Was wir nie verzeihen (eBook)

Kriminalroman
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
399 Seiten
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
978-3-7517-4819-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Was wir nie verzeihen -  Arttu Tuominen
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Eine Mordserie an älteren, pflegebedürftigen Männern hält die finnische Kleinstadt Pori in Atem. Als Kommissar Jari Paloviita eine SS-Uniform in der Wohnung eines der Mordopfer findet, nehmen die Ermittlungen eine unerwartete Wendung. Es stellt sich heraus, dass einer der Ermordeten in den 40er Jahren freiwillig an der Seite der Deutschen gekämpft hat. Aber trifft das ebenfalls auf Albert Kangasharju zu? Warum kommen die vermuteten Kriegsverbrechen erst jetzt ans Licht? Und wer ist es, der sich nach so vielen Jahrzehnten auf diesen brutalen Rachefeldzug für womöglich ungesühnte Taten macht?


Nominiert für den 'Nordischen Krimipreis 2021'



<p><strong>Arttu Tuominen</strong>, geboren 1981, wurde für seinen Kriminalroman<strong>WAS WIR VERSCHWEIGEN</strong> in Finnland und international ausgezeichnet. Auch die Folgebände der damit begonnenen Krimireihe waren ein großer Erfolg. Insbesondere die sensible Zeichnung der komplexen Charaktere zeichnen sein Schreiben aus. Arttu Tuominen lebt mit seiner Familie in der Küstenstadt Pori, dem Schauplatz seiner Romane. Hauptberuflich arbeitet er als Ingenieur für Umwelttechnik.</p>

Arttu Tuominen, geboren 1981, wurde für seinen Kriminalroman WAS WIR VERSCHWEIGEN in Finnland und international ausgezeichnet. Auch die Folgebände der damit begonnenen Krimireihe waren ein großer Erfolg. Insbesondere die sensible Zeichnung der komplexen Charaktere zeichnen sein Schreiben aus. Arttu Tuominen lebt mit seiner Familie in der Küstenstadt Pori, dem Schauplatz seiner Romane. Hauptberuflich arbeitet er als Ingenieur für Umwelttechnik.

2019


1


9. September 2019


Es ist Herbst und dunkel, vereinzelte Straßenlaternen beleuchten die Straßenbiegung. In einem der Einfamilienhäuser brennt Licht, die Scheinwerfer eines vorüberfahrenden Autos streifen über den schwarzen, feuchten Asphalt.

Albert Kangasharju sitzt dösend in seinem Schaukelstuhl. Er schläft nicht, ist aber auch nicht wach. Traum oder Wirklichkeit, für ihn ist da kein Unterschied. Mitunter sind sie ein und dasselbe. Orte, Zeiten und Erinnerungen – die Reihenfolge wechselt, sie vermischen sich. Immer öfter gleiten seine Gedanken weit in die Vergangenheit zurück, auch weil vor ihm nichts mehr liegt, auf das er warten könnte. Die ihm vertrauten lächelnden Gesichter, Freunde, Kindheitssommer, Verwandte, die schon vor Jahren gestorben sind, all das gehört der Vergangenheit an.

Der Schaukelstuhl knarrt, der Lichtstreifen unter der Tür wird durchbrochen, als eine Pflegerin vorbeigeht. Draußen trommeln Regentropfen wie kleine Perlen gegen das Fensterblech. Maija aus dem Nachbarzimmer ruft nach ihrer längst verstorbenen Mutter. Auf dem Fensterbrett kann er die Silhouette eines Blumenstraußes ausmachen. Jemand hat Blumen für die Vase mitgebracht, und er denkt angestrengt nach, wer es war. Hat ihn heute jemand besucht? Alles ist ein einziges großes Durcheinander. Tage, Träume, Nächte, Monate, Jahre. Er kann die Gesichter auf den Fotos nicht mehr unterscheiden, weiß aber, welche Personen darauf zu sehen sind: auf einem der Fotos er und Hilkka an ihrem Hochzeitstag, auf einem anderen Mutter, Vater und der kleine Bruder, während dort drüben die vergilbten Fotos der Mädchen mit ihren Abiturientenmützen stehen.

Sein Rücken schmerzt.

Albert denkt, wenn der Mensch altert, schrumpft alles. Nicht nur der Mensch selbst, sondern auch alles um ihn herum. Unter dem Gewicht der Zeit sackt die Welt zusammen wie eine von Wasser durchtränkte Decke. Und die Alten werden in Heimen begraben, lange bevor sie tot sind.

Der Schaukelstuhl knarrt erneut. Albert schreckt hoch, er war also doch weggenickt.

Der Traum ist zum Greifen nah. Albert fühlt, dass er sich auf ihn herabsenkt wie ein schwerer Mantel.

Er sehnt ihn herbei und fürchtet ihn zugleich.

Dann kehrt der Traum zurück und zeichnet einen Wald ans Fenster.

Im Traum steht Albert auf einer Lichtung. Die Bäume um ihn herum sehen aus wie die Speere eines Riesen, abgeknickt, wild übereinandergeworfen und mattschwarzschimmernd. Es riecht nach einer Mischung aus Frost, Harz und feuchter Erde. Zwischen den Stämmen wabert dünner Nebel. Es ist vollkommen still, doch der alte Mann weiß, dass diese Stille trügt. Der Wald ruft ihn.

Schreit.

Zwischen den Baumstämmen steht eine Frau. Albert hofft, dass sie Zündhölzer bei sich hat. Denn dann könnte er ein Hölzchen streichend entfachen und die Dunkelheit für einen kurzen Augenblick verbannen. Ihn verlangt es, ihr Gesicht zu sehen. Er muss es einfach sehen.

Albert schreckt aus dem Schlaf hoch. Der Wald und der Geruch nach gebranntem Kalk verschwinden. Nun ist er wieder im dritten Stock des Pflegeheims. Die Wanduhr tickt. Die Zeit vergeht. Die Fotos auf dem Nachtschränkchen starren ihn aus dem Dämmerlicht heraus an. Er richtet sich auf, stützt sich auf den Armlehnen ab, dann an der Wand und umfasst die Griffe des Rollators. Albert kommt der Gedanke, dass er Klaus anrufen sollte. Er muss ihn anrufen und ihm von der Frau in seinem Traum erzählen. Klaus weiß immer, was zu tun ist. Hat es schon immer gewusst. Allerdings ist sich Albert nicht sicher, ob Klaus noch lebt, denn er hat seit über zwanzig Jahren nichts von ihm gehört.

Ich muss Klaus anrufen, denkt er wieder. Klaus weiß, was zu tun ist.

Er betätigt die Klingel und wartet.

Inkeri kommt herein und knipst das Licht an. Das Licht blendet die Netzhaut empfindlich. Sie drückt sich die Hand aufs Herz.

»Was stehst du hier im Dunkeln rum, ich hätte fast einen Herzschlag bekommen.«

Albert lächelt, angelt nach seiner Schiebermütze und setzt sie sich auf.

»Zeit für den Abendspaziergang.«

»Draußen herrscht das reinste Hundewetter.«

»Perfekt für einen Pudel wie mich.«

Inkeri schaut ihn mit gespieltem Tadel an.

»Hilfst du mir?«

Sie bückt sich und hilft ihm in die Schuhe, dann hält sie ihm den Anorak hin.

»Und, spürt man schon, dass ich im Fitnessraum war?«

Inkeri drückt scherzhaft seinen Oberarm und entgegnet lachend: »Holla, die sind ja hart wie Stahl. Nicht schlecht für einen Siebenundneunzigjährigen.«

Sie treten in den Korridor, Albert vorneweg und Inkeri hinterher. Es ist still. Das rote Licht über Maijas Tür blinkt, aber nirgends ist jemand zu sehen. Albert überlegt, wie es wohl wäre, jede Nacht zu erfahren, dass die Mutter schon seit Jahren tot ist. Die Nachtwache sitzt in einem Glaskasten und schaut von ihrer Zeitschrift hoch. Der Fahrstuhl hält mit einem Pling, und die Türen öffnen sich.

»Wohin soll’s gehen?«, fragt Inkeri.

»Lass uns türmen. Nach Las Vegas. Ich hab was zur Seite gelegt. Wir heiraten, kaufen uns ein Motorrad und fahren einmal quer durch Amerika. Ich fahre, du als Sozi im Hochzeitskleid hinten drauf. Das wollte ich schon immer mal machen.«

Inkeri lässt ihren Kopf auf seine Schulter sinken. »Ach, Albert! Du hältst jetzt schon seit vier Jahren jeden Abend um meine Hand an. Du weißt doch, dass ich verheiratet bin.«

»Eines Abends wirst du einwilligen.«

»Wieso bist du dir da so sicher?«

»Wie soll ich es herausfinden, wenn ich nicht jeden Abend frage?«

»Du bist wirklich ein hoffnungsloser Fall!«

»In meiner Jugend nannte man das Beharrlichkeit.«

»In meiner – pure Verzweiflung.«

Sie müssen lachen.

Der Fahrstuhl hält, und sie betreten die dämmrige Eingangshalle. Hinter der Glastür brodeln die Pfützen, das Wasser schießt in einem dicken Strahl aus den Fallrohren und ergießt sich wie ein Wasserfall über den Asphalt.

»Bist du dir wirklich sicher? Du holst dir eine Lungenentzündung und stirbst, und alle werden mir die Schuld geben.«

Albert betätigt den Lichtschalter. »Es wird nicht lange dauern. Außerdem weißt du doch, dass du mir nichts abschlagen kannst, ganz sicher keinem Veteranen den Abendspaziergang.«

Draußen ist es überraschend lau, dennoch schlingt Inkeri ihren Kittel fester um sich und bleibt unter dem Vordach stehen. Eine Schar verwirrter Nachtfalter flattert gegen das Gehäuse der Lampe an der Decke.

Direkt neben dem Rasen beginnt ein schmaler Weg und führt durch eine Gruppe von Bäumen. Im Park stehen Laternen, doch zwischen ihnen ist die Septembernacht schwarz wie das All.

»Wenn es okay ist, bleibe ich hier stehen. Ich kann dich die ganze Zeit sehen.«

Albert wirft Inkeri einen Blick zu und stutzt, als er ihren Gesichtsausdruck sieht. »Was ist?«

Inkeri versucht sich an einem Lächeln, aber es stürzt in sich zusammen, und ihre Augen füllen sich mit Tränen. »Die Ergebnisse von Mutters Laborproben sind heute gekommen. Sie hat Brustkrebs.«

»Das tut mir sehr leid.« Albert greift nach ihrer Hand. Inkeri zieht sie weg und nimmt eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche. Sie lächelt ein ramponiertes Lächeln. »Mist, verdammter, und ich sollte aufhören.«

Erst beim dritten Versuch brennt die Zigarette. Ihre Finger zittern, sie stößt den Rauch aus. »Keine Ahnung, wie das werden soll. Vaters Tod ist noch nicht mal ein Jahr her.«

Albert weiß, dass Inkeri einen Moment für sich braucht. Er stützt sich auf seinen Rollator und tritt in den Regen. Sofort peitschen die Tropfen gegen sein Gesicht und rinnen ihm in den Kragen. Sicherheitshalber macht er noch kürzere Schritte als sonst, er will nicht fallen und einen Oberschenkelhalsbruch riskieren.

Der Schotter knirscht. Der Weg macht eine leichte Biegung nach rechts. Sein Atem wird etwas schneller, doch sonst fühlt er sich fit. Wenn er eines Tages seinen Abendspaziergang nicht mehr machen kann, dann bleibt ihm nichts mehr, denkt er, dann wäre er bereit zu gehen.

Aber noch ist es nicht so weit, heute noch nicht.

Eine der Parklaternen leuchtet nicht. Ein Stück des Weges liegt im Dunkeln, erst an der nächsten Laterne wird er wieder sichtbar. Über den Weg ragen die Zweige der Bäume wie knöcherne Finger. Fette Tropfen prallen auf den Boden, als wären es Kristallperlen.

Albert schaut zurück. Inkeri spricht unter dem Vordach in ihr Handy, wohl mit ihrer Schwester. Der Mensch begreift erst wirklich, dass er lebt, wenn der Tod zum ersten Mal einen Fingerzeig schickt, denkt er. In Inkeris Fall geschah das vor einem Jahr und jetzt bereits zum zweiten Mal.

Albert bleibt unter der letzten intakten Laterne stehen und erwägt umzukehren. Vor ihm verschwindet der Weg auf einigen Metern komplett, wie in einem schwarzen Loch. Seinen Abendspaziergang hat er bisher noch nie abgebrochen. Also setzt er seinen Rollator wieder in Bewegung und tritt in die Dunkelheit. Der Weg macht hier eine Biegung. Unter der defekten Laterne bleibt er stehen und kramt eine Streichholzschachtel aus der Tasche, schüttet ein Streichholz in seine Handfläche und streicht es über die Reibefläche.

Die Flamme lodert auf. Albert erkennt die weiße Bank vor sich, die schwarzen Stämme der umstehenden Bäume, den nassen Rasen. Die Flamme wird kleiner, und das Streichholz erlischt. Albert lässt es auf die Erde fallen, steckt die Schachtel wieder ein und geht weiter. Unter seinen Sohlen knirschen Glassplitter....

Erscheint lt. Verlag 24.11.2023
Reihe/Serie River-Delta-Reihe
River-Delta-Reihe
Übersetzer Anke Michler-Janhunen
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Original-Titel Vaiettu
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte 2. Weltkrieg • Altnazi • Bestsellerautor • Bottnischer Meerbusen • Deutsche Wehrmacht • finnische Krimireihe • Finnland • Finnland-Krimi • Kokemäenjoki • Kommisar Paloviita • Kommisssar Oksman • Kriegsverbrechen • Krimibestseller • Pori • skandinavische Spannung • Suomi • Waffenbrüder
ISBN-10 3-7517-4819-9 / 3751748199
ISBN-13 978-3-7517-4819-3 / 9783751748193
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