraus. Im selben Moment registrierte sie, dass der Typ mit der Basecap die ganze Szene mit seinem Handy filmte.
Der Schlaksige rappelte sich wütend auf und rieb sich die Ellenbogen. »Ey, du blöde Hirni-Schlampe. Jetzt biste fällig.«
Nele hatte endgültig das Gefühl, einschreiten zu müssen, doch Milla hob beide Fäuste dicht vor ihr Gesicht, stellte ihre Füße breitbeinig und etwas versetzt auf den Boden, dabei beugte sie sich mit grimmig entschlossener Miene vor. Himmel, wo hatte sie sich denn das abgeschaut? Bei Mike Tyson? Der Schlaksige, der gerade die Stufen zu ihr hinauflief, blieb zögernd stehen. »Ich kann boxen«, rief Milla warnend.
»Na klar«, rief der Kleinere von unten spöttisch. »Und wer hat’s dir beigebracht? Deine Alzheimer-Omi?«
»Mein Vater ist Polizist, der macht so was dauernd«, krähte Milla.
Nele blieb der Mund offen stehen. Sie beschloss, noch etwas abzuwarten. Solche Mobbingsituationen mit Jungs kannte sie von früher zur Genüge. Wenn Milla das allein schaffte, war das mehr wert, als von einer Erwachsenen gerettet zu werden.
»Ach ja? Und wo ist dein angeblicher Polizisten-Daddy gerade?«, fragte der Schlaksige, der zwei Stufen unterhalb von Milla stehen geblieben war.
»Der holt mich heute ab, du Blödarsch.«
»Huh, jetzt hab ich aber Angst«, sagte der Junge, ging auf Milla zu, hob selbst die Fäuste und fuchtelte damit witzelnd herum. Im selben Moment ließ Milla ihre geballte rechte Faust vorschnellen, traf dabei zufällig eine der Fäuste des Jungen, und ehe der sich versah, prallte ihm die eigene Faust durch den Schwung von Millas Schlag ins Gesicht.
Der Junge stieß einen überraschten Laut aus, stolperte, fiel erneut die Treppe hinab und schrammte sich den Unterarm auf dem Gehweg auf.
Nele konnte sich nur mit Mühe ein lautes Lachen verkneifen.
Hinter Milla war ein Mädchen mit roten Haaren und blasser Haut aus der Tür gekommen. Mit großen Augen sah sie auf den gestürzten Jungen herab. Ein Lächeln huschte über ihr angestrengtes Gesicht. Sie ging an Milla vorbei, flüsterte ihr dabei etwas ins Ohr, dann eilte sie die Treppe hinab.
Diesmal war der Junge nicht so schnell wieder auf den Beinen. »Ey, das gibt Ärger«, brummte er undeutlich, während ihm sein kleinerer Kumpel auf die Beine half.
Milla sah dem Mädchen mit den roten Haaren nach, wie sie die Straße hinunterging.
»Komm schon, die machst du doch voll mit links fertig«, munterte der Kleinere den Schlaksigen auf.
»Nee, lass ma«, brummte der Schlaksige und verrenkte seinen Arm, um die Schürfwunde zu betrachten. »Wann anders.« Dann warf er Milla noch ein genuscheltes »Hirni-Schlampe« zu und trat mit seinem Kumpel den Heimweg an.
»Głupi Dupek«, rief Milla ihm halblaut nach, dann sah sie sich erneut suchend um.
»Hey, Milla. Hier«, rief Nele, überquerte die Straße und ging auf sie zu. Milla strich sich die widerspenstigen dunklen Haare aus dem Gesicht, erkannte sie und schien enttäuscht.
Kein Wunder. Sie erwartete ja Art. Im letzten Jahr war der knurrige Ermittler zu so etwas wie einem neuen Dreh- und Angelpunkt für sie geworden, zumal ihre Mutter spurlos verschwunden und ihr Vater bereits vor langer Zeit abgehauen war. Art hatte Milla ein paarmal nachts im Treppenhaus aufgelesen, weil sie Stress mit ihrer Großmutter hatte. Inzwischen hatte Nele den Eindruck, dass Milla häufiger in Arts Wohnung anzutreffen war als bei ihrer Oma im Stockwerk drunter.
Und nun ließ Art sie ausgerechnet heute im Regen stehen.
»Hey, Milla.« Nele strahlte sie an. »Happy Birthday!«
Milla gab ihr ein halbes Lächeln zurück. »Hallo, Nele. Danke. Wo ist Art?«
»Er kann nicht kommen. Er hat leider ’nen Einsatz, soll ich dir sagen.«
Milla runzelte die Stirn, nahm wie selbstverständlich ein Telefon heraus und checkte die Nachrichten, fand aber offenbar nicht, was sie suchte.
»Alles in Ordnung?«, fragte Nele. »Das hast du gut gemacht, mit den beiden da.« Sie deutete auf die Jungs, die in einiger Entfernung nebeneinander die Straße hinunter gingen. »Ich wollte dich abholen. Gehen wir ein Geburtstagseis essen? Oder einen Kuchen?«
Milla seufzte. »Okee.«
Nele hielt ihr die Hand hin.
»Ich bin doch kein Baby mehr«, sagte Milla, warf ihre Locken zurück und guckte sich um.
»Ich weiß, du bist Mike Tyson.«
»Wer ist Mike Tyson?« Milla runzelte die Stirn.
»Egal, nur so ein Typ. Aber er kann nicht halb so gut boxen wie du.«
Milla zögerte, dann zuckte sie mit den Achseln. »Okee. Weil du es bist.« Sie nahm Neles Hand, und sie schlenderten gemeinsam über die Straße zum Wagen.
»Was hast du den Jungs da vorhin nachgerufen?«, fragte Nele.
»Och, nichts. War nur Geheimsprache.«
»Und was hieß das in Geheimsprache?«
»So was wie Blödmann.«
»Treffend«, meinte Nele und nahm sich vor, die Worte Głupi Dupek zu googeln. »Und wer war das andere Mädchen?«
Millas Gesicht war ein Fragezeichen.
»Die mit den roten Haaren. Die, die dir was zugeflüstert hat.«
»Ach, die. Das war Rosa«, meinte Milla, schien aber nicht bereit zu sein, über Rosa ein weiteres Wort zu verlieren. Der junge Mann mit der Basecap filmte oder fotografierte immer noch. Nele sah sich um. Außer ihr und Milla war niemand mehr da, den er hätte aufnehmen können. Ein ungutes Gefühl...
Erscheint lt. Verlag | 27.3.2025 |
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Reihe/Serie | Art Mayer-Serie |
Art Mayer-Serie | |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Berlin • Ermittlerduo • Killer • Krimi • Mord • Mörder • Serienkiller • Serienmörder • Spannung • Thriller |
ISBN-10 | 3-8437-3098-9 / 3843730989 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3098-3 / 9783843730983 |
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