»Diese Freiheit bedeutet mir alles« (eBook)

Das Leben der Kathleen Scott
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
384 Seiten
mareverlag
978-3-86648-829-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

»Diese Freiheit bedeutet mir alles« -  Kerstin Ehmer
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»Alles, was Du willst, aber lass mich kommen, um Dich abzuholen«, schrieb Robert Falcon Scott 1907 an die Bildhauerin Kathleen Bruce, nur einen Tag nachdem er ihr bei einer Londoner Teegesellschaft begegnete und ihrem unkonventionellen Freigeist erlag. Als Waise und jüngstes von elf Kindern in der Obhut eines Onkels groß geworden, hatte Kathleen früh gelernt, eigene Entscheidungen zu treffen. Kaum erwachsen, ging sie trotz kärglicher Mittel zum Kunststudium nach Paris, pflegte Freundschaften zu Auguste Rodin, Isadora Duncan und George Bernard Shaw, diente als freiwillige Helferin im Mazedonienkrieg und schlief auf Reisen in Männerkleidern getarnt unter freiem Himmel. Sie wurde als Scotts Ehefrau zu seiner engsten Vertrauten und Triebfeder seiner Südpolexpedition - und führte auch als seine Witwe ein Leben so voll von unbändiger Entdeckerlust, großen Namen, künstlerischen und nicht zuletzt politischen Ambitionen, dass es für zwei gereicht hätte.

Kerstin Ehmer, geboren in Hamm (Westf.), studierte Theater- und Filmwissenschaften, Amerikanistik und Philosophie an der FU Berlin und machte eine Ausbildung zur Fotografin am Lette-Verein. In den Neunzigerjahren arbeitete sie als Reportagejournalistin und Lifestylefotografin, 2001 eröffnete sie gemeinsam mit ihrem Mann die Berliner Victoria Bar, in die sie einmal jährlich Künstlerinnen einlädt, die Bar für einen Monat zu gestalten. 2013 erschien ihr Sachbuch »Die Schule der Trunkenheit«, 2017 »Der weiße Affe«, Auftakt ihrer erfolgreichen Krimireihe um Kommissar Spiro im Berlin der Goldenen Zwanziger.

Kerstin Ehmer, geboren in Hamm (Westf.), studierte Theater- und Filmwissenschaften, Amerikanistik und Philosophie an der FU Berlin und machte eine Ausbildung zur Fotografin am Lette-Verein. In den Neunzigerjahren arbeitete sie als Reportagejournalistin und Lifestylefotografin, 2001 eröffnete sie gemeinsam mit ihrem Mann die Berliner Victoria Bar, in die sie einmal jährlich Künstlerinnen einlädt, die Bar für einen Monat zu gestalten. 2013 erschien ihr Sachbuch »Die Schule der Trunkenheit«, 2017 »Der weiße Affe«, Auftakt ihrer erfolgreichen Krimireihe um Kommissar Spiro im Berlin der Goldenen Zwanziger.

1. Ein Requiem
2. Amour Fou
3. In See stechen
4. Ein Mann stirbt, ein Held wird geboren
5. Das Viktorianische Zeitalter
6. Die Letzten beißen die Hunde
7. Windige Entscheidungen
8. Freiheit und Fremde
9. »The Angel in the House«
10. Ein kurzer Blick in die Hölle
11. Unter freiem Himmel
12. Die schlimmsten aller Umstände
13. Flirt versus Tugend
14. Die Frau, die sie nicht sein will
15. Lady with a headache
16. Der große Krieg
17. Stille nach dem Sturm
18. Ein Adler mit nur einem Flügel
19. Reality Check
20. Drei plus eins
21. Von Krokodilen und Göttern
22. Zwei Wiederauferstehungen und eine Sonnenfinsternis
23. Royals und Resignation
24. Meine Häuser, meine Boote, mein Mann, meine Söhne
25. Das Wahre, Gute, Schöne
26. Das Summen einer Bienenkönigin
27. »Es wird keinen Krieg geben«
28. Herzschwächen
29. Das Schwiegermuttermonster
30. Drei Häuser und kein Zuhause
31. Ende und Anfang
32. Alles oder nichts
Epilog

Quellen
Bildteil
Literatur
Bildquellen

1


Ein Requiem


1913

Die Trauerfeier fällt ausgerechnet auf einen Valentinstag. Mehr als 10 000 Menschen säumen am 14. Februar 1913 den Trauerzug durch die Straßen der City of London. Sein Ziel: St. Paul’s Cathedral. Kein Platz auf den Bänken ist frei geblieben. Das öffentliche Interesse ist so groß, dass den Angehörigen und Freunden der Toten spezielle Tickets ausgehändigt werden, um ihnen einen Platz zu garantieren. Etliche Minister sind da. Sogar König George V., ansonsten nur auf Beerdigungen von Mitgliedern der königlichen Familie anwesend, zeigt sich im vollen Ornat eines Navy-Admirals. Sie alle sind gekommen, um Robert Falcon Scott und den unglücklichen Mitgliedern seiner Mannschaft die letzte Ehre zu erweisen.

Zwar erreichten sie ihr Ziel, den Südpol, aber als sie dort anlangten, wehten am südlichsten Punkt der Erde bereits die Flaggen der norwegischen Expedition unter Roald Amundsen. Scott und seine Männer hatten das Rennen verloren. Und keiner von ihnen würde nach Hause zurückkehren. Sie starben im Frühjahr 1912 nur noch 250 Kilometer vom rettenden Lager entfernt, einer durch Erschöpfung, die anderen vier in einem Orkan, den niemand hätte vorhersehen können. Sie erfroren durch einen plötzlichen Temperatursturz, der in diesem Ausmaß weder vor noch Jahrzehnte nach ihrer Expedition jemals gemessen wurde.

Amundsen hatte den Pol einen Monat vor ihnen erreicht, aber er hat den unbekannten Kontinent weder vermessen noch kartiert. Seine Expedition machte keine meteorologischen Aufzeichnungen und sammelte keine Gesteinsproben, die das Gewicht ihrer Schlitten vergrößert hätte. Amundsens alleiniges Ziel war das schnelle Erreichen des Pols gewesen, ein Unternehmen, das lediglich ihm selbst und sonst niemandem nützte. Scott hingegen wollte nicht nur als Erster den Südpol erreichen und so für sein Land in Besitz nehmen, sondern auch die Wissenschaften bei der Erforschung dieses fast gänzlich unbekannten Kontinents unterstützen.

Sieben Monate nach ihrem Tod fand ein Suchtrupp ihre gefrorenen Körper in einem vorbildlich aufgeräumten Zelt. Es war so akkurat gebaut, dass es den Stürmen eines ganzen antarktischen Winters getrotzt hatte. Der Trupp barg die Gesteinsproben, die sie über Hunderte Kilometer über Eis und Fels gezogen hatten, die meteorologischen Aufzeichnungen, geführt bis zum letzten Atemzug, ihre Briefe und Tagebücher.

Die erschütterten Männer des Suchtrupps verlasen den Beerdigungssermon und sangen den toten Kameraden ein letztes Onward, Christian Soldiers. Dann ließen sie das Zelt über den Toten zusammenfallen und begruben sie unter einem Schneehügel. In seine Spitze steckten sie ein Kreuz und überließen die Helden ihrem Schicksal. Die Eisdrift würde ihr kaltes Grab weiter nach Norden tragen, ihre Scholle um das Jahr 1985 vom Schelfeis kalben und hinaus in den Antarktischen Ozean treiben.

Also muss vier Monate später an diesem traurigen Valentinstag in St. Paul’s Cathedral die Trauerfeier ohne die sterblichen Überreste der Polarforscher stattfinden. Ebenfalls abwesend ist die Witwe des Expeditionsleiters Kathleen Scott. Während die Glocken läuten, befindet sie sich auf einem Passagierschiff im Südpazifik mit Kurs auf Neuseeland, unterwegs in der Hoffnung, ihren Mann nach dreijähriger Trennung am anderen Ende der Welt wieder in die Arme zu schließen.

Die englische Presse covert derweil die Trauerfeier mit teils mehrseitigen Fotoreportagen. Die Titelseite des Daily Sketch zeigt beinahe vollformatig eine unübersehbar große Menge schwarz gekleideter Trauernder. Hineincollagiert sind Porträts von Robert Falcon Scott, seiner Frau Kathleen und ihres Sohnes Peter. Scott wirkt heroisch, Kathleen bedrückt und schüchtern, das Kleinkind lacht pausbäckig in die Kamera. Ein seltsam unstimmiges Triumvirat. Die Headline lautet: »Nation’s requiem for the antarctic heroes«, garniert mit einem Zitat Lord Byrons: »Ein Thron aus Felsen, eine Robe aus Wolken, ein Diadem aus Schnee«. Schwereres Geschütz hat die englische Lyrik kaum aufzubieten.

Man hatte vergeblich versucht, Kathleen Scott zu erreichen. Ihre Route führte sie über New York. Sie wurde tanzend im Ritz gesichtet, im Colony Club, im Plaza, im Martin’s. Stets war sie bereits weitergezogen, wenn die Telegramme mit den schlechten Nachrichten eintrafen. Dann hieß es, sie habe den Süden der USA im Zug durchquert und sei nun zu Pferd mit ein paar Cowboys in Mexiko unterwegs. Daheim in London vermisst der Korrespondent des Evening Standard »die eine, die nichts ahnend von der furchtbaren Tragödie, die unglückliche Frau, noch immer auf hoher See, errötet vor Hoffnung und Erwartung, begierig, dem geliebten Mann zu begegnen und die Triumphe seiner Rückkehr zu teilen. Das erzeugte ein Gefühl von Irrealität.«

Doch so ahnungslos, wie der Journalist befürchtet, ist sie nicht. Äußerlich gefasst, sieht es in ihrem Innern anders aus. Widersprüchliche Informationen über den Verlauf der Expedition waren bereits ein gutes Jahr zuvor nach London gelangt. Amundsen hatte den Pol am 14. Dezember 1911 erreicht, dennoch wurde zunächst Scotts Sieg verlautbart. Reporter hatten ihr Haus belagert, Telegramme waren im Stundentakt eingetroffen, keines von Scott autorisiert, eine Woge hastig verfasster Mutmaßungen. Er würde ein weiteres Jahr in der Antarktis bleiben, nur das war sicher. Darüber, wie es ihm ging, gab es keinerlei Information. Zermürbt vom nicht abreißenden Strom der Falschmeldungen, beunruhigt von düsteren Vorahnungen, hatte sie beschlossen ihrem Mann entgegenzusegeln. Sie war nicht sicher, ob Scott das von ihr erwartete, fuhr aber trotzdem. »Als Mutter und als Bildhauerin bin ich einigermaßen gut, aber darüber hinaus? Wahrscheinlich Versagen«, vertraute sie ihrem Tagebuch an. Dass Scott bei ihrem Aufbruch bereits seit Monaten tot war, wusste sie nicht. Die Nachricht erreicht sie erst fünf Tage nach der Londoner Trauerfeier auf dem Ozean zwischen Kalifornien und Tahiti.

Der hilflose Kapitän des Schiffs bittet sie mit einem Gesichtsausdruck, den sie nicht deuten kann, in seine Kabine. Er habe Nachrichten für sie, wisse aber nicht, wie er sie überbringen solle. Sie fragt: »Die Expedition?« Er bejaht und reicht ihr mit unsicherer Hand ein Telegramm: »Scott und sechs andere sterben in einem Blizzard nach Erreichen des Südpols.«

Ihre Reaktion kann nur mit einiger Mühe als solche bezeichnet werden: »Oh well, never mind! Ich habe damit gerechnet. Vielen Dank. Ich werde mich jetzt zurückziehen und darüber nachdenken.« Doch das tut sie nicht. Stattdessen besucht sie einen Spanischkurs, der zum Zeitvertreib der Passagiere angeboten wird. Beim anschließenden Lunch diskutiert sie engagiert über die Politik der Amerikaner, den Nachmittag verbringt sie bei brütender Hitze mit einem Buch an Deck.

Am nächsten Tag erreichen sie Rarotonga. In dünnen Fäden fällt Regen aus einem blassgrauen Himmel, der in der Ferne, dort, wo der Horizont sein sollte, übergangslos in einem gleichfarbigen Ozean ertrinkt. Dunstwolken verfangen sich an den Gipfeln der Vulkanberge. Trübe Wellen rollen an die Riffe und Strände einer schemenhaften Insel, deren Konturen in der feuchtigkeitsgesättigten Luft verwischen. Das tiefe Blau, das leuchtende Türkis, diese Farben, die den Südpazifik zu anderen Jahreszeiten in einen fast obszönen Farbrausch versetzen, bleiben Kathleen Scott erspart. Gnädig erlässt ihr die Natur dieses unwiderstehliche Delirium.

Auf Rarotonga, der größten der Cookinseln, kann sie der Enge des Schiffs für kurze Zeit entfliehen. In Begleitung eines jungen Südamerikaners klettert sie bis ans Ende einer in den Ozean hineinragenden Felskette. Im Nieselregen starrt sie stundenlang auf das weiße Band der Gischt, mit dem die grauen Wellen über dem Riff brechen. Ihr Begleiter spricht keine Sprache, die sie versteht. Dennoch bleibt er schweigend an ihrer Seite, und nichts anderes hätte sie ertragen. Erst bei Einbruch der Dunkelheit kehren sie vollkommen durchnässt zurück an Bord. Was in den letzten Stunden nur sie selbst, der Kapitän und die Offiziere gewusst haben, ist nach dem Hafenaufenthalt nun sämtlichen Passagieren bekannt. Noch sieben Tage bleibt sie unter allgemeiner Beobachtung, auf einem Schiff voller Fremder ohne Privatsphäre, dann erreichen sie Wellington, Neuseeland. Als sie dort eintrifft, ist sie Englands berühmteste Witwe, ihr verstorbener Mann ein Held, hinter dem sich die Nation versammelt hat.

Bevor Scott zur letzten und tragisch endenden Etappe seiner Expedition, zur Eroberung des Südpols, aufbrach, hat er Kathleen in einem Brief aus dem Basislager zu ihrer Gefasstheit und Selbstkontrolle gratuliert. Sie sei die »Antithese einer mitleidheischenden Strohwitwe«. Er hat sich nicht in ihr getäuscht. Ihr Status hat sich jedoch in der Zwischenzeit verändert: Aus der Strohwitwe ist eine echte...

Erscheint lt. Verlag 26.9.2023
Zusatzinfo Mit Bildteil
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte Abenteuer • Auguste Rodin • Bildhauerei • Entdeckerin • George Bernard Shaw • Isadora Duncan • Kathleen Bruce • kathleen scott • Künstlerbiografie • Künstlerin • Mazedonienkrieg • Robert Falcon Scott • Südpolexpedition • Viktorianisches Zeitalter
ISBN-10 3-86648-829-7 / 3866488297
ISBN-13 978-3-86648-829-8 / 9783866488298
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