Vor dem Fall (eBook)
510 Seiten
neobooks Self-Publishing (Verlag)
978-3-7549-9550-1 (ISBN)
Nathalie D. Plume lebt, nach mehreren Umzügen quer durch Deutschland, seit 2024 in Lüneburg und arbeitet dort hauptberuflich als Produktdesignerin. Ihre belletristischen Texte fokussieren sich auf gesellschaftlich schwierige Themen, wie Umwelt, Wirtschaft und Krieg, die sie in Gedankenexperimenten zu Geschichten werden lässt. Hierbei legt sie großen Wert auf Recherchearbeit und formt diese ungeschönt ehrlich in ihre Arbeit ein. Ihr erster Roman erschien 2022.
Nathalie D. Plume, geboren 1999, arbeitete drei Jahre neben ihres Gestaltungsabiturs im Textildesign und studiert heute in Hildesheim Produktdesign. Design und Schreiben sind für sie wie eine Melodie, die im Einklang tanzt, kreieren beide Kunstrichtungen etwas, das Menschen bewegt und inspiriert. Ihr erster Roman "§4253" erschien 2022. Geboren in Bergisch Gladbach, groß geworden in Köln und Schweinfurt, lebt sie heute in Hannover.
1.
Wind ist das Erste, was er spürt. Wind, der an ihm zieht, der ihm die Kleider vom Leib reißen will, der seine Haut in alle Richtungen drückt und sie seltsam verformt. Das Zweite ist die Kälte, die ihm in jede Pore kriecht, die sich vom Wind getragen ihren Weg unter die Haut sucht. Langsam folgen auch seine restlichen Sinne. Er kann das Tosen hören, das der Wind mit sich bringt, kann hören, wie es ihn fast taub werden lässt. Riechen kann er nichts. Sollte es um ihn herum einen Geruch geben, ist er vom Wind davongetragen worden. Langsam öffnet er seine Augen, um auch den letzten seiner Sinne zurückzuholen. Es fällt ihm viel zu leicht, fast so als hätte der Wind keine Auswirkungen auf seine Lider. Blau, Weiß, Grau ist das Einzige, was er sehen kann. Stetig wechseln sich die Farben ab, vermischen sich ineinander, weichen und formen Muster. Muster, die ihn an Wolken erinnern, die fransig aufeinander liegen und nie dieselbe Farbe zu haben scheinen. Vorsichtig versucht er sich zu bewegen, die Kontrolle über seinen seltsam weichen Körper zu bekommen, die Arme an den Brustkorb zu ziehen, die vom Wind nach oben gedrückt werden, versucht sich zu drehen, hinter sich zu sehen, nach etwas zu suchen das ihm Aufschluss über seinen Aufenthaltsort gibt. Kraftlos zieht er die Arme an sich, doch an Stelle der erhofften Kontrolle, verliert er sie nun komplett. Unkontrolliert schlagen seine Arme umher, flattern im Wind, wie Fahnen im Sturm, drehen seinen Körper im Kreis, reißen seine Beine umher, drehen ihn in alle erdenklichen Richtungen. Braun und Grün mischen sich in sein Blickfeld, trennen sich klar vom Blau und Weiß, drehen sich vor seinen Augen im Kreis, wie ein Karussell. Blau, Weiß. Braun, Grün. Blau, Weiß. Braun, Grün. Immer und immer wieder bis er es endlich schafft seine Arme und Beine neben sich zu stemmen, die Kontrolle über seinen Körper zurückgewinnt und endlich begreift was mit ihm passiert.
Er fällt. Sekunden schnell fällt er aus dem Himmel, immer näher auf den Boden zu. Der Wind wird immer lauter, immer bedrohlicher zieht er an ihm und versucht ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Panik überkommt ihn. Nicht die Panik auf dem Boden aufzuprallen, nicht die Panik dem Tod ins Auge zu sehen, sondern die Panik Nichts dagegen tun zu können. Keine Chance zu haben etwas an seinem Schicksal zu ändern. Phobisch tastet er sich ab, sucht nach etwas, das ihm Halt geben kann, das ihm vor dem Sturz ins Nichts bewahren könnte. Seine kalten Hände ertasten eine Schlaufe, sie ist mit einem Rucksack auf seinem Rücken verbunden und leuchtet in freundlichem, aber warnendem gelb. Ein Fallschirm. Viel zu hektisch zieht er mit aller Kraft an der Schlaufe, reißt sie aus dem Rucksack und entlässt den weißen Pilotschirm in den reißenden Wind. Drei Sekunden später folgt ihm der Flächenfallschirm mit seinem leuchtendem Orange. Einen Moment scheint er ihn zu halten, seinen Sturz in einen Flug zu wandeln, doch irgendetwas bringt den Schirm ins Straucheln, zerknüllt ihn wie ein weggeworfenes Papier und bringt ihn nur noch mehr ins Schleudern. Angsterfüllt schreit er in den Wind, verflucht das dünne Nylon und sucht nach dem Reserveschirm. So viele Seile, so viele Schlaufen, die um ihn herumschlagen wie Peitschen. Links an seiner Brust ist es kalt und hart, rechts weich und warm. Er ertastet links einen Metallgriff und rechts ein kleines weiches Kissen, das sich in seine Hand schmiegt. Welche Seite sollte er nun ziehen? Welche würde ihm den Rettungsschirm schenken? Instinktiv folgt er dem weichen warmen Kissen. Ein Ruck durchzieht seinen Fall, lässt ihn schlagartig aufhören zu straucheln. Der orangene Hauptfallschirm gleitet zur Seite und entfernt sich von seinem Besitzer. Wieder ist er im freiem Fall Richtung Boden, der nun immer schneller und deutlicher vor ihm liegt. Er schließt die Augen und zieht an dem Metallgriff, der immer noch in seiner Hand liegt. Wieder durchzieht seinen Fall ein Rucken, diesmal wirft es ihn jedoch nicht weiter nach unten, sondern reißt ihn nach oben. Er öffnet seine Augen, blinzelt nach oben und beobachtet das weiße Nylon, das sich über ihm ausgeworfen hat. Einen Moment ist es ruhig. Der Wind hat sich in ein leichtes Säuseln verwandelt und die Kälte weicht der Hitze, die sich in seinem Körper ausbreitet. Nur einen Moment sortieren sich seine Gedanken, hat er die Möglichkeit einen unbeschwerten Atemzug zu tun, bevor sich der Schirm über ihm krümmt und einer Böe folgend zur Seite schlägt. Die dutzenden Seile über ihm verdrehen sich, wie die Stahlseile einer Schaukel und drehen ihm erneut im Kreis. Durch die Todesangst getrieben, greift er in die Seile, versucht sie gegen ihre Richtung zu drehen, sie zu entwirren und ihnen erneut eine Funktion abzuverlangen.
Der Boden wird deutlicher. Klar zeichnen sich Felder und Wiesen, Bäume und Täler, Häuser und Scheunen vor ihm ab. Näher, immer näher fliegen sie auf ihn zu und vermischen sich im Fall zu einer Todeszone. Ein letztes Mal greift er nach den Seilen, reißt sie mit aller Gewalt voneinander, dreht sich im Kreis, fällt ein kleines Stück, strauchelt und gewinnt erneut die Kontrolle über den Reserveschirm. Langsamer werdend gleitet er über einige Bäume und Felder, tastet den Boden mit seinen Augen nach einem geeigneten Landeplatz ab und fokussiert seinen Blick auf freie Flächen. Einige Sekunden hat er Zeit dafür, bis die Bäume und Felder erneut auf ihn zurasen und er bemerken muss, dass er immer noch viel zu schnell auf sie zu fällt. Hektisch versucht er zu lenken, doch der Schirm hat sein ganz eigenes Ziel im Blick. Ein großer Busch in dessen Mitte eine alte Eiche hervorragt, schnellt auf ihn zu, will ihn mit ihren großen Armen fangen, ihm vor dem Boden bewahren. Erneut schließt er seine Augen, will nicht mit ansehen, was als nächstes passieren wird.
Der Aufprall ist hart. Dicke Äste reißen an ihm, versuchen ihn zu fassen, ihn an seinem Sturz zu hindern, doch wie eine stumpfe Säge bricht er durch den Baum und seine Arme rutschen über Blätter und Rinde, fällt weiter und schlägt mit der Wucht eines 80 kg schweren Sandsackes auf den Boden auf.
Bei einem schweren Sturz sollte man sich nicht bewegen. Man sollte sich ruhig verhalten und warten bis Hilfe eintrifft. Zu viele Dinge können sich verschlechtern, sollte man hektisch werden oder sogar unbedacht sein und aufspringen. Die meisten Menschen verletzen sich nach einem Unfall, nicht wären dessen. Sie sterben, weil sie durch Panik getrieben aus ihren Autos springen und benommen in den Verkehr rennen. Sie lähmen ihren Körper, weil sie ihre angebrochenen Knochen zur Bewegung drängen. Sie versuchen sich selbst zu befreien und stürzen nur noch weiter in die Tiefe. Sie verdrängen alles, was sie gelernt haben, alles, was sie wissen und alles was ihre Vernunft ihnen ins Ohr flüstert und folgen einem Trieb, der über all diese Dinge hinweg schreit: Lauf! Bring dich in Sicherheit, flieh von diesem Ort, renn um dein Leben! Was aber wenn keine Hilfe kommen wird, wenn man sich ruhig verhält, wartet, die Vernunft gewinnen lässt, sich nicht bewegt und trotzdem keiner kommen wird, um einen zu retten. Gedanken, die einem durch den Kopf schießen, wenn man da liegt, sich nicht traut die Beine zu regen, aus Angst man könnte sie nicht mehr spüren, kein Wort über die Lippen bringt, weil der Schmerz einem die Kehle zuschnürt, einem heiß ist, obwohl man unterkühlt und viel zu wenig Luft in den Lugen Platz zu haben scheint. Experten sprechen ab jetzt von der „Golden Hour of Shock“. Innerhalb dieser Stunde sollte der Verunglückte medizinisch versorgt, behandelt und in ein Krankenhaus gebracht werden. Jede weitere Stunde sinkt die Wahrscheinlichkeit zu überleben.
So liegt er nur da, atmet flach, blinzelt in die zerlöcherte Baumkrone, versucht nicht an seine Beine zu denken, nicht in Panik auszubrechen und die Kälte nicht gewinnen zu lassen, die sich von Minute zu Minute enger um ihn legt. Das Problem ist nur, dass eine Stunde lang werden kann, vor allem wenn man auf ihr Ende wartet oder darauf, dass jemand kommen wird und ihr Ende mit sich bringt. Er hält es nicht lange aus, bewegt langsam und vorsichtig seine Zehen, öffnet und schließt seine Hände, hebt seine Arme, streicht sich über Gesicht und Brustkorb, tastet die Rippen, Hüfte und Beine ab und richtet sich behutsam und schwerfällig in eine sitzende Position. Unsicher dreht er seinen Kopf umher und erfasst mit bangen Augen seine Umgebung. Er sitzt in einem wilden Ligusterbusch, die spitzen Äste bohren ihm in die Haut. Vor ihm liegt ein Feld. Grüner Roggen wiegt leicht im Wind, gibt den Böen nach und tanzt vor seinen Augen. Über ihm hängt der weiße Rettungschirm, zerfetzt von den Ästen der Eiche. Vom Hauptschirm ist nicht zu sehen, er könnte vom Wind kilometerweit getragen worden sein. Langsam dreht sich sein Kopf nach rechts, weg von dem Schirm und weg von dem Roggen auf die andere Seite. Ein Zucken durchdringt ihn, lässt seinen Körper schlagartig in Angriffsposition gehen, zwingt seine schmerzenden Glieder sich zu erheben und aufzuspringen, ohne an die Folgen zu denken.
Ein Mädchen steht vor ihm, sie starrt ihm genau in die Augen, sieht aus als hätte sie genau hier auf ihn gewartet, als hätte sie gewusst, dass ihn diese Eiche in diesem Moment fangen würde. Ihre hellen braunen Haare reichen normalerweise bestimmt bis auf die Schultern, werden nun aber von einem gelben Haarband in einem zerzausten Zopf gefangen. Sie trägt eine grüne Wachsjacke und einen dunklen roten Pullover darunter, der sich ganz fürchterlich mit den fliederfarbenen Gummistiefeln beißt. Auf dem Kopf trägt sie einen gelben Regenhut, der nass und schwer herunterhängt und in ihren Händen hält sie einen seltsam aussehenden Gegenstand, der anscheinend aus Pappmaché selbst...
Erscheint lt. Verlag | 3.5.2023 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Brutal • düster • Gefährlich • Geheim • politisch • schnell • spannend |
ISBN-10 | 3-7549-9550-2 / 3754995502 |
ISBN-13 | 978-3-7549-9550-1 / 9783754995501 |
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