Meine Stadt (eBook)
253 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77556-1 (ISBN)
Kann es ein Leben ohne Hongkong geben? Nicht für Aguo, den neunmalklugen, stolzen Bürger der Stadt. Mit seiner Schwester Afa lebt er im Haus der Tanten, genannt »die Lotusblumen«. Oder, an ihren übel gelaunten Tagen, »die Lotuswurzeln«. Aguo wundert sich über alles und jeden in der Schule, mutiert zum leidenschaftlichsten Elektroinstallateur der Stadt und lernt auf seinen Streifzügen durch das Hongkong der 70er Jahre die gesamte Bevölkerung kennen: Müllsammler und Telefonistinnen, Seemänner und Tischler. Sie alle sind vom Festland hier gestrandet, mit sehnsüchtigen Herzen und pompösen Plänen. Doch das Leben in der Stadt gestaltet sich reicher an Hindernissen als gedacht. Was Aguo, auf einem Telefonmast sitzend, nicht davon abhält, begeistert vom ewigen Leben Hongkongs zu träumen.
Xi Xi hat Generationen von Leser:innen geprägt - nun endlich kann man sie auch auf Deutsch entdecken. In ihrem Kultroman über Hongkong erzählt sie rasant und fantasievoll die stürmischen 70er Jahre der Metropole, die bis in die Gegenwart weisen - es schafft damit einen wunderschönen, virtuos verspielten Stadtroman.
Xi Xi (??) ist der nom de plume von Zhang Yan, geboren 1938 in Shanghai, verstorben 2022 in Hongkong, wo sie seit 1950 lebte. Sie gilt als eine der einflussreichsten chinesischsprachigen Autor:innen. Xi Xi hat über 30 Bücher verschiedener Genres und Stile veröffentlicht, in Zeitungen und Zeitschriften publiziert sowie Drehbücher verfasst. 2019 wurde ihr der 6. Newman Prize for Chinese Literature verliehen, 2022 erhielt sie vom Hongkong Arts Development Council eine Auszeichnung für ihr Lebenswerk. <em>Meine Stadt</em> ist Xi Xis erstes ins Deutsche übersetzte Werk.
1
Ich nicke. Klar. Was hatte ich schon zu sagen außer einem Nicken. Ein altes Wohnhaus, ein witziges Haus mit siebzehn Türen, und sie sagen: Ihr könnt hier wohnen.
»Ihr«, das sind meine Mutter Siusiu, meine Schwester Afa und ich, Aguo. Und »sie«, das sind die Schwestern meines Vaters, zwei sind die jüngeren und eine ist die ältere Schwester. Gestern früh, nein, den halben Vormittag lang musste ich nachdenken, bis mir einfiel, dass ich ihnen schon zwei Male begegnet bin. Beim ersten Mal, das weiß ich noch genau, sahen sie aus wie Lotusblumen, also hell und strahlend. Beim zweiten Mal sahen sie aus wie Lotuswurzeln, grau und schlammig.
Heute kamen sie zu mir.
– Heute wird nicht geschwommen
sagten sie. Als wären sie Königinnen. Sie haben mich mitgenommen, um das Haus anzusehen, und ich bin mitgekommen und sehe es mir an. Man sieht, dass das Haus und seine Häuserfreunde in einer Weise aufgereiht sind, die ihnen Freude macht, wie ein Wald, auf beiden Seiten der Straße. Das Haus selbst, es steht an der Straßenecke, weicht vor der Straße zurück. Während die anderen Häuser hoch sind, ist es niedrig; während die anderen Häuser fröhlich und lebhaft sind, ist es täppisch und lachhaft. Dabei fällt mir ein: Es ist genau wie ich, Aguo. Es scheint zu schlafen, darum lasse ich es schlafen. Obwohl es draußen nicht besonders kalt ist, kauert es sich zusammen, kuschelt sich in seine bleichen Steinmauern wie in eine warme Strickjacke, nimmt einen dicken Wollschal dazu. Und Handschuhe. Und Stricksocken.
Im Erdgeschoss hat es eine Gittertür mit fünf Vorhängeschlössern, dahinter liegt eine Eingangstür mit Schnappschloss, und hinter dieser Tür liegt eine Treppe, mit Stufen so breit, dass fünf Aguos nebeneinander draufpassen.
– Im ersten Stock könnt ihr wohnen
– Im Erdgeschoss wohnt der Türwart Abei
sagen die Lotusblumen. Sie sagen noch, dass sie nicht wissen, wann sie zurückkommen werden, in vielen Jahren vielleicht, vielleicht nie. Zu an-stren-gend, zu un-wür-dig, sich um ein Nest wie dieses zu kümmern, nicht besser als in der Chrysanthemenzeit geernteter Longjing-Tee neunten Grades, blabla. So reden sie und ziehen dabei die Brauen hoch, plustern dabei die Straußenfedern auf ihren Schultern auf, rosa Straußenfedern. Heute sind sie Lotusblumen.
Wir steigen zusammen die Treppe hinauf, die Stufen beantworten jeden unserer Schritte, ta-tapp, ta-tapp; mal antworten sie leise, mal laut, im immergleichen Rhythmus, betont, ta-tapp; mein Kopf ist plötzlich voll von Geschichten. Ich glaube, ich bin in einem echten Wald, wo barfüßige Kopfjäger die Trommel schlagen, ta-tapp. Nein, ich glaube, ich bin auf einer riesigen Kirchenorgel, wir hüpfen über die Tastatur und spielen zusammen ein Lied, eins wie Wir backen Brot, wir backen Brot, wir haben keine Not. Aber ich glaube nicht, dass den Lotusblumen dieses Lied gefallen würde. Herumlaufen gefällt ihnen auch nicht besonders. Sie zeigen mit der Hand nach vorn: Ich soll mich allein umsehen, alle Räume inspizieren, Wände Türen Fenster und Stühle Tische Schreibtische und Schalen Schüsseln Teller und Hände Füße Kopf und Berge Flüsse Felder und Hunde Kühe Schafe. Also gehe ich mich umsehen, beäuge die Decken und den Treppenabsatz und öffne die erste Tür, und dann geht es Tür-auf-Tür-zu, ich weiß nicht wie oft.
Ich begegne unendlich vielen Türen, unendlich vielen. Die größte hat zwei Flügel, die sich nach innen schließen, und ist so schwarz wie getrocknete Datteln. Als ich sie das erste Mal treffe, ist sie geschlossen, stolz und herausfordernd steht sie vor mir. Ich drücke sie auf, mit aller Kraft, und öffne sie einen Spalt weit; weit genug, um zehn Katzen hereinzulassen.
– Auaaa
schreit sie, ein langgezogener Schrei, und wirft mir brotkrumendicken, seifenflockendichten Staub auf den Kopf, ich muss gleich zweimal niesen. Leise rieselt der Schnee, denke ich. Dann treffe ich die Fenster. Die Fensterscheiben haben wellenförmige Reliefs, wie uralte Orakelknocheninschriften. Durch diese Fenster erkennt man nicht, was für Dinge auf der anderen Seite liegen, keine Farben, keine Formen; was auf der anderen Seite liegt, dringt niemals zu dieser Seite durch. Nur das Sonnenlicht dringt hindurch, aber es ist, einmal auf dieser Seite angelangt, nicht mehr dasselbe. Ich betrachte es gründlich; ja, es sieht aus wie Granny’s Oatmeal.
Danach, neben einer schief in den Angeln hängenden, mit einer dicken Staubschicht beladenen Tür, begegne ich einer plumpen, von Rostflecken übersäten Badewanne, der ich mit ausgesuchter Höflichkeit einen guten Tag wünsche. So geht es weiter, zu einer Spitzbogentür (das ist eine Tür, die oben kantig zuläuft wie eine Scheibe Krustenbrot). Dahinter liegt eine Galerie (die würde geschmückt mit türkischen Wandteppichen bestimmt wunderschön aussehen). Die Galerie mündet in einen Brückengang (das ist ein Weg auf Stelzen), darunter liegt ein Himmelsbrunnen (das ist ein offener, kleiner Hof). Im Hof gibt es Bäume (einer davon ist eine Guavenart, die anderen sind keine Guavenart). Die Zweige bilden sehr feine, vom Sonnenlicht eingerahmte Muster, die sie offenbar den bunten Fliesen auf die Nasen kleben wollen (damit der gute Guavenduft darin hängen bleibt).
Ich begegne Vögeln, lauter Spatzen, die gerade quer über den Deckel des Wassertanks auf dem Dach einen Hüpfwettbewerb veranstalten. Ab und zu breiten sie die Flügel aus und arrangieren dabei zusammen mit den fleckigen Bambusstangen zum Wäscheaufhängen und den sandigen, klobigen, narbigen Blumenkübeln die Farbschattierungen neu.
Anschließend nicke ich den Lotusblumen zu.
– Geh zu deiner Mutter und sag es ihr
sagen die Lotusblumen.
Mutter sagt nichts.
Es ist Sonntag. Sonntag ist wie jeder andere Wochentag. Regelmäßig passieren verschiedene Sachen, manche neu, manche sehr, sehr alt. Heute passiert etwas sehr Altes. Schon heute früh waren Mutters Augen rot wie Tomaten und dick wie Kürbisse. Jetzt ist sie umringt von sieben oder acht Frauen, die ihr aus allen Richtungen ihre feisten oder schmalen, langen oder kurzen, rechten oder linken, aber immer sehr weißen Hände entgegenstrecken, um ihr zu helfen. Ihre Hände sehen deshalb so weiß aus, weil sie alle Schwarz tragen. Allerdings leuchtet auf den Fingern der ein oder anderen Hand hübscher roter Nagellack. Abgesehen von ihren auffällig weißen Händen haben die Frauen in Schwarz noch etwas gemeinsam, sie alle besitzen nämlich wiedererkennbare, sehr verschiedene Köpfe und Gesichter.
Diese Gesichter verstecken sich normalerweise zu Hause in unserem Fotoalbum. Als das Album noch neu war, war es ganz flach, inzwischen ist es zu einem dicken Rugbyball angeschwollen. Wenn man nicht aufpasst, fallen stapelweise Gesichter heraus. Manche der Gesichter tauchten zum Beispiel zusammen mit dem schönen runden Vollmond am Tag des Mittherbstfestes zum Mondkuchenessen auf, andere zum Frühlingsfest zwischen den Bergen von Apfelsinen, Likörflaschen und Pralinenschachteln, jeweils hinter großen roten Briefumschlägen. Heute haben sie die Regeln gebrochen, sind alle auf einmal aufgetaucht und tragen alle die gleichen, gar nicht so hässlichen, wenn auch schlecht geschnittenen schwarzen Kleider, aus denen die heute so auffälligen weißen Hände ragen, die sehr beflissen, sehr behutsam um Mutter herumstreichen.
Vor mir steht eine weitere Reihe schwarzer Kleider, aus dem gezackten Rand ihres oberen Saums ragen drei seltsame Gesichter hervor, alle drei Lotuswurzelgesichter. Eins davon (Mitleidsmodus) drückt gewissenhaft die Gefühle hinter dem Gesicht aus, das heißt, die Augen sind geschlossen und die Augenbrauen sind zusammengezogen. Ein anderes (Sorgenmodus) wälzt Luft um, ob mit dem Mund oder mit der Nase, ist schwer zu erkennen. Das dritte (Verzweiflungsmodus) ist eigentlich kein Gesicht mehr, sondern nur zwei rote Ohren; der Rest, einschließlich einer Brille, ist säuberlich mit einem Taschentuch bedeckt, blau mit weißem Blumenmuster. Neben diesen Gesichtern, mit etwas Abstand, steht meine Tante Youyou, ganz allein. Stimmt nicht. Bei genauerem Hinsehen bemerke ich meine Schwester Afa neben ihr. Meine Tante steht da wie eine deprimierte Vogelscheuche, eine von denen, die mit hängendem Kopf auf einem großen Stein stehen. Ihr Mund ist geschlossen, die Lippen sind fest zusammengepresst. Meine...
Erscheint lt. Verlag | 15.5.2023 |
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Übersetzer | Karin Betz |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | aktuelles Buch • Arbeiter • Arbeiterbiografien • Asiatische Geschichte • Asien • britische Kolonie • bücher neuerscheinungen • China • Demonstrationen • Embargo • Fantasie • Festland-China • Freiheit • Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis 2024 • Hongkong • Hong Kong • Insel • Kinder • Kinderperspektive • Kolonialismus • Kolonie • Krieg • Magischer Realismus • Migration • Moderne • Neuerscheinungen • neues Buch • Nobelpreis • occupy movement • Regenschirmbewegung • Reisen • Schicksal • Siebzigerjahre • Stadt • Topographie • Transitort • Unabhängigkeit • USA • 我城 deutsch |
ISBN-10 | 3-518-77556-1 / 3518775561 |
ISBN-13 | 978-3-518-77556-1 / 9783518775561 |
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