Paradise Garden (eBook)

Spiegel-Bestseller
Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2023

*****

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2023 | 2. Auflage
352 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61392-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Paradise Garden -  Elena Fischer
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Die 14-jährige Billie verbringt die meiste Zeit in ihrer Hochhaussiedlung. Am Monatsende reicht das Geld nur für Nudeln mit Ketchup, doch ihre Mutter Marika bringt mit Fantasie und einem großen Herzen Billies Welt zum Leuchten. Dann reist unerwünscht die Großmutter aus Ungarn an, und Billie verliert viel mehr als nur den bunten Alltag mit ihrer Mutter. Als sie Marika keine Fragen mehr stellen kann, fährt Billie im alten Nissan allein los - sie muss den ihr unbekannten Vater finden und herausbekommen, warum sie so oft vom Meer träumt, obwohl sie noch nie da war.

Elena Fischer, geboren 1987, hat Komparatistik und Filmwissenschaft in Mainz studiert, wo sie mit ihrer Familie lebt. 2019 und 2020 nahm sie an der Darmstädter Textwerkstatt unter der Leitung von Kurt Drawert teil. Mit einem Auszug aus ihrem Debütroman ?Paradise Garden? war sie 2021 Finalistin beim 29. open mike und gewann den Literaturförderpreis der Landeshauptstadt Mainz für junge Autorinnen und Autoren. Außerdem war der Roman 2023 für den Deutschen Buchpreis nominiert und für den Debütpreis des Harbour Front Literaturfestivals.

Elena Fischer, geboren 1987, hat Komparatistik und Filmwissenschaft in Mainz studiert, wo sie mit ihrer Familie lebt. 2019 und 2020 nahm sie an der Darmstädter Textwerkstatt unter der Leitung von Kurt Drawert teil. Mit einem Auszug aus ihrem Debütroman ›Paradise Garden‹ war sie 2021 Finalistin beim 29. open mike und gewann den Literaturförderpreis der Landeshauptstadt Mainz für junge Autorinnen und Autoren. Außerdem ist Elena Fischer für den Deutschen Buchpreis 2023 und den Debütpreis des Harbour Front Literaturfestivals nominiert.

Aber jetzt: zurück zum Anfang.

Der Anfang war der letzte Tag vor den Sommerferien.

Der Anfang war ein Song im Radio.

Der Anfang waren große Pläne.

Vielleicht war der Anfang alles zusammen.

Jedenfalls kam ich gerade rechtzeitig von der Schule zurück, um mitraten zu können. Meine Mutter und ich waren verrückt nach diesem einen Gewinnspiel.

»Mach mal leiser«, sagte ich, als ich ins Wohnzimmer kam.

Ich hatte den Moderator schon im Laubengang gehört, und wahrscheinlich hatten ihn auch alle unsere Nachbarn gehört.

»Sch«, sagte meine Mutter und legte einen Finger auf ihre Lippen. In der anderen Hand hielt sie das Telefon. Ich wusste, dass sie die Nummer schon eingetippt hatte. Wir hatten schon tausendmal mitgemacht.

Meine Mutter saß auf unserem Sofa. Ihr linkes Bein tanzte, und auf ihrer Stirn glänzten Schweißperlen. Es war ein drückend heißer Nachmittag. Meine Mutter hatte alle Fenster in der Wohnung geöffnet, aber im Wohnzimmer stand die Luft trotzdem.

Kaum hatte ich mich neben meine Mutter gesetzt, ging es auch schon los.

»Drei, zwei, eins«, sagte der Moderator, und dann ertönten die ersten Klänge.

»Wicked Game!«, rief meine Mutter.

»Nie im Leben«, sagte ich. Ich hatte den Song sofort erkannt. »Es ist All My Tears

»Bist du sicher?«, fragte meine Mutter.

»Los, ruf an!«, sagte ich.

Den Song zu erkennen war das eine, durchzukommen das andere. Am ärgerlichsten war es, wenn man durchkam, aber falschlag. Meine Mutter drückte auf den grünen Knopf und hielt den Telefonhörer ans Ohr.

Geld zu gewinnen war eine verdammt große Sache für uns.

Da, wo wir wohnten, hatten die meisten Leute das Wort ›gewinnen‹ längst aus ihrem Wortschatz gestrichen.

Niemand wohnte freiwillig hier, am Stadtrand. Unser Block war der höchste von fünf Wohnblöcken, die im Halbkreis angeordnet eine eigene kleine bunte Stadt bildeten. Jedes Haus war in einer anderen Farbe gestrichen, unseres in einem kraftlosen Gelb.

Wenn man diese Adresse angab, bei einer Bewerbung zum Beispiel, dann wussten die Leute sofort Bescheid. Vielen Dank für Ihr Interesse, der Nächste bitte. Meine Mutter konnte ein Lied davon singen.

Ich hielt die Luft an und zählte vier Freizeichen. Es klingelte viermal, und dann waren wir plötzlich im Radio.

Meine Mutter und ich waren so aufgeregt, dass wir uns ständig gegenseitig ins Wort fielen. Meine Mutter wechselte dauernd vom Deutschen ins Ungarische und wieder zurück, wie immer, wenn sie aufgeregt war. Aber der Radio-Mann verstand uns trotzdem. Am Ende sagte er, dass wir in der Leitung warten sollten. Wir konnten unser Glück kaum fassen.

»Hoffentlich frisst die Warteschleife nichts von unserem Gewinn«, sagte meine Mutter. Sie machte den Lautsprecher an und rieb sich ihr rechtes Ohr. Es glühte.

Wir hingen nur fünf Minuten in der Warteschleife. Dann gratulierte uns eine Frau und fragte meine Mutter nach ihrer Kontonummer. Meine Mutter las die Zahlen von ihrer Karte ab. Es war, als würde sie ein Gebet sprechen, von dem sie schon vorher wusste, dass es erhört werden würde.

Als meine Mutter aufgelegt hatte, sagte sie: »Diesen Sommer fahren wir in den Urlaub!«

»In einen richtigen Urlaub?«, fragte ich. Ich sah Palmen, die sich im Wind wiegten, ich sah einen Sandstrand, und natürlich sah ich das Meer.

»In einen richtigen Urlaub«, sagte meine Mutter. Dann stand sie auf, um sich für die Arbeit fertig zu machen.

Ich legte mich auf das Sofa. Die Hitze machte mich ganz dösig. Ich schloss die Augen und hörte, wie das Wasser in der Dusche rauschte. Irgendwann kam meine Mutter in ihrem Ich-kann-alles-sein-Outf‌it zurück ins Wohnzimmer. Das Paillettenoberteil schimmerte im Sonnenlicht, die Jeans saßen knalleng. Dazu trug sie ihre weißen Cowboystiefel, die mit Kirschen verziert waren. Sie küsste mich zum Abschied und fuhr mit dem Bus in die Stadt, zu ihrem Abendjob.

 

Meine Mutter hatte zwei Jobs.

Morgens arbeitete sie in einem großen Glaskasten, der aus vielen kleinen Glaskästen bestand. Sie putzte für die Mitarbeiter, die teure Anzüge trugen und Krawatten. Außerdem brachte sie ihnen Büroklammern, Briefumschläge und Textmarker – und manchmal auch einen Kühlakku. Es kam gar nicht so selten vor, dass jemand gegen eine Tür oder Wand lief. Abends kellnerte meine Mutter in einer Bar.

»Der Barjob hält uns zwar bei Laune«, sagte sie, wenn sie nach der Schicht ihr Trinkgeld zählte, »aber der Putzjob hält uns am Leben.«

In der Firma, wo meine Mutter arbeitete, sah sie die verrücktesten Dinge. Das lag daran, dass sie nicht gesehen wurde. Wenn sie in ihren Jeans und ihrem Kittel durch die Flure ging, die Drucker mit Papier befüllte oder die Toiletten putzte, war sie unsichtbar. Man hatte sich im Laufe der Jahre an sie gewöhnt wie an einen Rollcontainer oder an eine Stehlampe. Erst, wenn sie nach Hause kam, die Kleider wechselte, die Haare öffnete und die Lippen rot anmalte, wurde der Mensch aus ihr, der sie eigentlich sein wollte.

Einmal pro Schicht machte meine Mutter eine Runde durch alle Büros, um die Papierkörbe zu leeren.

»Den wahren Charakter von Menschen erkennst du daran, wie sie Dinge behandeln, die sie nicht mehr haben wollen«, sagte meine Mutter.

Der Mann am Ende des Flurs stopf‌te alles in seinen Papierkorb: Essensreste, halb volle Pappbecher mit Kaffee, CDs, Schuhe. Einmal fand meine Mutter ein blutiges Taschentuch. Sie konnte den Papierkorb nicht einfach ausleeren, sondern musste jedes Mal mit den Händen hineinfassen und nachhelfen. Sie holte sein halbes Leben aus seinem Papierkorb.

 

Als meine Mutter an diesem Abend aus der Bar zurückkam, war ich noch wach. »Rück mal ein Stück«, sagte sie, und dann schlüpf‌te sie neben mich ins Bett. Meine Mutter drehte sich zu mir, sodass wir Gesicht an Gesicht lagen.

»Können wir mit dem Geld ans Meer fahren?«, fragte ich.

»Klar, an welches?«, sagte meine Mutter und grinste.

»Atlantik. Oder Karibik.«

Wenn ich an das Meer dachte, dann war es nie langweilig. Es war entweder wild, oder es war türkis, wie auf den Plakaten im Schaufenster der Reisebüros. So oder so sehnte ich mich danach. Manchmal war diese Sehnsucht wie ein Mückenstich an einer Stelle meines Körpers, wo ich zum Kratzen nicht hinkam.

»Ich will nach Florida«, sagte meine Mutter. »Dann esse ich jeden Morgen Pancakes am Strand.«

»Ja, das ist klar«, sagte ich, und mein Magen begann zu knurren.

Meine Mutter war verrückt nach Florida, seit sie diesen einen Film gesehen hatte. Darin leben ein kleines Mädchen und seine Mutter in einem Wohnwagen. Es passiert nichts in diesem Film. »Warum machen Leute einen Film, in dem nichts passiert?«, wollte ich wissen. Wenn ich Geschichten schrieb, dann passierte darin immer eine ganze Menge. »Solange nichts passiert, ist alles möglich«, hatte meine Mutter gesagt, und irgendwie stimmte das ja.

Meine Mutter stand auf.

»Ich mach uns welche«, sagte sie.

Dann verschwand sie in der Küche.

Die Pancakes meiner Mutter waren die besten, die ich jemals gegessen hatte. Es gab sie immer dann, wenn wir etwas zu feiern hatten. Und ihr könnt mir glauben: Wir fanden eine Menge Gelegenheiten. Da waren zum Beispiel die Geburtstage. Nicht nur unsere, sondern die Geburtstage von allen Kindern, die in unserem Block wohnten. Und hier wohnten eine Menge Kinder.

Meine Mutter brachte mir einen vollbeladenen Teller ans Bett und fragte: »Hängen sie dir nicht schon aus der Nase heraus?«

Das fragte sie jedes Mal.

»Es heißt aus den Ohren«, sagte ich, tunkte den Zeigefinger in den Ahornsirup und leckte ihn ab. Meine Mutter hatte immer noch ein Problem mit deutschen Redewendungen. Sie brach Dinge über den Fuß, fuhr den Karren an die Mauer und sagte: »Dieser Idiot sollte sich erst einmal an die eigene Stirn fassen!«

Meine Mutter setzte sich auf die Bettkante.

»Alles nutzt sich ab mit der Zeit.«

»Ein Lied zum Beispiel«, sagte ich.

Manchmal hörte ich so oft hintereinander dasselbe Lied, dass ich nach einiger Zeit nicht mehr wusste, warum es mir einmal gefallen hatte.

»Ja, zum Beispiel. Oder ein Mensch«, sagte sie. »Aber du nicht. Du nutzt dich niemals ab.« Meine Mutter schlang die Arme um mich, und beinahe wäre mein Teller auf dem Boden gelandet.

Später, als meine Mutter längst im Wohnzimmer eingeschlafen war, stand ich noch einmal auf. Ich öffnete mein Fenster weit und lehnte mich hinaus in die warme Sommerluft.

Wir wohnten beinahe ganz oben. Es war der siebzehnte Stock. Von hier aus hätte man das Meer sehen können, wenn es ein Meer gegeben hätte. Aber es gab nur eine Autobahn. Die Autobahn schlängelte sich durch das Naturschutzgebiet und schnitt das Grün in zwei Teile. Das Rauschen der Autos war immer da, und mittlerweile hörten wir es kaum noch. Früher hatte mich das Rauschen oft in den Schlaf gewiegt. »Hey, kannst du das Meer hören?«, flüsterte meine Mutter dann.

In den Ferien wurde der Verkehr dichter. Manchmal füllte meine Mutter Fruchtsaft mit Eiswürfeln in große Gläser und schmückte sie mit pinkfarbenen Strohhalmen und Schirmchen. Sie drückte mir die Cocktails in die Hand, nahm zwei Liegestühle und stellte sie nach draußen in den Gang, zwischen unsere Haustür und die Brüstung, von der die Farbe an vielen Stellen abblätterte.

Dann spielten wir Urlaub.

Wir setzten uns nebeneinander, meine Mutter in einem weißen Bikini, ich in einem Badeanzug, und ließen uns die Sonne auf den...

Erscheint lt. Verlag 23.8.2023
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abenteuer • Debüt • Deutschland • Erstling • Erwachsenwerden • Fantasie • Flucht • Hochhaus • Loslösung • Mädchen • Meer • Mut • Mutterliebe • Mutter und Tochter • Natur • Nordsee • prekäres Leben • Pubertät • Roadnovel • Roadtrip • Roman • Selbstbestimmung • Starke Frauen • Suche • Vatersuche • Vater und Tochter
ISBN-10 3-257-61392-X / 325761392X
ISBN-13 978-3-257-61392-6 / 9783257613926
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