Samson und das gestohlene Herz (eBook)

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2023 | 1. Auflage
432 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61396-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Samson und das gestohlene Herz -  Andrej Kurkow
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Zusammen mit seinem Kollegen Cholodnij soll Samson wegen illegaler Fleischverkäufe ermitteln. Doch kaum haben die beiden mit ihrer Arbeit begonnen, wird Samsons Freundin Nadjeschda von streikenden Eisenbahnern gefangen genommen. Sofort macht sich Samson daran, sie zu befreien. Nur, was hat es mit den Eisenbahnern auf sich? Und warum wurde der undurchsichtige Tschekist Abjasow zur Miliz abkommandiert? Fragen, die Samson klären muss, wenn er seinen Fall lösen und Nadjeschda retten will.

Andrej Kurkow, geboren 1961 in St. Petersburg, lebt seit seiner Kindheit in Kiew und schreibt in russischer Sprache. Er studierte Fremdsprachen, war Zeitungsredakteur und während des Militärdienstes Gefängniswärter. Danach schrieb er zahlreiche Drehbücher. Seit seinem Roman ?Picknick auf dem Eis? gilt er als einer der wichtigsten zeitgenössischen ukrainischen Autoren. Sein Werk erscheint in 42 Sprachen. Kurkow lebt als freier Schriftsteller mit seiner Familie in der Ukraine.

Der frühe Aprilabend war von den leisen Stimmen der Passanten erfüllt. Wort- und Satzfetzen vermischten sich mit einer sanften Brise zu einer angenehmen und harmonischen Melange. Wie jede Musik, egal, ob aus der Natur oder vom Menschen, konnte man sie nur mit den Ohren »trinken«, es war eine wohltuende Labung.

Samson wandte seinem Kollegen beim Gehen die linke Seite zu. Die nackte Ohröffnung auf seiner Rechten nahm alle Geräusche der Welt in sich auf. Manchmal fiel Samson auf, dass er gewisse Töne, die von rechts herangeflogen kamen, mit dem linken Ohr überhaupt nicht wahrnahm. Das betrübte ihn aber gar nicht. Es war eher umgekehrt – es half ihm beim Einordnen der Geräusche, und ließ ihn dem mehr vertrauen, was er links hörte.

»Bei uns in der Wohnung herrscht jetzt so ein Durcheinander, dass unser neuer Wohnungsgenosse Safronin bei mir zur Tür reinpoltert, wenn er betrunken ist«, hörte Samson mit dem linken Ohr, als Cholodny und er zwei junge Frauen überholten, die ihrem Tempo nach zu urteilen ohne Ziel herumspazierten. Die Stimme erschien Samson angenehm, so schaute er sich zur Brünetten mit dem glatt gekämmten Haar um und bemerkte, wie in ihrem Mund ein Goldzahn aufblitzte.

Samson und Cholodny eilten nach dem Dienst einem Bier entgegen. Dieser Donnerstag neigte sich dem Ende zu, und in Erinnerung bleiben würde er vielleicht nur dadurch, dass Najden Samson schon zum fünf‌ten oder sechsten Mal aufgefordert hatte, die Schneiderpuppe mit Jakobsons Anzug aus dem Dienstzimmer zu entfernen. Er behauptete, die Puppe nehme Feuchtigkeit auf und verursache dadurch bei allen anderen in der Wache Husten. Najden hustete tatsächlich, Samson jedoch, der nur eine Armlänge von der Puppe entfernt saß, war immer noch gesund. Wenn ihm etwas wehtat, dann lediglich die verheilenden Wunden von den beiden Kugeln aus der »Damenpistole«, aber auch sie reagierten praktisch nicht auf die von Najden ausgemachte Feuchtigkeit. Und das, obwohl Wera Ignatjewna Gedroitz, die Fürstin und gestrenge Chirurgin, Samson am Krankenhaustor zum Abschied mitgegeben hatte: »Meiden Sie Feuchtigkeit! Halten Sie Ihren Körper trocken und warm!« Wie man es auch drehte und wendete, die Puppe mit dem Anzug war jetzt Eigentum des Staates, schließlich war dafür bezahlt worden. Doch der schnauzbärtige Wassyl mit der spitzen Nase, der oberste Wächter über die Asservate, weigerte sich beharrlich, die Puppe in seine Kammer zu lassen. »Der Fall ist abgeschlossen, und ich kann sie hier nicht brauchen«, sagte er. »Abdampfen hilft gegen die Flöhe, und dann kann sie Ihnen zu Hause den Kleiderständer ersetzen.«

»Mir gefällt die Idee mit dem Judas-Denkmal nicht.« Cholodny schüttelte den Kopf, wandte sich im Gehen zu seinem Begleiter und wartete auf dessen Reaktion.

»Ja, das ist schon seltsam«, stimmte Samson zu. »Ein Denkmal für einen Selbstmörder? Denkmäler werden für persönlichen Einsatz und Heldentaten errichtet. Was war die Heldentat von Judas Iskariot?« Samson zuckte mit den Schultern.

»Die Silberlinge hat er den Hohepriestern immerhin zurückgegeben«, erwiderte Sergi Cholodny.

»Später hat er sich erhängt«, fügte Samson hinzu. »Er hat ihn verraten, dann bereut und sich selbst umgebracht … Er hat also weder eine Heldentat vollbracht, noch ist er für eine Idee gestorben …«

In diesem Augenblick dröhnte ganz in der Nähe eine forsche und heisere Männerstimme gleich einer Maschinengewehrsalve: »Mistvieh, halt ihn! Wanjucha, schieß!« Dann krachten fünf oder sechs Gewehrschüsse, deren Echo sich im Getrampel der auseinanderstiebenden Passanten verlor. An Samson und Cholodny, die mitten im Gespräch stehen geblieben waren, rollte das Echo der Schüsse vorbei wie ein Rad, das sich von einem Fuhrwerk gelöst hatte. Dem fast sichtbaren Echo hinterher sprang ein seltsam hinkender Hund vor ihnen auf die Straße, der etwas Weißes, vielleicht einen Knochen, in der Schnauze hielt. Plötzlich überschlug er sich und blieb auf der Seite liegen. In diesem Moment holten ihn zwei Rotarmisten mit Gewehren ein. Der eine stieß laut fluchend sein Bajonett in den bereits leblosen Hund, der andere blieb einfach daneben stehen und atmete schwer, als wäre er einen Kilometer gerannt. Der erste zog das Bajonett aus der Flanke des Tieres und stieß es in das Speckstück, das im Maul des Hundes feststeckte.

Cholodny und Samson sahen dem Geschehen reglos zu. Andere Passanten, die sich vorher verängstigt an die Hauswände gedrückt hatten, kamen nun näher. Sie begriffen, dass dieser Abend sich mit dem Leben eines Hundes von den Bolschewiken freigekauft hatte. Der Rotarmist versuchte immer noch erfolglos, mit dem Bajonett den Speck aus dem Maul des Hundes zu ziehen.

»So ein Mistvieh!«, brüllte er und drehte sich zu seinem Kameraden. »Jetzt hilf mir doch, was stehst du so rum!«

Der Kamerad setzte das Bajonett an der schmalsten Stelle des Hundemauls an und sah dann zu Cholodny hinüber.

»He du, stell deinen Fuß auf die Schnauze!«, befahl er.

Cholodny machte einen Schritt nach vorne und presste die Hundeschnauze mit seinem Stiefel gegen das Straßenpflaster. Dann drückte der zweite Rotarmist das Gewehr wie den Hebel einer Eisenbahnweiche abrupt nach unten, bis es laut krachte. Triumphierend spießte der erste Rotarmist mit dem Bajonett den aus dem Hundegebiss befreiten Speck auf. Die Einstichstelle färbte sich rot vom Hundeblut.

»Komm, gehen wir!«, sagte der zweite Rotarmist zum ersten, wobei er sich wachsam nach allen Seiten umsah, weil er sich offenbar wegen der neugierigen Menschenmenge unwohl fühlte.

Der erste schaute ebenfalls vorsichtig zu Samson und Cholodny hinüber, die ihre Lederjacken trugen. Ohne den Speck vom Bajonett zu nehmen, schulterte er das Gewehr. Schnellen Schritts gingen sie zurück, in die Richtung, aus der sie während der Verfolgung des nun toten Hundes gekommen waren.

»Ich verstehe auch nicht, wozu«, knüpf‌te Samson an ihr unterbrochenes Gespräch an. »Er ist doch gewissermaßen ein Verräter. ›Der, den ich küssen werde, der ist es; nehmt ihn fest.‹«

»Ja natürlich ist er ein Verräter«, stimmte Cholodny bereitwillig zu. »Aber Genosse Trotzki hält ihn, warum auch immer, für einen Revolutionär und Rebellen, der sich gegen das religiöse Diktat aufgelehnt hat.«

»Also ist Genosse Trotzki der Ansicht, dass Revolutionäre Verräter sind?«

»Verräter an der vergangenen Welt.« Cholodny nickte. »Das ist wohl auch richtig. Um eine neue Welt zu schaffen, muss man die alte verraten … Mit anderen Worten: Ohne die Hilfe von Verrätern kannst du die Welt nicht zum Besseren verändern!«

»Aber wie man es auch dreht und wendet, zuerst ist er Jesus doch gefolgt, nicht? Aus seelischer Blindheit?«

»Er war auf der Suche nach jemandem, dem er folgen konnte. Er verspürte den Durst nach Revolution. Er hat vielleicht geglaubt, dass Jesus selbst ein Revolutionär und Kämpfer war«, philosophierte Cholodny weiter. »Als er aber sah, dass der Herr die falsche Richtung eingeschlagen hatte, hielt er ihn auf. Hier verkörpert Judas also einen Vertreter des betrogenen Volkes, einen Vertreter der betrogenen Klasse. Oder?« Cholodny biss sich auf die Unterlippe, ganz in Gedanken, denn vollkommen sicher war er sich seiner eigenen Schlussfolgerungen nicht.

»Die Mutter ist schuld«, sagte Samson plötzlich, als habe er etwas Wichtiges begriffen. »Im Althebräischen bedeutet Judas ›der Gott Lobpreisende‹. Seine Mutter nannte ihn bereits so, bevor Jesus aufgetaucht war, deshalb ist Judas ihm auch gefolgt! Dann aber hat er sich von Jesus losgesagt und auch von sich selbst. Selbstmord bedeutet doch nichts anderes, als sich aus freien Stücken vom Weiterleben loszusagen.«

Cholodny nickte bedeutungsvoll. »Woher kannst du eigentlich Althebräisch?«

»Kann ich gar nicht. Aber im Gymnasium haben wir biblische Namen durchgenommen.«

In der Bierstube bestellten sie jeweils ein Glas dunkles Bier und setzten sich an einen schmutzigen Tisch. Saubere Tische gab es bereits keine mehr.

Samson nahm einen Schluck und schmeckte den süßlichen Beigeschmack von Blut auf seiner Zunge, wie in der Kindheit, wenn ihm jemand beim Raufen die Lippe blutig geschlagen hatte. Er nahm noch einen Schluck, und der Beigeschmack verschwand. Genau so sollte es sein: Ein angenehm bitterer Geschmack im Mund und ein wenig benebelt im Kopf – doch ihm war bewusst, dass er sich Letzteres nur einbildete. Um tatsächlich benebelt zu sein, musste er drei Gläser Bier trinken. Vor der Revolution war das dunkle Bier noch leicht gewesen, nicht so wie heute. Jetzt wurde es auf andere, auf neue Art gebraut.

»Anstelle von Passetschny hat man uns einen Tschekisten als Verstärkung geschickt«, sagte Cholodny langsam und schleckte sich seine breiten Lippen ab. »Er heißt Abjasow, ist ein schmächtiger junger Kerl mit messerscharf geschnittenem Gesicht, richtig unsympathisch!«

»Kann er gut schießen?«, erkundigte sich Samson.

»Wahrscheinlich«, mutmaßte Cholodny. »Es heißt, die Tschekisten trainieren Augen und Hände an lebenden Zielen. Najden hat heute mit ihm etwa zwei Stunden gesprochen. Wassyl musste ihnen Akten von einigen Fällen bringen. Warten wir es ab.«

Vor dem Fenster brannten die Laternen auf dem Kreschtschatik. Manchmal war das Klappern von Pferdehufen zu hören, von den Droschken und Fuhrwerken, oder es ratterte eine Straßenbahn wie ein grelles umhergeisterndes Irrlicht vorbei.

»Mir knurrt der Magen«, brummte Cholodny und sah auf sein leeres Bierglas. Er hob den Kopf, dann die Hand und winkte: »Noch...

Erscheint lt. Verlag 26.7.2023
Illustrationen Jurij Nikitin
Übersetzer Johanna Marx, Claudia Zecher
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel Serdce – ne mjaso
Themenwelt Literatur Historische Romane
Schlagworte 1. Weltkrieg • amüsant • booker • Booker Prize • Cosy Crime • Crime • Geheimdienst • Gesellschaftsroman • Graue Bienen • Historischer Kriminalroman • Historischer Roman • International Booker Prize • Jimi Hendrix • Kiew • Krim • Krimi • Kriminalroman • Krimiserie • Lemberg • Liebesgeschichte • Liebesroman • Lwiw • Russische Gesellschaft • Russische Literatur • Russischer Bürgerkrieg • Russische Revolution • Samson und Nadjeschda • Sowjetische Geschichte • Sowjetunion • Ukraine • Ukrainische Geschichte • Ukrainische Literatur • Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik • Ukrainische Volksrepublik • Unterhaltung
ISBN-10 3-257-61396-2 / 3257613962
ISBN-13 978-3-257-61396-4 / 9783257613964
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