Fünfmal den Killer überlistet: 5 Strandkrimis (eBook)
800 Seiten
Uksak E-Books (Verlag)
978-3-7389-7946-6 (ISBN)
1
Manhattan, SoHo, 27. April 1999
Ein Mädchen kletterte die Feuertreppe hinauf. Mickey zog den Vorhang noch ein Stück weiter zurück. Das Mädchen hatte hellblondes, langes Haar.
Er blinzelte über die Green Street in die gusseiserne Fassade auf der anderen Straßenseite. Das Mädchen kletterte auf die Gitterrostplattform des dritten Stockwerks. Es trug ein ärmelloses, weißes Kleid, das ihm bis zu den Knöcheln reichte.
Normalerweise hätte Mickey sich darüber gewundert. Immerhin war es Ende April - ein nasskalter Wind fegte seit Tagen durch Manhattan. Aber Mickey wunderte sich nicht. Fast war ihm, als hätte er nichts anderes zu sehen erwartet, als er sich wenige Augenblicke zuvor aus dem Bett geschoben und zum Fenster geschleppt hatte. Nichts anderes, als dieses Wesen in dem ärmellosen Kleid und mit dem blonden Langhaar.
Das Mädchen trat an die Brüstung. Seine Hände schlossen sich um die Aluminiumholme der Rettungsplattform. Es stützte sich auf und sah zu Mickey herüber.
Mickeys Apartment lag ebenfalls im dritten Stock. Sie befanden sich also auf gleicher Höhe. Er winkte. Das Mädchen reagierte nicht. Eine Windböe wehte ihm das Langhaar ins Gesicht. Das Mädchen machte nicht einmal Anstalten, sich die Strähnen aus Augen und Stirn zu streichen.
Mickey schob das Fenster hoch. Er beugte sich heraus. Es stank nach Abgasen und Ozean. Unten auf der Green Street wälzte sich eine Blechschlange vorbei. Lauter Pendler, die versuchten den Stau auf dem Broadway zu umfahren. Die abendliche Rushhour hatte die Stadt bereits im Griff. Mickey hatte lange geschlafen.
"Hi!" Er winkte noch einmal. "Wie geht's so!?" Das Mädchen reagierte nicht. Reglos stand es an der Brüstung und sah zu ihm herüber. Mickey kniff die Augen zusammen. Er hatte bis gegen Morgen gearbeitet, dabei viel zu viel Gras geraucht, und sich danach schlaflos auf der Matratze gewälzt. Sein Kopf dröhnte, das Bild des Mädchens verschwamm vor seinen Augen. Er hätte gern sein Gesicht gesehen.
"Moment - nicht weglaufen!" Er ruderte mit beiden Armen. "Ich komm' gleich zurück!" Über Bücher, Magazine, leere Flaschen, Kleider, Schuhe und CD-Hüllen hinweg stolperte er zu seinem Kleiderschrank. Er riss die rechte Tür auf. Seine Rechte tastete sich durch das Chaos im obersten Schrankfach. Zwischen Tabaksdosen, Pistolen, Wasserpfeifen, und Camping-Ausrüstung fand er endlich seinen Feldstecher. Er stürzte zurück ans Fenster, setzte die Gläser an die Augen und spähte hinüber in die gusseiserne Fassade. Das Mädchen war weg.
So begann der Tag, an dessen Ende Michael Jefferson Archer begreifen würde, dass er dazu ausersehen war die Welt zu retten.
Bis zu dieser Einsicht war es noch ein Weilchen hin. Noch begriff Mickey gar nichts. Vor allem begriff er nicht, wo das Mädchen geblieben war.
Jedes einzelne Fenster der gegenüberliegenden Hausfassade suchte er mit dem Feldstecher ab, jede Treppe des Feuerleitersystems, jede Plattform, die Dachkante, auch den Bürgersteig vor dem Haus. Nichts.
Ratlos blickte er noch ein Weilchen hinüber. Dann warf er seinen Feldstecher auf die Matratze und zog das Fenster herunter. "Schade", murmelte er.
Das Ticken seines altmodischen Weckers drang in sein Bewusstsein. Ein golden glänzendes Ding mit römischen Ziffern und zwei Glocken rechts und links des Bügels. Mickey bückte sich und fischte ihn aus dem Durcheinander von Büchern und Kleidern neben seiner Matratze. Kurz nach vier. Um fünf hatte er ein Date im >Actor's Studio< am Washington Square. Fechtunterricht war angesagt.
Er nahm ein paar Äpfel und eine Flasche Wasser mit ins Badezimmer. Während das heiße Wasser in die Wanne strömte, betrachtete er sich im Spiegel. "Morgen, Mickey. Alles klar?"
Er drückte die Zahncreme auf seine Zahnbürste. Die Zahnbürste war schwarz, genau wie die Kacheln des Badezimmers und das Kunststoffregal hinter der Badewanne. Hingebungsvoll putzte er sich die Zähne. Dabei beobachtete er sein Spiegelbild. Etwas daran verwirrte ihn. Etwas war anders als sonst. Er zog die Zahnbürste aus dem Mund und beugte sich über das Waschbecken dem runden Spiegel entgegen.
Ein schmales, hohlwangiges Gesicht blickte ihm entgegen. Große, leicht gebogene Nase, breiter Mund mit farblosen, rissigen Lippen, ein kleines Kinn mit einem kurzen Ziegenbärtchen. Das Gesicht eines Halbwüchsigen. Dabei stand Mickeys sechsundzwanzigster Geburtstag ins Haus. Am zweiten Mai. Er hatte eine Fete geplant.
Als wollte er die Wirklichkeit des Spiegelbildes überprüfen, strich er sich über sein dunkles Stoppelhaar. Die Hand, die im Spiegel das Gleiche tat, kam ihm fremd vor. Hatte er schon immer solch große, langgliedrigen Hände gehabt?
Neben Mickey plätscherte das Wasser in die Wanne. Wasserdampf stieg auf. Der Spiegel beschlug sich. Das Gesicht darin verschwand hinter einer Nebelwand. Mit der flachen Hand wischte Mickey über die feuchte Schicht auf dem Spiegelglas. Ein bogenförmiger, breiter Streifen entstand. Braune Augen blickten ihm daraus entgegen. Braune Augen unter schwarzen Brauen und einer hohen Stirn.
Die Augen waren es. Der gehetzte Ausdruck war aus ihnen verschwunden. Seit Wochen gehörte dieser Ausdruck zu Mickey wie die Krümmung seines Nasenrückens oder sein kurz geschorenes Haar zu ihm gehörte. Jetzt war er verschwunden.
Sanft und ruhig lächelten ihm die Augen aus dem wasserdampffreien Streifen im Spiegel entgegen. Fast friedlich. Genau – friedlich ... Wie die Augen eines Menschen, der ganz und gar in sich selbst ruhte.
Selten hatte Mickey so etwas wie Frieden empfunden. Und schon gar nicht ruhte er in sich selbst. Noch nie. Sein ganzes Leben lang nicht. Staunendes Lächeln flog über das Gesicht im Spiegel. "Hey, Mickey", murmelte er, "du bist ja tierisch gut drauf heute ..."
Noch etwa zwei Stunden trennten ihn von der Schwelle zu seiner wahren Existenz.
Später in der Badewanne - Mickey nahm täglich ein heißes Bad, selbst im Hochsommer - versuchte er sich an seine Träume zu erinnern. Irgendetwas war da gewesen, während der wenigen Stunden Schlaf. Irgendetwas Bedeutungsvolles. Ein Bild, ein Gesicht, Bruchstücke eines Satzes. Das Bild des Mädchens auf der Feuerleiter drängte sich in seine Grübeleien.
Je länger er grübelte, desto gewisser glaubte er sich zu erinnern, von dem Mädchen geträumt zu haben.
Er trank Wasser und aß drei Äpfel. Seit sieben Tagen ernährte Mickey sich nur von Obst. Ohne besonderen Grund, einfach so. Seine Gedanken kreisten um das Mädchen. Er fragte sich, ob der ungewohnte Ausdruck in seinen Augen mit dem weißgekleideten, blonden Wesen zusammenhing.
Nach dem Bad zog er sich an. Schwarze Polycotton-Hosen, schwarzes Muskelshirt, schwarzes Leinenhemd, schwarzes Jackett, dunkelrote, knöchelhohe Turnschuhe. Mickey liebte Schwarz.
Während er in seine Kleider stieg, wanderte sein Blick zum Fenster. Wieder und wieder. Über die Green Street zur gusseisernen Fassade auf der anderen Straßenseite. Keine Spur mehr von dem Mädchen. Aber es war da, Mickey spürte es, irgendwo, ganz in seiner Nähe ...
Der Wecker - Mickey fragte sich, ob er nicht gestern noch leiser getickt hatte. Kurz vor fünf, es wurde knapp. Yoshiro, sein Fechtlehrer, verabscheute Unpünktlichkeit. Mickey warf sich seinen schwarzen Wildlederrucksack über die Schulter, verließ sein Apartment und lief die Treppe hinunter.
Vor den Briefkästen stand Larry Plymouth, der Freak, der seit zwei Monaten über ihm wohnte. Ein Afro, er grüßte und lächelte dabei sogar. Das hatte er noch nie gebracht.
Zwei Briefe im Briefkasten. Einer von seinem Vater, und einer vom >Actor's Studio<. Vor dem Haus blieb Mickey einen Augenblick stehen und schaute noch einmal hinüber auf die andere Straßenseite. Das Mädchen war nirgends zu sehen.
Im Dauerlauf lief er die Green Street bis zur Spring Street hinunter. Und dann die Spring Street bis zur Sixth Avenue. Dort hinunter in die Metro-Station. Die Bahn fuhr in dem Augenblick ein, als er den Bahnsteig erreichte. Mickey hielt das für ein gutes Zeichen. Auch dass er einen freien Platz fand, hielt er für ein gutes Zeichen.
Die Bahn fuhr an. Mickey dachte über die merkwürdige Häufung guter Zeichen an diesem Tag nach. Erst das blonde Wesen auf der Feuerleiter, dann seine Augen im Spiegel, dann Plymouth so freundlich, und jetzt die Bahn und der freie Platz. Das musste etwas zu bedeuten haben, ganz sicher hatte es etwas zu bedeuten. Mickey vermutete, dass es mit dem Mädchen zusammenhing. Ganz stark vermutete er das. Warum sonst spürte er die Gegenwart des Mädchens, obwohl der Zug ihn längst aus SoHo heraustrug?
Er blickte sich um. Das blonde Wesen in Weiß saß nirgends. Fast war er enttäuscht.
Blicke trafen ihn. Er glaubte zu sehen, dass einige Fahrgäste rasch die Köpfe drehten oder senkten oder hinter Zeitungen verschwinden ließen. Als hätten sie ihn zuvor die ganze Zeit beobachtet. Sie schauen mich an, dachte er, sie beobachten mich ... irgendwas ist an mir, das sie fasziniert, das sie beeindruckt ...
Noch knapp vierzig Minuten trennten ihn von seinem wahren Leben.
Er öffnete den Brief von der Schauspielschule. Sie wollten Geld von ihm. Auf über neunhundert Dollar waren seine Schulden bei der Schule inzwischen gewachsen.
Mickey finanzierte seine Ausbildung als Schauspieler hauptsächlich durch Thekenjobs. Seit Anfang des Jahres bediente er hinter der Theke des >Substages<, einer...
Erscheint lt. Verlag | 17.6.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
ISBN-10 | 3-7389-7946-8 / 3738979468 |
ISBN-13 | 978-3-7389-7946-6 / 9783738979466 |
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