Grenzenlos -  Vera Kühne

Grenzenlos (eBook)

Mein Leben als Ärztin in Krieg und Frieden

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
268 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7578-9567-9 (ISBN)
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SUDAN


White Dinka, allein im Busch


Nairobi, 10. Juli 1999. Ines und ich saßen im Frühstücksraum eines bescheidenen, von Schwestern geführten Gästehauses in Nairobi und aßen. Besser gesagt: Sie aß, und ich schaute ihr fasziniert zu, denn sie verschlang gerade die dritte Portion Obstsalat, ohne mich dabei auch nur eines Blickes zu würdigen. Sie war klapperdürr und machte den Eindruck, als sei sie gerade einer Hungersnot entronnen. Ich begann, mich ernsthaft zu fragen, ob das wirklich so eine tolle Idee war, was ich vorhatte. Ines war Krankenschwester und gerade vom Hilfsprojekt in Rumbek zurückgekehrt, wohin ich in den nächsten Tagen reisen sollte. Vorausgesetzt, es würde irgendwann einmal klappen mit meiner Einreiseerlaubnis in den Südsudan. Aber wollte ich da wirklich noch hin? Ines sah gar nicht gut aus …

Ich dachte daran, wie ich vor zwei Wochen von den Maltesern angeheuert wurde. Das ging ruck, zuck, nachdem eine Freundin von mir ihren Einsatz absagen musste und stattdessen mich vorschlug. Ich fuhr nach Köln, überstand einige Interviews, in denen man mich für geeignet befand, und schon war ich als medizinische Koordinatorin und Ärztin für Rumbek engagiert. Im vom jahrelangen Bürgerkrieg gebeutelten Süden des Sudans sollte ich ein Buschkrankenhaus leiten. Oder aufbauen, das war nicht so ganz klar.

Ich selbst hatte mehr Bedenken als die Malteser. Ich war 30, meine bisherige Ausbildung umfasste neben dem Medizinstudium glorreiche zweieinhalb Jahre Chirurgie, drei Monate Anästhesie sowie einen Diplomkurs in Tropenmedizin. Nicht sehr viel, um Krankenhauschefin zu spielen. Noch dazu war ich noch nie »richtig« in Afrika gewesen, wenn man einmal von einem zweiwöchigen Ägyptenurlaub absah. »Mach dir keine Gedanken. Das geht schon. Du hast die richtige Einstellung. Für einen zweiten Chirurgen ist gesorgt«, sagte die Mitarbeiterin im Büro der Malteser fröhlich. Momentan machte ich mir dennoch Sorgen, weil der zweite Chirurg in letzter Minute abgesagt hatte.

Doch beginnen wir von vorn: Von Juni bis Dezember 1999 schickte mich der Malteser Auslandsdienst (MAD) als medizinische Koordinatorin und Leitende Ärztin in den Südsudan. Der MAD, eine Abteilung des Malteser Hilfsdienstes, ist eine kirchliche Nichtregierungsorganisation (NGO), die in mehreren Ländern des Südens (früher »Dritte-Welt-Länder« genannt) Hilfsprojekte betreibt.

Im Sudan herrschte bis 2005 einer der längsten und blutigsten Bürgerkriege Afrikas. Von 1956 bis 1972 und erneut seit 1983 zählte er zu den schwerwiegendsten Konflikten auf dem Kontinent. 2011 wurde das Land geteilt. Der Norden des riesigen Landes, das mehr als siebenmal so groß ist wie die Bundesrepublik Deutschland, ist arabischmuslimisch geprägt, während im schwarzafrikanischen Süden neben den alten Naturreligionen das Christentum Fuß gefasst hat. Lange Zeit wurden die unterschiedlichen Religionen als Ursache für die Auseinandersetzungen angesehen. Mittlerweile ist aber offensichtlich, dass es im Wesentlichen um die reichen Ölvorräte geht, die sich hauptsächlich im mittleren Teil des Landes befinden. Auch die finanziellen und strategischen Interessen anderer Länder spielen eine große Rolle, so dass der Krieg immer wieder von neuem angeheizt wurde. In den Medien hörte man gelegentlich Horrormeldungen über Dürreperioden, Hungersnöte, Sklavenhandel und nicht enden wollende Flüchtlingsströme. Die Meldungen wurden der Realität aber nicht annähernd gerecht. Der Krieg dauerte schon zu lange, um wirklich Schlagzeilen zu machen. Das Interesse der Menschen an offenbar unlösbaren Problemen erlischt nach einer Weile, und dann muss wieder etwas Neues her.

Ziel des Malteser-Projektes war es, die extreme medizinische Notlage in der Bahr-el-Ghazal-Region, in der rund 1,5 Millionen Menschen leben, zu lindern und so weit wie möglich eine medizinische Basisversorgung durch Einheimische aufzubauen. Dafür wurde die ehemalige Distrikthauptstadt Rumbek ausgewählt, in der die Lage zur Zeit meines Einsatzes als relativ stabil galt.

Rumbek hatte vor dem Krieg über 30 000 Einwohner. Doch inzwischen war alles zerstört, es gab keine Infrastruktur, keine Schulen mehr. Als Nomaden zogen die Menschen wie einst mit ihren Rinderherden von Ort zu Ort, immer auf der Flucht und zwischen den Fronten der Volksbefreiungsarmee SPLA (Sudanese People’s Liberation Army) und den Soldaten der offiziellen Regierung aus dem Norden. Aber die meisten Menschen starben nicht durch direkte Kampfhandlungen, sondern durch deren indirekte Folgen wie Hunger und mangelnde medizinische Versorgung. An diesen Zuständen hat sich bis heute nicht viel verändert, obwohl sich im Oktober 2005 die Truppen des Nordens aus dem Süden zurückzogen und 2011 der Südsudan seine politische Autonomie erklärte. Es wird viele, viele Jahre dauern, um das wieder aufzubauen, was in diesem Land – und an seinen Menschen – zerstört worden ist.

Am 6. Juli 1999 hätte ich zusammen mit Robert, einem Techniker aus Uganda, in den Sudan fliegen sollen, aber es kam anders. Der »Präsident« des Office der SRRA (Sudanese Relief and Rehabilitation Association), die sich damals als Regierung des Südsudans ansah und damit auch für Einreise- und Arbeitserlaubnis zuständig war, ließ uns erst ewig vor seinem Büro auf zwei Arme-Sünder-Bänkchen warten und erklärte dann in blumenreichen Worten, wir seien im Südsudan unerwünscht.

Nur der Bischof von Nairobi, Cesare Mazzolari, ein alter, ziemlich kranker Italiener, konnte uns helfen. Wir suchten ihn in seinem Haus auf. Er war mir sofort sympathisch. Er war ein echter Hirte. Man merkte, dass ihm seine Schäfchen wirklich am Herzen lagen. Er zeigte uns Fotos vom ersten Gottesdienst in Rumbek, bei dem er das im Aufbau befindliche Krankenhaus und die Menschen dort gesegnet hatte. Das war ihm sehr wichtig, und er erzählte mit leuchtenden Augen und viel Enthusiasmus von den Fortschritten, die dort seit Beginn der Baumaßnahmen vor drei Monaten stattgefunden hatten. Es waren die ersten positiven Bilder und Geschichten über Rumbek, die ich sah und hörte.

Wir berichteten ihm von dem Vorfall im Regierungsbüro. Er war traurig und besorgt, aber nicht hoffnungslos. Ich hatte den Eindruck, er konnte die Situation weit besser einschätzen als wir, kannte die Zusammenhänge und die Art, wie die Leute hier dachten. Ein weiser, alter Mann, ich war sehr beeindruckt.

Er schaffte es tatsächlich, uns die Papiere zu besorgen.

Nach drei Tagen bekamen wir endlich die Einreiseerlaubnis. Etwas gedämpft wurde meine Stimmung durch einen Anruf der Malteser aus Köln: der zweite Chirurg hatte abgesagt. Sie fragten mich ganz munter, ob ich nicht zusätzlich zu meinem Koordinationsjob operieren könnte. Zum Schluss sprachen sie noch eine Warnung aus: Die Lage im Südsudan sei sehr gefährlich. Tatsächlich aber war ich weit mehr geschockt, dass wir jetzt keinen zweiten Chirurgen mehr im Krankenhaus hatten. Genauso hatte ich mir das nicht vorgestellt! Mit zweieinhalb Jahren chirurgischer Erfahrung hatte ich derartige Aufträge kategorisch abgelehnt. Aber was war die Alternative? Zuschauen? Meine Bedenken wurden von Tag zu Tag größer, aber jetzt, da wir nach all den Mühen endlich einreisen durften, konnte ich mich nicht einfach weigern.

Halb 7 Uhr morgens am 14. Juli ging es dann tatsächlich für Robert, den Techniker aus Uganda, und mich los. Zuerst von Nairobi mit dem Flugzeug nach Lokichoggio oder kurz: Loki, einem Ort an der kenianisch-sudanesischen Grenze, der sich im Zuge des Bürgerkriegs von einer Wasserstelle zum Dreh- und Angelpunkt verschiedener Hilfsorganisationen gewandelt hatte. Während des ungemütlichen Fluges überlegte ich: »Bist du bescheuert? Was machst du eigentlich hier? Du könntest jetzt in Bamberg auf dem Spezi-Keller sitzen und bei einem kühlen Bier den Sommer genießen …«

Nach einigen Stunden Warterei in Loki bestiegen wir in Begleitung von Bischof Cesare Mazzolari sowie einem halben Dutzend Ordensschwestern und etlichen Brothers und Fathers ein zweites Flugzeug. Ein Absturz erschien mir angesichts derart geballten Gottvertrauens trotz des zweifelhaften Zustandes unseres Transportmittels eher unwahrscheinlich. Wir saßen eingepfercht dort, wo unter normalen Umständen die Passagiersitze zu erwarten sind, verkeilt zwischen Koffern, Kisten, Bananen, Ananas und einem Fahrrad. Durch die nicht vorhandene Cockpit-Tür hatte man freie Sicht auf den Piloten, der mir eine Cola-Dose als Proviant zuwarf. Alternativ, sagte er, könne er auch als »richtige Stewardess« durch »die Reihen« gehen und derweil den Autopiloten einschalten. Mir war’s dann doch lieber mit Zuwerfen. Als Zeichen besonderer Ehre wurde ich neben dem Bischof plaziert, der sofort anfing, mir seine Kamera zu erklären, ganz offensichtlich sein liebstes Spielzeug. Das ging bis ins Detail, und nach einer Dreiviertelstunde hatte er immer noch nicht alle Knöpfchen und Hebel erläutert. Inzwischen war mir ganz erbärmlich übel. Mir wurde nicht leicht schlecht, aber das ständige Auf und Ab, bei einer Hitze und Bewegungsfreiheit wie im...

Erscheint lt. Verlag 15.3.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
ISBN-10 3-7578-9567-3 / 3757895673
ISBN-13 978-3-7578-9567-9 / 9783757895679
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