Ungeheuer der Tiefsee

Die Sea Swallow lag an der Reede von Kanton, bereit zum Auslaufen. Kapitän Grant lehnte an der Reling und starrte in Gedanken in das faulige Brackwasser des Hafens. Er überdachte das letzte gefährliche Abenteuer der Seeschwalbe und seiner Besatzung mit den Fan Fans, den gelben Piraten des Perlflusses.

Wohl war er durch die Aussage Tsi Fengs, des Anführers der chinesischen Seeräuber, der ein gewagtes Doppelspiel getrieben hatte, einen Schritt weiter gekommen, als dieser unter Zwang mitteilte, dass Laughton, der verschwundene Forscher und Vetter Grants, den dieser in allen Erdteilen suchte, um eine Riesenerbschaft antreten zu können, sich nach Suajang gewandt habe. Dies war eine kleine, verschollene Insel im Sunda-Archipel. Sie musste sehr unbedeutend sein, denn selbst auf den genauen Seekarten, über die die ausgezeichnet ausgerüstete Jacht Lord Pullmans verfügte, war sie nicht zu finden. Was hatte Laughton dazu bewogen, jenes einsame Eiland aufzusuchen? Kapitän Sturmvogel wurde unvermittelt aus seinen Sinnen gerissen, als ihm die Backbordwache meldete: „Capt’n Grant, zwei Männer wollen Sie sprechen. Sie sagen, sie hätten Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen, das für Sie von großer Bedeutung wäre. Sie warten am Landesteg. Soll ich sie an Bord lassen? Sie schauen nicht sehr vertrauenserweckend aus, ich habe sie daher auf der Laufplanke warten lassen!“

„Es ist in der Tat seltsam“, unterbrach Kapitän Grant den Matrosen, sich langsam aufrichtend. „Seit Tagen liegen wir hier im Hafen und ausgerechnet jetzt, da wir in einer knappen Stunde auslaufen, tauchen plötzlich zwei Unbekannte auf, die mir angeblich etwas Wichtiges zu melden haben! Wir müssen auf der Hut sein. Wenn wir auch den Fan Fans einen schweren Schlag versetzt haben, so glaube ich doch nicht, dass sich eine so mächtige Verbrecherorganisation dadurch von weiteren Untaten abschrecken lassen wird. Ich vermute im Gegenteil, dass der Schwarze Drache alles daransetzen wird, sich an der Seeschwalbe und seiner Besatzung zu rächen. Dazu kommt außerdem noch, dass uns dieser schurkische Halunke Tsi Feng entkommen ist. Wollen also den beiden auf den Zahn fühlen. Sag der Steuerbordwache, dass sie die Augen offen halten soll, damit wir keine unliebsame Überraschung erleben. Und jetzt führe die beiden in meine Kajüte, bin neugierig, was der Grund ihres Kommens ist!“

„All right, Capt’n.“ Der Matrose nickte und verschwand um die weißen Deckaufbauten der Jacht. Nachdem Kapitän Grant Lord Pullman, Conny, Smart und Ted Storm von dem überraschenden Besuch in Kenntnis gesetzt hatte, erwarteten die vier die beiden Männer in der Kajüte Grants. Smart und Storm saßen in der Nähe der Tür und ihre Rechte war tief in den Taschen ihrer Schiffsuniform vergraben. Diese Geste zeigte, dass sie entschlossen waren, die Ankömmlinge nicht entkommen zu lassen, wenn es sich herausstellen sollte, dass diese etwas Böses planten. Nur Lord Pullman saß lässig in seinem Stuhl zurückgelehnt, den unvermeidlichen schwarzen Zylinder auf dem Kopf, die kurze Shagpfeife im Mundwinkel.

Kurz darauf trat ein buckeliger Seemann ein, dessen Aussehen man seine wahre Nationalität nicht entnehmen konnte. Aber ohne Zweifel schien es ein Weißer zu sein. Das Gesicht hatte etwas Fuchsartiges und sein verschlagener Blick riet zur Vorsicht. In seiner Begleitung befand sich ein schmächtiger Chinese, dem der rechte Unterarm fehlte. An dessen Stelle trug er eine eiserne Prothese, an deren Ende anstatt der Hand und Finger zwei gekrümmte Eisenhaken saßen. Diese mussten im Falle eines Kampfes eine furchtbare Waffe darstellen.

„Was wollen Sie von mir, Mann?“, begann Kapitän Grant das Gespräch, nachdem er die beiden Eintretenden kurz gemustert hätte. „Sie scheinen ein Weißer zu sein. Suchen Sie eine Heuer?“

„No, Capt’n“, sagte der Seemann mit breitem Grinsen, dass seine nikotinbraunen Zähne sichtbar wurden. „Heiße Potter und meine Wiege stand irgendwo in Old Europe. Habe es aber vergessen und bin ganz zufrieden damit. Bin überall zu Hause. Aber lassen wir das, bin nicht gekommen, um Ihnen meine Story zu erzählen, Capt’n, sondern ein Geschäft vorzuschlagen.“

„Sie haben Ihre Zeit verschwendet, Mann“, wehrte Grant mit einer unwilligen Handbewegung ab. „Wir pflegen mit zweifelhaften Gesellen kein Geschäft zu machen, understand? Wüsste auch nicht, welcher Art dieses sein sollte. Wir kaufen weder Perlen, die ohne Lizenz irgendwo gefischt wurden, noch sonst ...“

„Sie irren, Capt’n“, meckerte Potter hämisch. „Wenn Sie mich länger kennen, werden Sie merken, dass sich Fred Potter nicht mit Lappalien abgibt. Kennen Sie das?“

Der Seemann griff in seine schmierige Jacke und hielt Grant auf der offenen Hand eine feingeschnitzte, schwarze Elfenbeinfigur hin, die einen winzigen, sich aufbäumenden Drachen darstellte.

„Zounds, das Geheimabzeichen der Fan Fans!“, entfuhr es dem jungen Kapitän Sturmvogel überrascht. Grant kniff die blitzenden Augen drohend zusammen, während er fortfuhr: „Wie kommen Sie zu dem Erkennungszeichen der Piraten, Potter?“

„Hm, war ganz einfach, Sir, gehörte zu ihnen“, antwortete der Matrose gleichmütig und spie einen Strahl tabakbraunen Priems zielsicher durch das geöffnete Bullauge des Kajütenfensters.

„Was sagen Sie da, Mann?“, richtete sich Lord Pullman grimmig auf. „Wollen uns wohl bluffen, it’s clear, well?“

„Fragen Sie Fu, den Gelben“, antworte Potter trocken.

„Yes, Sir, Mister Potter gehörte zum Bund der Fan Fans“, bestätigte der Chinese unbeweglichen Gesichtes. „Er hat es sogar zum Unterführer gebracht. Sehen Sie nur, der Drache seines Abzeichens ist doppelschwänzig, zum Unterschied von dem meinen!“ Fu hielt ebenfalls eine ähnliche kleine Elfenbeinfigur in der geöffneten hohlen Linken und deutlich war der Unterschied zu bemerken. Der Drache Fus war einschwänzig.

„Damned, Sie haben Mut, Potter“, entgegnete Grant mit eiskalter Stimme, „dass Sie sich an Bord der Seeschwalbe wagen. Sie scheinen nicht zu wissen, dass wir einer ganz stattlichen Anzahl dieser blutrünstigen Seeräuber zu einer schnellen Himmelfahrt verholfen haben!“

„Und ob ich, das weiß Sir“, meinte Potter hämisch lächelnd. „Wer weiß das nicht? Es spricht ja ganz Kanton davon!“

„Well, sollst nicht lange darauf zu warten haben, deinen Gefährten in die Hölle nachzufolgen, it’s clear“, knurrte Lord Pullman grimmig. „Du hast doch, indeed, nicht etwa geglaubt, du kaltblütiger Schurke, das Deck der Sea Swallow als freier Mann wieder zu verlassen oder gar, dass wir mit einem Halunken gemeinsame Sache machen, well!“

„Yes, gerade das glaube ich.“ Potter lachte höhnisch auf. „Wette, dass unser Handel perfekt wird!“

„Behold, du räudiger Seefloh, werde dir gleich zeigen, wie ...“, stieß der Lord drohend aus und trat auf Potter einen Schritt zu.

Dieser aber unterbrach ihn rau: „Quatsch nicht so viel, alter Clown, sonst wird dir in den nächsten Sekunden dein Zylinder nicht mehr passen. Bin nicht gekommen, um unnötig Zeit zu verschwenden. Setz dich, damit wir ins Geschäft kommen.“

Dabei gab er dem Lord einen leichten Stoß mit der Rechten, der diesen auf seinen Stuhl zurückbefördern sollte. Dies aber hätte Potter nicht tun sollen. Grant unterdrückte ein leises Lächeln, denn er ahnte, was jetzt kommen würde. Der Lord wusste sich in solchen Situationen wohl zu helfen. Wenn auch niemand derartige Kräfte in der schlottrigen, hageren Gestalt vermutete. Noch hatte Grant diesen Gedanken nicht zu Ende gedacht, als der Lord blitzschnell vorsprang und dem überraschten Potter seine Rechte so zielsicher und kräftig in die Magengrube knallte, dass dieser wie ein Taschenmesser zusammenklappte und den breiten Mund aufriss, um wie ein Karpfen auf dem Trockenen nach Luft zu schnappen.

„Thunderstorm, werde dir zeigen, wie man mit einem englischen Lord zu sprechen hat, well“, knurrte Lord Pullman grimmig. „Fort mit dem Schurken! Hat ja selbst eingestanden, mit den Piraten unter einer Decke zu stecken. Die Polizei Kantons wird nicht lange Federlesens mit dem Halunken machen, it’s clear!“

„Mister Potter ist der Einzige, der weiß, was aus Mister Laughton geworden ist“, fiel Fu, der bis jetzt schweigend und bewegungslos dagestanden hafte, in fehlerlosem Englisch ein.

„Ist das wahr?“, stieß Kapitän Grant überrascht hervor, riss den am Boden hockenden buckeligen Matrosen mit schnellem Griff empor und forschte erregt: „Schnell, Potter, sprechen Sie, ist das der Grund, weswegen Sie gekommen sind?“

„Wusste ja, dass wir vernünftig sprechen werden“, brummte Potter und warf dem Lord einen scheelen, feindseligen Seitenblick zu. „Wenn wir handelseinig werden, wird das Geschäft für beide Teile gewinnbringend sein!“

„Was verlangen Sie also?“, fragte Grant gespannt. „Ihre Nachricht hat nur für mich großen Wert, aber ich besitze augenblicklich nicht die Summe Geldes, die Sie vermutlich erwarten!“

„Ich will kein Geld von Ihnen, Capt’n“, wehrte Potter ölig ab. „im Gegenteil, wenn Sie auf meinen Plan eingehen, können Sie sich noch ein kleines Vermögen dazuverdienen!“

„Hm, das wäre das erste Mal, dass ein Gauner so ein großzügiges Angebot macht. Das muss einen besonderen Grund haben“, meinte Smart kopfschüttelnd. „Aber sagen Sie uns zuerst, Potter, bevor Sie Ihr Sprüchlein aufsagen, warum Sie uns mitgeteilt haben, dass Sie zu den Fan Fans gehören. Das barg doch eine Gefahr für Sie. Sie hätten diese Tatsache doch ruhig verschweigen können!“

„Yes, Sir, das hätte ich.“ Potter nickte...