Man kann nicht wissen, was die nächste Minute bringt -

Man kann nicht wissen, was die nächste Minute bringt (eBook)

Die Feldpostbriefe des Hauslehrers Oscar Spiegel an seine Schüler

Uwe Grund (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
240 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7528-1947-2 (ISBN)
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Der Erste Weltkrieg: Über 1000 Kilometer hinweg gehen regelmäßig Briefe von der Westfront nach Schlesien, von Lothringen und Flandern nach Hirschberg am Fuße des Riesengebirges und Oberhermsdorf b. Haynau - anrührende und anschauliche Berichte vom Alltag des 'großen Sterbens', das 1914 beginnt und erst nach Jahren ein jähes Ende findet. Briefverfasser ist der angehende Mathematiker, Hauslehrer und spätere Leutnant der Reserve Oscar Spiegel. Wie die ursprünglichen Leser, seine beiden ehemaligen Schüler, begleiten wir seinen Weg von der Ausbildung zum Artilleristen in Erlangen über die Kämpfe in den Schützengräben und auf den Schlachtfeldern an Maas und Somme bis zum Flugzeugführer in der 'Kgl. Bayer. Flieger-Ersatz-Abteilung'. Diese Briefedition versucht in Kommentaren und Abbildungen familiengeschichtliche Dokumente als zugleich zeitgenössische Zeugnisse einer zwar untergegangenen, doch wirkungsmächtigen Epoche aufzubereiten. Orts- und Personenregister erschließen den Text und betten ein Einzelschicksal in einen größeren historischen Kontext ein.

Zur Einführung


Unter den nachgelassenen Habseligkeiten meines gegen Ende der 1950er Jahre gestorbenen Onkels befand sich ein Bündel von Briefen, die, in deutscher Schreibschrift gehalten, auf fast wundersame Weise über viele Jahrzehnte, nunmehr ein Jahrhundert lang, erhalten geblieben sind. Sie stammen aus der von den Zeitgenossen „Völkerkrieg“, später, als man die Weltkriege numerieren mußte, „Erster Weltkrieg“ genannten Zeit. Im Briefkopf tragen sie Ortsbezeichnungen wie „St. Mihiel“, „Fort Camp des Romains“, „Im Bois d’Ailly“, „Im Biwak an der Somme“ oder ähnliches. Die zahlreichen Gedenktage, die mit Namen wie „Marne“, „Somme“, „Verdun“, „Ypern“ usw. verknüpft sind, rufen uns diese Epoche mit ihren leidvollen und traumatischen Ereignissen wieder ins Gedächtnis. In jüngster Zeit sind Gesamtdarstellungen des „Großen Krieges“ erschienen und finden ein nur auf den ersten Blick erstaunlich großes Lesepublikum. Die Epoche scheint uns eher näherzurücken, als daß sie als vergangene Vergangenheit empfunden würde. Die Arbeiten von Christopher Clark, Jörg Friedrich, Herfried Münkler und anderen erlauben uns die Einordnung von privaten Zeugnissen in diese „Urkatastrophe Europas“.

Verfasser der hier edierten Briefe ist der Student und Feldsoldat Oscar Spiegel. 1890 als Sohn des Pfarrers Richard Spiegel und seiner Frau Letty Spiegel, geb. Gruber, im mittelfränkischen Kirchensittenbach zur Welt gekommen, absolvierte Spiegel, nach Schulbesuchen in Windsbach, Augsburg und Erlangen, ein mathematisches Studium, das ihn nach Breslau führte. Nachmals bedeutende Mathematiker wie Max Born, Otto Töplitz und Ernst David Hellinger hatten wenige Jahre vor ihm die Schlesische Friedrich-Wilhelms-Universität als Studienort gewählt. Dieser Alma mater war die Familie der Briefempfänger insofern verbunden, als ein Vorfahr, der Theologe David Schulz, nach der Vereinigung der Frankfurter Viadrina und der Leopoldina im Jahre 1811 mehrmals Dekan und auch zweimal Rektor war. Als die Briefe im Sommersemester 1914 einsetzen, ist Spiegel 24 Jahre alt, somit höheres Semester, und sein Vater drängt ihn, Schlesien zu verlassen und als Landeskind die bis zum Examen verbleibenden drei Semester in Erlangen oder München zu verbringen. Der August dieses Jahres ändert alles.

Briefadressaten sind neben dem erwähnten Onkel auch dessen Bruder, mein Vater. Etwa zwei Jahre lang, von 1912 bis 1914, war Spiegel Hauslehrer des Brüderpaars, sozusagen als Werkstudent, der sich damit die Mittel für sein weiteres Studium verdiente. Wie die Verbindung zu der auf dem Rittergut Oberhermsdorf bei Haynau in Schlesien lebenden Familie zustande gekommen ist, wissen wir nicht. Wohl aber, daß Spiegel zum engeren Familienkreis zählte, einen großen Teil seiner Frei zeit im Hause verbrachte und auch alle Feiertage, das Weihnachtsfest eingeschlossen, bei und mit seinen Schülern in Hermsdorf beging. Zu Ostern 1914 wechselten die damals 13 und 11 Jahre alten Jungen auf ein Internat, das Gymnasium in Hirschberg zu Füßen des Riesengebirges („Contessastr. 1II“ findet man zumeist als Empfänger-Adresse angegeben). Es entwickelt sich, noch in Friedenszeiten, ein lebhafter Briefverkehr. Erhalten sind ein gutes halbes Hundert Briefe aus der Feder Spiegels. Das ist vermutlich etwa die Hälfte der ursprünglichen Korrespondenz, deren fehlende Stücke als definitiv verloren gelten müssen. Im Durchschnitt alle vierzehn Tage schreibt er, zunächst von Breslau aus, wo er seine Schützlinge aus der Ferne mit Instruktionen in der ersten schwierigen Zeit im Gymnasium versieht, dann von Erlangen aus, wo er beim „10. Bayerischen Feld-Artillerie-Regiment“ eine mehrwöchige Ausbildung zum „Richtkanonier“ durchmacht. Ab Ende Oktober 1914 kommt die Feldpost von der Westfront, zunächst noch in kürzeren, ab 1916 in größeren Abständen. Der letzte Brief trägt das Datum „Schleißheim, am 24. März 1917“.

Bei Ausbruch des Krieges kämpfte die 6. Armee, ein bayerischer Heeresverband, zunächst an der lothringischen Front, weshalb wir den Briefverfasser für lange Zeit hier auf dem Kriegsschauplatz östlich der Maas (Meuse) finden. Stationiert ist er die meiste Zeit in St. Mihiel und dessen Umgebung, „eingekeilt zwischen Toul und Verdun“, wie es in einem der Briefe heißt. Ab dem Sommer 1916 kommen die Feldpostbriefe, leider sporadisch, aus dem nördlichen Frankreich. Sehr wahrscheinlich hat Spiegel, bedingt durch die neue militärische Lage, seltener schreiben können. Seine Einheit liegt zunächst im nördlichen Frankreich, in der Nähe von Arras und Lille. Im September 1916 kämpft er an der Somme, wo er, den englischen Linien gegenüberliegend, an den Kämpfen um den Delville-Wald teilnimmt. Dann wird er, noch im September des Jahres, nach Valenciennes abkommandiert, wo er einen Kurs zum Flieger mitmacht – ein lange gehegter Wunsch. Nach Rückkehr an die Front ist er, mittlerweile zum Leutnant der Reserve befördert, „Verbindungsoffizier der Artillerie-Gruppe zur Infanterie“. Dann wird er für Mitte März 1917 zu einem Kurs als „Beobachter im Flug zeug“ für 14 Wochen nach Schleißheim abkommandiert. Dort verunglückt er am Gründonnerstag des Jahres 1917 tödlich.

Der Briefschreiber vertritt den für die deutsche Bildungsgeschichte bis zur Einführung der allgemeinen Schulpflicht in der Weimarer Republik so bedeutsamen Typus des Hauslehrers. Wir finden hier berühmte Namen wie Kant und Hölderlin. Voraussetzung war im allgemeinen, daß der Privatlehrer die klassischen Sprachen Latein und Griechisch sowie das damals als moderne Fremdsprache domininierende Französisch beherrschte. Wohl zum letzten Mal werden wir hier, in der ausgehenden Kaiserzeit, Zeugen einer Bildungskonstellation, die wir, merk würdiger Zufall, auch 100 Jahre zuvor bei jenem nachmaligen Professor der Theologie und Consistorialrat zu Breslau, David Schulz, finden und von der ein früher Biograph berichtet: „Im Jahre 1800 wurde er unter Aussichten auf eine nicht ferne Versorgung veranlaßt, eine Hauslehrerstelle […] anzunehmen, und begleitete nach 1½ Jahren seine beiden Zöglinge nach Breslau in eine Privat-Unterrichts-Anstalt, während er selbst fortfuhr, sie zu beaufsichtigen und in der Musik zu unterweisen.“ Auch Spiegels Fähigkeiten reichten ganz offensichtlich aus, ihm anvertraute Zöglinge durch das anspruchsvolle Pensum von Sexta und Quinta zu führen. Der Lehrplan der preußischen Gymnasien von 1901 sah für die 5. und 6. Klasse je acht Stunden Latein vor, zwei Stunden „Rechnen und Mathematik“, vier bzw. drei Stunden „Deutsch und Geschichtserzählungen“, je zwei Stunden „Naturwissenschaften“, „Erdkunde“ und „Religion“. Dazu kamen obligatorisch je zwei Stunden „Schreiben“, drei Stunden „Turnen“ und zwei Stunden „Singen“. Insgesamt hatte die Woche 25 Unterrichtsstunden. Im Anschluß an den Privatunterricht konnte man dann nach einer Aufnahmeprüfung auf eine Höhere Schule wechseln. Hier war das die Quarta (7. Klasse). In die ersten Jahre dieser regulären Schulzeit fallen diese Briefe, die zeigen, mit welcher Anteilnahme und Fürsorge der vom Lehrer zum „Mentor“ gewordene Schreiber den weiteren Weg seiner Schützlinge verfolgt hat.

Auf wessen Interesse, außer im Familienkreis, können Berichte eines Soldaten rechnen, dessen Leben gleich dem vieler Millionen gewaltsam zu Ende ging? Den Tagebüchern und Briefen bekannter Künstler und Schriftsteller (Max Beckmann, Franz Marc, Ernst Jünger, Richard Dehmel, Hans Carossa, Hermann Löns usw.) kann man sie nur bedingt zur Seite stellen. Aber niemand kann wissen, welche Karriere dem begabten, gut beobachtenden und lebhaft schildernden, auch in ersten Versuchen schon journalistisch tätigen Oscar Spiegel versagt geblieben ist. Die hier wiedergegebenen Briefe sind auch insofern etwas Besonderes, als sie sich an zwei Heranwachsende richten, ohne dabei in einen irgendwie um Jugendgemäßheit bemühten Ton zu verfallen. Die im wahrsten Sinne verheerenden – Heere vernichtenden – Wirkungen der modernen Waffen, der grausige Anblick der Gefallenen und Verstümmelten, die Entbehrungen in dem zur Materialschlacht gewordenen Krieg, Zweifel am Erfolg, natürlich Hoffnungen auf ein siegreiches Ende, auch nüchterne Kalkulation der Kosten der „Stahlgewitter“ – all das findet man in diesen Briefen, oft mehrere eng beschriebene Seiten in Anspruch nehmend. Von chauvinistischen Untertönen sind sie frei. Wie ungezählte andere hat sich Spiegel freiwillig zu den Waffen gemeldet. Dann, am ersten Jahrestag der Mobilmachung, freut er sich über Nachrichten aus der schlesischen Wahlheimat als „Lichtblicke im fast eintönigen und entsagungsreichen, oft kümmerlichen Dasein eines Feldsoldaten“. Nach einem weiteren Jahr ist wohl nicht nur der Kampf um minimale Geländegewinne „zweifelhaft“, sind die „Verluste unheimlich“. Es mehren sich die unausgesprochenen und den Horizont der...

Erscheint lt. Verlag 10.7.2018
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
ISBN-10 3-7528-1947-2 / 3752819472
ISBN-13 978-3-7528-1947-2 / 9783752819472
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