Komplizin (eBook)

Roman | Von den dunklen und schmutzigen Geheimnissen der Filmindustrie | #MeToo

Thomas Wörtche (Herausgeber)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
500 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77588-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Komplizin -  Winnie M Li
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Dieses Buch ist all denen gewidmet, deren Leben in Mitleidenschaft gezogen, deren Karrieren zerstört und deren Stimmen nicht gehört wurden. #MeToo

Die zwei wichtigsten Lektionen, die man über die Filmindustrie wissen muss:
1. Diejenigen, die das Geld haben, haben die ganze Macht.
2. Diejenigen, die die Macht haben, bekommen, was sie wollen.

Die junge Sarah Lai, Tochter chinesischer Immigranten, die in New York ein Chinarestaurant betreiben, ist völlig von Filmen besessen. Mit enormem Fleiß und überragendem Talent schafft sie es, in einer Arthouse-Produktionsfirma Karriere zu machen, und sie ist auch das Hirn hinter dem riesigen Erfolg, den die kleine Firma mit ihrer ersten Großproduktion einfährt. In Cannes drängt sich der Milliardär und Investor Hugo North in die Firma und finanziert einen Blockbuster mit dem aufsteigenden Star Holly Randolph. Auch hier ist Sarah Lai das Arbeitstier hinter den Kulissen. Der zunächst so nette Hugo North entpuppt sich bald als Tyrann: Er verlangt Sex von Sarah, vermutlich auch von seiner Assistentin, letztendlich von seinem Star Holly. Beweisen kann man ihm nichts, denn alle schweigen und schauen weg. Schließlich, nachdem er die Produktionsfirma übernommen hat, feuert North Sarah.

Zehn Jahre später nimmt ein Investigativjournalist von der New York Times ihn ins Visier und interviewt Sarah in aufreibenden Sessions. Dies ist ihre letzte Chance, ihre Seite der Geschichte zu erzählen und vielleicht sogar verspätete Rache zu üben. Während Sarah von den dunklen und schmutzigen Geheimnissen der Branche erzählt, wird ihr jedoch klar, dass sie selbst einige Sünden zu beichten hat und sich fragen muss: War sie damals vielleicht sogar eine Art Komplizin?



Winnie M Li ist Autorin und Aktivistin. Die Harvard-Absolventin schrieb zuvor Reisef&uuml;hrer, produzierte Indie-Spielfilme und machte das Programm f&uuml;r Filmfestivals. Angetrieben durch ihre eigenen Vergewaltigungserfahrungen &ndash; ihr Roman zum Thema, <em>Nein</em>, machte 2017 weltweit Furore &ndash; gr&uuml;ndete sie Clear Lines, das erste Festival in UK, das sexuelle &Uuml;bergriffe und die Zustimmung dazu durch Kunst und Diskussion thematisiert, und begann ihre Doktorarbeit an der London School of Economics and Political Sciences. In Anerkennung ihrer Arbeit hat sie die Ehrendoktorw&uuml;rde der National University of Ireland erhalten. Sie lebt mit ihrem Partner und ihrem Kind irgendwo in der N&auml;he von London.

1


Der Kurs Drehbuchschreiben 101 heißt an der feinen Hochschule, an der ich unterrichte, genau so: Drehbuchschreiben 101. So originell ist der Laden.

In diesem Semester gebe ich drei Kurse – zwei in Drehbuchschreiben 101 und einen dritten, der sich entsprechend innovativ Drehbuchschreiben für Fortgeschrittene nennt.

Meine Studierenden sind nicht origineller, wobei es vermutlich mein Job als Dozentin ist, sie dazu anzustacheln. An diesem College allerdings haben die meisten Studierenden Ambitionen, die ihre tatsächlichen Fähigkeiten signifikant übersteigen. Natürlich darf ich das auf keinen Fall laut sagen. Ich muss sie bei Laune halten und ihre zum Scheitern verurteilten Fantasien einer Zukunft in Hollywood bestätigen. Und sie gleichzeitig dazu anleiten, ihrem Schreiben eine gewisse Nuanciertheit zu verleihen und wenigstens hin und wieder von der sklavischen Befolgung fester Formeln abzuweichen.

Immerhin kann ich von dem Job leben. Ich nehme die Klassiker durch, natürlich, Syd Field und Robert McKee, kann aber auch eine Portion Eigenes einbringen. Ich mache die jungen Leute mit »dem Kanon« vertraut und streue ein paar abgedrehtere Sachen ein. Schauen wir uns doch mal dieses halluzinatorische, rätselhafte Werk eines thailändischen Regisseurs an, dessen Namen ihr alle nicht aussprechen könnt. Hier kommt ein neunzigminütiger Schwarzweißfilm, der das Berlin der 1920er Jahre dokumentiert. Nur Musik, kein Dialog. Viel Spaß damit, Millennials.

In meinem heutigen 10.30-Uhr-Kurs Drehbuchschreiben 101 sprechen wir über Figurenzeichnung.

»Woran merken Sie, dass Sie es mit einer wirklich unvergesslichen Filmfigur zu tun haben?«, frage ich zwanzig verkaterte Collegestudierende, die mich wie Zombies anstarren.

Funkstille.

Manchmal hilft es, dieselbe Frage noch einmal zu stellen, nur in leicht veränderter Formulierung.

»Was macht eine Filmfigur unvergesslich?«

In solchen Fällen richte ich den Blick auf eine bestimmte Person, um ihn oder sie dazu zu bringen, etwas zu äußern – einen Satz, ein Geräusch, irgendein Anzeichen für intelligentes Leben. Diesmal versuche ich es bei Claudia, einer Brillenträgerin mit braunen Haaren, die gelegentlich einen fundierten Kommentar beisteuert. Was heute nicht der Fall ist. Sie starrt mich wortlos an.

Um Himmels willen, denke ich. Ich frage nicht mal nach der Lektüre, die ich ihnen aufgegeben habe. Es geht einfach nur ums Kino.

Sagt was, Leute!, würde ich am liebsten brüllen.

Stattdessen wiederhole ich die letzte Frage wörtlich.

»Was macht eine Filmfigur unvergesslich?«

Tatsächlich meldet ein junger Mann – natürlich ein Mann – sich zu Wort. Danny. Schmutzig blonde Haare, ein paar Piercings im Gesicht. Einer der Redseligeren im Kurs.

»Ähm … dass man sich an sie erinnert?«

Dann stößt er ein kurzes, scharfes Lachen aus. Mir ist nicht klar, ob er sich über die schiere Dummheit seiner eigenen Antwort amüsiert oder über das Geschick, mit dem er meine Frage einfach auf den Kopf gestellt hat. Jedenfalls warte ich, bis das allgemeine Kichern sich gelegt hat. Okay, nimm sie an die Hand.

»Was führt denn dazu, dass Sie sich an eine Figur erinnern?«, frage ich.

»Wenn sie witzig ist?«

»Wenn sie was Verrücktes macht?«

»Wenn sie richtig scharf ist.«

Wieder wird gekichert, aber ich ignoriere es.

»Also dann … an welche Filmfiguren können Sie sich wirklich gut erinnern?« Ich gehe durch die Klasse und versuche, Augenkontakt herzustellen. »Kommen Sie schon, nennen Sie mir ein paar.«

»James Bond«, ruft jemand.

»Luke Skywalker«, sagt ein anderer Typ.

»Thor.«

»Robert De Niro in Taxi Driver«, sagt jemand. Mir ist klar, dass er, indem er sich auf einen vor 1980 gedrehten Film bezieht, sein fundiertes Wissen demonstrieren will.

»Hannibal Lecter.«

»Fällt Ihnen auch jemand ein, der keine Leute umgebracht hat?«, frage ich. Ein paar Studierende lachen, aber niemand scheint eine solche Figur nennen zu können.

Bis jemand sagt: »Dumbo?«

Na schön, also Dumbo. Jetzt kommt die zweite provozierende Frage, die ich eigentlich gar nicht geplant hatte: »Irgendeine weibliche Figur, die unvergesslich ist?«

Wieder dieses unbehagliche Schweigen.

»Julia Roberts in Pretty Woman?«, sagt eine Studentin schließlich.

Sie hat eine Prostituierte gespielt!, liegt mir auf der Zunge. Stattdessen sage ich: »Okay, das ist ein Anfang. Immerhin war sie für diese Rolle Oscar-nominiert.«

Zur Sicherheit füge ich hinzu: »Und tolle Haare hatte sie auch.« Die Kids honorieren es mit vereinzeltem Gelächter.

Das zähe Spiel geht weiter, aber ich will das erschütternd oberflächliche Wissen meiner Studierenden ausloten. Als Nächstes fallen ihnen die weiblichen Sidekicks männlicher Helden ein. Oder Disney-Prinzessinnen.

Schließlich frage ich: »Was ist mit Scarlett O’Hara in Vom Winde verweht

Ausdruckslose Mienen.

»›Schließlich, morgen ist auch noch ein Tag‹?«, versuche ich ihnen auf die Sprünge zu helfen, indem ich Scarlett O’Haras ikonische Formulierung des Überlebenswillens zitiere.

Noch immer nichts.

»Mitreißendes Bürgerkriegsdrama, spielt in den Südstaaten?«

Wieder möchte ich sie anschreien: »Sie haben nie Vom Winde verweht gesehen?«

»Ähm, ich glaube, ich hab mal das Plakat gesehen«, sagt Danny vorsichtig.

»Dann muss ich wohl eine Vorführung zum Unterrichtsprogramm hinzufügen.« Es fällt mir schwer, meine Fassungslosigkeit zu verbergen. »Es war ein bahnbrechender Film für Hollywood, damals. Fragwürdig in der Darstellung von Rassenfragen, aber immerhin ist er 1939 entstanden.«

»O mein Gott, das ist ja … richtig alt.« Avery – blaue Haare und Lipgloss – schnappt nach Luft.

»Genauso alt wie Der Zauberer von Oz«, sage ich, um ihren Schock ein wenig zu mildern. »Sie sind im selben Jahr auf die Leinwand gekommen.«

»Den Zauberer von Oz hab ich nicht gesehen«, räumt Avery ein.

Dass es in Amerika junge Leute gibt, die ein Filmstudium anfangen und den Zauberer von Oz nicht kennen, bringt mich fast zum Heulen, buchstäblich. Aber ich gebe nicht auf.

»Filmfiguren bleiben im Gedächtnis – oder sollten im Gedächtnis bleiben –, wenn man ein Gespür für ihr Inneres bekommt. Wenn man sich ihre Hoffnungen und Ängste ausmalen kann, ihre Vergangenheit, ihre Unsicherheiten und Schwächen.«

Die Kids nicken, aber ich würde nicht darauf wetten, dass meine Worte tatsächlich in ihre Gehirne einsickern.

»Natürlich verdankt sich das zu einem großen Teil den Leistungen der Schauspielerinnen und Schauspieler, aber die arbeiten letztlich auf der Grundlage dessen, was im Drehbuch steht. Alles läuft also auf die entscheidende Bedeutung des Drehbuchs hinaus. Auf den Entwurf erinnerungswürdiger, glaubwürdiger, dreidimensionaler Figuren.«

Ich habe meinen Rundgang um ihre Tische beendet. Wieder an meinem Platz angekommen, nehme ich die Gruppe als Ganzes in den Blick.

»Die Herausforderung, vor der Sie stehen, wenn Sie ein Drehbuch schreiben, besteht darin, Figuren zu erschaffen, die nicht bloß Klischees sind, eine hübsche Frau oder ein … guter Kämpfer. Sondern jemand, der vielleicht Züge einer Person trägt, die Sie aus dem wahren Leben kennen. Jemand Glaubwürdiges.«

Sie hören noch zu, also rede ich weiter.

»In Filmen geht es um die Erschaffung von Illusionen. Menschen können fliegen, Städte werden in die Luft gesprengt, schön und gut. Aber damit die Filme funktionieren, müssen zuallererst die Figuren glaubwürdig sein.«

Sie starren mich an, eine unergründliche Herde.

Danny hebt die Hand. »Sarah?«, fragt er.

»Ja, was gibt’s?«

»Wo wir gerade von Glaubwürdigkeit sprechen, was halten Sie von all diesen Anschuldigungen, die gerade die Runde machen?«

Ich sehe ihn an und spüre, wie...

Erscheint lt. Verlag 15.5.2023
Übersetzer Stefan Lux
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte aktuelles Buch • Benjamin von Stuckrad-Barre • Booktok • bücher neuerscheinungen • Chinesische Immigrantin • Clear Lines • Emotional • Feminismus • Film • Filmbranche • Filmindustrie • Frauen • Harvey Weinstein • Hollywood • julian reichelt • Macht-Missbrauch • Machtverhältnisse • Mathias Döpfner • #metoo • metoo • misogyne Strukturen • Misogynie • Missbrauch • Missbrauchsskandal • Neuerscheinungen • neues Buch • New York • noch wach? • Schweigespirale • Sexismus • Sexual Abuse • Sexuelle Belästigung • Sexuelle Übergriffe • Spannung • ST 5326 • ST5326 • suhrkamp taschenbuch 5326 • Til Schweiger
ISBN-10 3-518-77588-X / 351877588X
ISBN-13 978-3-518-77588-2 / 9783518775882
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