Abo Calypso (eBook)
280 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7526-5351-9 (ISBN)
I. EIN HANDVERLESENES TEAM
ELFMETER
Alles begann in der 89. Minute …
Das Stadion war komplett ausverkauft. Schafdecker lag im Strafraum und hielt sich das Schienbein. Erst vor zwei Minuten war der neue Star des Rekordmeisters beim Spielstand von 0:0 eingewechselt worden. Er sollte das Ruder im letzten Moment herumreißen; ein inakzeptables Unentschieden vermeiden.
Das Foul brachte die Gemüter zum Kochen. Auf der Reservebank wurden Fäuste geballt und Verwünschungen ausgestoßen. Ein infernales Pfeifkonzert brachte die Luft zum Vibrieren. Im Fanblock gegenüber wurden die ersten bengalischen Feuer entzündet.
„Schöne Scheiße, wenn du dir für zehn Riesen am Tag aufs Maul hau'n lassen musst!“
„Ey, der kriegt nicht die Schnauze voll. Der is'n verfickter Schauspieler.“
„Echt?“
„Logo!“
Dr. Dietmar Vollmer, seines Zeichens Gynäkologe, wies energisch in Richtung des Elfmeterpunktes. Daraufhin wurde die Pfeifkanonade von ohrenbetäubendem Jubel abgelöst. An der Außenlinie sammelten sich die Reservespieler des Meisterclubs. In der Coaching-Zone streunte Trainer Falldrapp mit hochrotem Kopf hin und her. Aus der gegnerischen Fankurve flogen die ersten Böller auf den Rasen. Einer davon verfehlte Schafdecker nur um Haaresbreite.
„Hast du gesehen?“
„Mächtig was los!“
„Hat sich voll gelohnt, ey!“
„Du sagst es, Mann!“
Schafdecker legte sich konzentriert den Ball zurecht, nahm Anlauf und bolzte die Kugel ins obere linke Eck. Unhaltbar! Falldrapp riss die Hände in die Höhe, seine Spieler am Spielfeldrand taten es ihm gleich. Dr. Vollmer warf einen prüfenden Blick auf sein Handgelenk. Eine Kakophonie aus Wut und Begeisterung sprengte die Gehörnerven.
Ali drückte seine Zigarette am Rücken seines Vordermanns aus. „Komm, Alter, sonst fangen die ohne uns an!“
T.I.S.C.H. vergrub die Hände in den Hosentaschen, zog sich die Kapuze über und folgte seinem Kumpel an die Front. Der Schlusspfiff des Schiedsrichters ging im Gebrüll der Massen unter. In Endlosschleife flimmerte das Elfmetertor in Slo-mo über die Videowände. Aus den Lautsprechern dröhnte unhörbar We are the Champions. Der Hexenkessel brodelte; die Schlacht konnte beginnen.
Während die Ordner kurzerhand überrannt wurden, erstürmte ein Teil der Zuschauer die Rasenfläche. Der Rest versuchte, das Stadion unversehrt zu verlassen, was von Hundertschaften der Polizei erfolgreich verhindert wurde. Die rivalisierenden Lager standen sich augenblicklich an den neuralgischen Punkten gegenüber, nämlich dort, wo am meisten Schaden angerichtet werden konnte: an Aus-, Ein- und Übergängen. Einzig die Spieler mit ihren Trainer-Crews, das Schiedsrichtergespann und die Gäste der VIP-Lounge (wozu neben den Vereinsfunktionären auch die Spielerfrauen zählten) fand Schutz und Sicherheit in den Eingeweiden des Stadions, umringt von einer zu allem bereiten Security.
T.I.S.C.H. ging in sich. Während um ihn herum Zähne knackten, die ersten Platzwunden klafften und Hämatome erblühten, konzentrierte er sich auf seinen Kampf. Er war nicht sonderlich kräftig; er war schnell – unglaublich schnell. Anton aus Polen (genauer gesagt aus Warschau) hatte sich innerhalb weniger Jahre mit seiner Gang bis ganz nach oben geprügelt. Ihm hatte er es zu verdanken, dass er ohne Waffen kämpfen und siegen, verletzten und töten konnte. Apropos Tod: T.I.S.C.H. war kein Mörder. Er wollte Anerkennung, Spaß und Abwechslung, weiter nichts.
Tief in sich drinnen spürte er der Kraft nach, die stets darauf wartete, entfesselt zu werden. Er stellte sie sich als leuchtend weiße Kugel vor, die sich in seinem Bauch manifestierte, anschwoll und letztlich Arme und Beine wie Stromschläge durchzuckte. T.I.S.C.H. hörte, sah und spürte nichts, bis er die Augen öffnete und mit einem ersten gezielten Schlag sein Gegenüber auf die Bretter schickte. Dabei war es völlig gleichgültig, wer diese Gegner waren. Während er sich im Kampfmodus befand, gab es nur ihn – und den Rest der Welt. Einmal hatte er sogar Ali die Fresse poliert, aus Versehen. Nachher hatten sie sich zwei Flaschen Wodka an der Tanke geklaut und in Alis Bude volllaufen lassen.
T.I.S.C.H. hob den Kopf, öffnete die Augen und schlug zu. Die Nase seines Gegenübers zersplitterte. Ein Schwall Blut ergoss sich aus den zerfransten Löchern. Er fuhr herum, penetrierte ein weiteres Konterfei mit Stakkato-Schlägen, schwang in die Ausgangsposition zurück, tauchte vor einer Eisenstange ab, rollte zur Seite, sprang erneut auf die Füße und brach mit einem Fußkick den Unterkiefer des Angreifers. Er war mitten im Hier und Jetzt, fühlte sich lebendig und großartig. Was gab es Schöneres, als das Leben hautnah zu spüren?
Just in diesem Augenblick drang der Schmerz in sein Bewusstsein. T.I.S.C.H. konnte verdammt viel einstecken. Es war nicht die Art von Leiden, wie sie Knüppel, Schläge oder Tritte hervorriefen; es war die Pein, wie er sie aus seiner Kindheit kannte …
*
„Schafft mir augenblicklich diesen Vollidioten aus den Augen“, stöhnte der Mann und presste sich die Hand vor das rechte Auge, das im Nu anzuschwellen begann.
„Wir haben nichts mehr frei“, beteuerte die Frau.
„Ab in den Gang mit dem Kerl“, gab der Arzt unwirsch von sich.
„Und wenn er keine Ruhe gibt?“, meinte die Schwester.
„In die Klapse, fertig – der Nächste …“
T.I.S.C.H. ahnte, wo er sich befand. Glauben konnte er nicht wirklich daran. Hatte man ihn tatsächlich kaltgestellt? Das war ihm bisher nie passiert. Abschürfungen, Blutergüsse, geprellte Gliedmaßen, Schmerzen von der kleinen Zeh bis zum obersten Haarschopf gehörten dazu. Aber wie zum Teufel war er in dieses Krankenhaus geraten? Jemand musste seinen Abgang im Tumult mitbekommen haben. Wer in drei Teufels Namen sollte sich ausgerechnet um ihn kümmern?
T.I.S.C.H. wollte sich im Bett aufsetzen, um sich über seine Lage die letzte Gewissheit zu verschaffen, als eine Hand ihn sachte daran hinderte.
„Bleib ruhig liegen“, sagte jemand neben ihm.
T.I.S.C.H. wollte die Hand hinwegfegen, wollte zuschlagen, da blickte er in das Gesicht seines Gegenübers. „Was bist du denn für einer?“
„Ich bin Simon“, sagte Simon und lächelte.
„Hä?“ T.I.S.C.H. ließ die Hand sinken und legte seinen Kopf auf das Kissen zurück.
„Ein Freund“, fügte Simon hinzu.
„So'n Sozialfuzzi vom Krankenhaus? Ey, ich brauch dich nich. Ich will hier raus, kapiert?“
„Später“, sagte Simon mit milder Stimme.
„Sofort!“, beharrte T.I.S.C.H. „Keiner wird mich hier festhalten. Du schon gar nich!“ Er ballte die Hand zur Faust, ließ sie jedoch sogleich zurücksinken. Er fühlte sich schlapp. Über ihm flimmerte eine defekte Neonröhre. „Gibts hier vielleicht was zu saufen?“, fragte er stattdessen.
„Ich könnte eine Tasse Tee organisieren“, antwortete Simon.
T.I.S.C.H. versuchte zu lachen. „T-e-e? Ich hab seit hundert Jahren kein Tee getrunken, falls ich's überhaupt jemals gemacht hab! Ey, wo ham se dich denn rausgelassen?“
„Auf was hättest du Lust?“
„Auf Whisky, Alter!“
Simon lächelte wieder. „Ein Gläschen?“
„Ein Gläs…?“, versuchte T.I.S.C.H. ihn nachzuäffen, verschluckte sich jedoch und fing fürchterlich zu husten an. „Eine … Flasche, du Kaspar“, würgte er hervor.
Simon wartete geduldig, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte. „Leider gibt es hier keinen Whisky, weder ein Gläschen noch eine Flasche.“
„Wodka tut's auch!“, presste T.I.S.C.H. hervor und starrte verbissen an die Wand gegenüber. „Mann, Mann, Mann!“
„Hast du schlimme Schmerzen?“, erkundigte sich Simon bei dem Patienten.
„Was gehts dich an?“, konterte der. „Kümmre dich um dein Scheiß.“
„Ich bin dir zugeteilt worden“, sagte Simon gelassen.
„Vom Krankenhaus, klar.“
„Nein.“
„Von den Bullen“, resümierte T.I.S.C.H. „Du sollst aufpassen, dass ich mich nich dünne mach, stimmt's?“
„Nein.“
„Shit“, sagte T.I.S.C.H. und holte Luft. „Sobald du verduftest bist, bin ich verschwunden, capito?“
„Ich bleibe.“
„Das will ich aber nich“, zischte T.I.S.C.H. zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Tut mir leid, aber ich muss darauf bestehen“, beharrte Simon.
„Fuck!“, rief T.I.S.C.H. „Kann mir jemand mal den Kerl vom Hals schaffen?“ Er stemmte sich auf die Unterarme, hielt sich mit einer Hand am Galgen fest und suchte den Flur ab. Vorne am Stationszimmer erkannte er die Krankenschwester, die ihn von der Notaufnahme...
Erscheint lt. Verlag | 11.11.2020 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
ISBN-10 | 3-7526-5351-5 / 3752653515 |
ISBN-13 | 978-3-7526-5351-9 / 9783752653519 |
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