Zwischen den Sommern (eBook)

Roman
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2023 | 1. Auflage
368 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-6076-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zwischen den Sommern -  Alexa Hennig von Lange
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Isabell zieht mit ihrer kleinen Familie in die Nähe ihrer Großmutter Klara. Zufällig entdeckt sie in deren Haus einen Karton mit Tonbandkassetten. Darauf offenbart die alte Frau, die Isabell immer als unnahbar empfunden hat, ein Geheimnis, das sie sich am Ende ihres Leben von der Seele reden wollte - und das in ihrer Familie bis heute nachwirkt. Sommer 1939: Klara und Gustav heiraten, und obwohl es nur eine kleine Feier ist, haben alle das Gefühl, dass etwas Großes beginnt. Ihr Zuhause richten sie sich in einem Häuschen neben dem Frauenbildungsheim ein, das Klara für die Nationalsozialisten leitet. Das jüdische Mädchen Tolla, das Klara über Jahre bei sich versteckt hat, soll mit einem Kindertransport ins sichere Ausland kommen. Nun scheint ein Stück Normalität möglich, wenigstens für kurze Zeit. Denn dass dies der letzte Sommer vor dem Krieg sein wird, ist überall zu spüren. Wenig später wird Gustav eingezogen und Klara, inzwischen schwanger, muss ihren Weg durch das Dritte Reich, zwischen Schuld und Verantwortung, allein finden. Als der Krieg schließlich in die Stadt am Harz zurückkommt, stellt sich für Klara die Frage, ob ihr das Leben wirklich keine andere Wahl gelassen hat.? >Zwischen den Sommern< ist nach >Die karierten Mädchen< der zweite Band der >Heimkehr-Trilogie<, die vom Ende der Zwanziger bis in die Sechzigerjahre reicht. Sie ist inspiriert von den Erinnerungen von Alexa Hennig von Langes Großmutter, die diese im hohen Alter auf mehr als einhundertdreißig Tonbandkassetten aufgenommen hat.

1.

Vorsichtig setzte Klara einen Fuß über die Türschwelle auf die Terrasse. Mit der Hand klammerte sie sich am Türrahmen fest, dann zog sie den anderen Fuß nach und stellte ihn auch auf die Terrasse. Sie hörte die Tauben weit hinten in der Rotbuche gurren. Vor ihr lag ihr Garten. Rechts und links zogen sich die hohen Buchenhecken bis zum rückwärtigen Gartenzaun. In den Rabatten blühten die unterschiedlichsten Blumen, das Rosa der Tränenden Herzen musste jetzt besonders prächtig leuchten. Der Himmel war verhangen, die Sonnenstrahlen schafften es noch nicht, durch die Wolkendecke zu brechen. Jedenfalls fühlte Klara kein direktes Licht auf ihrem Gesicht oder ihren Händen. Es war ein später Augustmorgen und der Rasen vor ihr schimmerte in diesem bläulichen Grün. War es nicht so?

Was sie vorhatte, war nicht ganz ungefährlich. Noch lag ihre Hand sicher auf dem Türrahmen. Sie trug ihren dunkelblauen Mantel. An einer dünnen Halskette baumelte die goldene Uhr, die sie als Vierzehnjährige von ihren Eltern zur Konfirmation bekommen hatte. Ihr langes graues Haar hatte sie zu einem strengen Dutt gebunden. Und natürlich hatte sie einen Hut auf. Ohne Hut verließ sie niemals das Haus. Egal, wie heiß und schwül es draußen war. Ob sie auf die Straße ging oder nur in ihren eigenen Garten. Langsam ließ sie den Türrahmen los und machte einen tastenden Schritt über die Steinplatten.

Klara war einundneunzig Jahre alt. Sie war blind. Ihre Töchter hatten sie gebeten, auf keinen Fall allein in den Garten zu gehen. Schon gar nicht bis zum rückwärtigen Zaun. Und genau dorthin wollte sie heute einen kleinen Ausflug machen. Es kam ihr nicht unvernünftig vor, sondern eher wie ein kleines Abenteuer. Gleichzeitig wusste sie, dass es wahrscheinlich mit ihr vorbei war, wenn sie stürzte. Die Nachbarn auf der linken Seite, eine Familie, deren Kinder im Sommer hinter den hohen Hecken im Planschbecken herumsprangen, waren in den Urlaub gefahren. Sie würden ihre Hilferufe also nicht hören. Die Dame, die im Haus auf der rechten Seite wohnte, war sehr schlecht zu Fuß. Zweimal am Tag kamen das Essen auf Rädern und der Pflegedienst zu ihr. Ansonsten blieb Frau Clasen nichts anderes übrig, als auf die Besuche ihrer Kinder zu warten. Sie würde also auch nicht helfen können, falls Klara stürzte.

So eintönig wie ihre alte Nachbarin wollte Klara jedenfalls nicht ihre Tage verbringen. In ihrem ganzen Leben war sie nicht ein einziges Mal gefallen. Sie hatte sich noch nie verletzt. Warum sollte ihr jetzt etwas passieren? Ihr jüngerer Bruder Kurtchen hatte schon als Vierjähriger seinen Zeigefinger in der Häckselmaschine verloren. Aber sie hatte sich nicht einmal beim Kartoffelschälen in den Finger geschnitten. Zumindest konnte sie sich nicht daran erinnern.

Weit über ihr kreuzte ein Flugzeug den Himmel. Drinnen im Haus klingelte das Telefon. Das Klingeln drang durch den Flur, das Esszimmer und die angelehnte Terrassentür. Wahrscheinlich war es eine ihrer Töchter, die versuchte, sie zu erreichen. Es gab ja sonst niemanden, der sie anrufen würde. Ihre drei Töchter waren liebe Kinder. Kinder, die sich – obwohl sie alle ihr eigenes mehr oder weniger funktionierendes Leben hatten – um sie sorgten und verlässlich nachfragten, ob bei ihrer Mutter alles in Ordnung sei. Das war natürlich sehr schön und genau zu solch umsichtigen Menschen hatte Klara ihre Mädchen auch erzogen. Doch manchmal übertrieben sie es etwas mit ihrer Fürsorge. Glücklicherweise war ihr Sohn Georg beruflich zu stark eingespannt, um sich ebenfalls Sorgen um sie zu machen.

Das Telefon klingelte und Klara wusste, wenn sie nicht abhob, würden ihre Töchter als Nächstes vermuten, sie wäre die Treppe hinuntergestürzt oder im Badezimmer ausgerutscht. Kurz vor Weihnachten, als sie einmal keine Lust gehabt hatte, ans Telefon zu gehen, waren ihre Töchter so beunruhigt gewesen, dass sie die nette Familie von nebenan aufgescheucht hatten. Die Nachbarn hatten bei ihr geklingelt, um nach dem Rechten zu sehen. Nur hatte Klara auch keine Lust gehabt, ihnen die Tür zu öffnen, was zu weiteren Unannehmlichkeiten und einer unerquicklichen Diskussion darüber geführt hatte, ob sie nicht besser in einem Seniorenheim aufgehoben wäre.

Aber so schnell, wie es jetzt notwendig gewesen wäre, um ihre Töchter nicht zu alarmieren, kam Klara sowieso nicht zum Telefon. Also blieb sie genau da stehen, wo sie stand. Sie wollte sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Sie wartete, bis das Klingeln aufhörte. Endlich war es wieder still. Bis es keine halbe Minute später erneut klingelte. Klara schüttelte widerwillig den Kopf. Wieso hatten ihre Töchter so wenig Vertrauen ins Leben? Ständig dachten sie, irgendetwas Schlimmes könnte passiert sein. Sie hätte vorhin einfach den Hörer beiseitelegen sollen, bevor sie in den Garten gegangen war.

Es klingelte und klingelte. Um diesen Unsinn zu beenden, musste Klara sich wieder nach drinnen tasten und Entwarnung geben. Aber wenn sie einmal im Haus war, würde sie nicht wieder hinausgehen. Das Hin und Her zwischen drinnen und draußen war furchtbar anstrengend. Außerdem war ihr schönes Vorhaben gestört, bis hinunter zum Ende des Gartens zu gehen. Zu dieser Jahreszeit duftete es dort so herrlich nach den Blüten des Jelängerjeliebers. Sie drehte sich langsam um und schob sich mit ausgestrecktem Arm, Schritt für Schritt, zurück zur Terrassentür. Ihr schmaler, aufgerichteter Körper spiegelte sich jetzt bestimmt im großen Wohnzimmerfenster. Dahinter hingen die bodenlangen Gardinen. Klara würde schon noch bis zu ihrem duftenden Jelängerjelieber gelangen, wo sie früher gerne mit Gustav im Gras auf einer Decke gesessen hatte. Nicht heute, aber morgen.

Gerade, als sie sich durch das Wohnzimmer in den Flur tastete, klingelte es plötzlich an der Tür. Wer konnte das sein? Abgesehen vom Supermarktlieferanten stand so gut wie nie jemand davor. Doch der kam immer Montagmittag und heute war Donnerstag. Klara bewegte sich langsam Richtung Haustür. Bevor sie öffnete, fragte sie durch die Tür so laut sie konnte: »Wer ist da?«

»Ich bin’s, Mama. Inge.«

»Inge?«

»Ich habe schon versucht, dich anzurufen. Aber du bist nicht drangegangen.«

Klara drehte den Schlüssel herum, zog die Haustür auf und blickte hinaus, dahin, wo sie ihre Tochter vermutete. »Was machst du denn hier mitten in der Woche?«

»Rainer hat in der Gegend etwas zu tun und da bin ich heute früh spontan mitgefahren. Ich habe ja keine Kinder mehr, die aus der Schule kommen und Hunger haben.«

Inge zwängte sich an ihrer Mutter vorbei, zog sich die Schuhe in der Garderobe aus und wusch sich eilig die Hände in der Gästetoilette. Klara stand neben dem Tisch im Flur und wartete. Ihre Tochter war noch nie unangemeldet vorbeigekommen. Sie und Rainer wohnten hundertfünfzig Kilometer entfernt. Und bisher hatte Rainer hier auch nichts zu tun gehabt.

Inge kam aus der Gästetoilette. »Rainer bekommt möglicherweise in der Gegend einen Auftrag. Das wäre doch schön. Dann könnte ich öfter mit ihm mitfahren und dich besuchen.«

Klara nickte und wusste nicht, ob sie das wirklich schön fand. Ihr Leben, mit sich ganz allein, gefiel ihr eigentlich recht gut. Den jungen Mann vom Pflegedienst, den ihre Töchter organisiert hatten, hatte sie auch gleich wieder weggeschickt.

Inge rauschte an ihr vorbei. Wie gewohnt, machte sie einen etwas gehetzten Eindruck. »In zwei Stunden holt mich Rainer wieder ab. Wollen wir uns ins Wohnzimmer setzen? Oder soll ich dir schon mal die Kartoffeln fürs Mittagessen schälen?«

Ohne die Antwort abzuwarten, ging Inge hinüber in die Küche und Klara hörte, wie sie ein paar Kartoffeln aus der Klappe holte und in die Spüle fallen ließ. Sie hörte, wie die Besteckschublade aufgezogen wurde, wie ihre Tochter den Wasserhahn aufdrehte und einen Topf unter den Strahl hielt. Klara blieb in der Tür stehen. Vor lauter Überraschung wusste sie gar nicht, was sie sagen sollte. Bis eben war es hier noch angenehm ruhig gewesen. Die Räume hatten ihr ganz allein gehört. Nun befand sich alles in plötzlichem Aufruhr und Hast.

Inge drehte den Wasserhahn wieder zu, schob den Topf auf den Herd und sagte: »Stell dir vor, Mama! Du wirst Urgroßmutter.«

»Ach ja?«

»Isabell ist schwanger. Das Baby kommt im nächsten Frühjahr. Es wird ein Mädchen.«

Isabell war Anfang zwanzig, gerade nach Berlin gezogen und die Mittlere von Inges drei Kindern. Constanze, ihre Älteste, studierte in Frankreich und der kleine Florian hatte gerade sein Abitur gemacht.

»Wer ist denn der Vater?«, fragte Klara. Isabell wechselte ihre Freunde ständig, soweit Klara das von ihrer Tochter erzählt bekam.

Inge seufzte. »Ein junger Mann, den Isabell beim Ausgehen kennengelernt hat. Frag mich nicht, wo. Sie meint, er sei sehr intelligent und künstlerisch begabt. Ich kenne ihn noch nicht.«

Klara hörte, wie Inge die Kartoffeln schälte, abwusch und in den Topf fallen ließ, hörte, wie sie die Herdplatte anstellte und den Deckel scheppernd auf den Topf legte. Vielleicht mit etwas zu viel Nachdruck, so, als hätte sie große Zweifel an der frohen Botschaft und den Fähigkeiten des jungen Mannes, von dem ihre Tochter ein Kind erwartete.

Nun wurde Klara also Urgroßmutter. Es war klar gewesen, dass Isabell die erste von ihren sieben Enkeln sein würde, die ein Kind bekam. Sie tat ständig Dinge, die kein junges, vernünftiges Mädchen mit wohldurchdachten Zukunftsplänen getan hätte. Obwohl Klara die Antwort bereits kannte, fragte sie in die plötzliche Stille der Küche hinein: »Möchten Isabell und der junge Mann heiraten?«

Inge legte ihr kurz die Hand auf den Arm und glitt dann an Klara vorbei in den Flur...

Erscheint lt. Verlag 1.8.2023
Reihe/Serie Heimkehr-Trilogie
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte alleinerziehend • die Weihnachtsgeschwister • Enkelin • Frauenbildungsheim • Front • Gefahr • Geheimnis • geschichtsträchtig • Große Liebe • Großmutter • Hauswirtschaft • Hochzeit • Juden • Judenverfolgung • Jüdisches Kind • Kampfsterne • Kinder • Kinderheim • Kindertransporte • Kriegsgefangenschaft • Lebensgeschichte • Lehrerin • Liebe • Mitläufer • Nachkriegszeit • Nationalsozialismus • Nazis • NSDAP • Oranienbaum • Relax • Risiko • Schuld • Schüler • Schülerinnen • Täter • Trilogie • Vergangenheit • Wehrmacht • Weimarer Republik • Weltwirtschaftskrise • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-8321-6076-0 / 3832160760
ISBN-13 978-3-8321-6076-0 / 9783832160760
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