Die November-Schwestern (eBook)
224 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3203-8 (ISBN)
»Ein Buch, das man gelesen haben muss - eine Geschichte, die sich ins Gedächtnis einbrennt.« Kirkus Reviews.
Die Anstellung eines jungen Mannes auf der elterlichen Farm bringt das Leben der drei Haldmarne-Schwestern durcheinander, das im fragilen Gleichgewicht der Jahreszeiten verläuft. Als dann der Regen ausbleibt und damit die Ernte im Herbst, wird der November zu einem Ende und zugleich zu einem Anfang. Nicht nur Margets Blick auf die älteste Schwester Kerrin verändert sich grundlegend, nachhaltig verändert ist ihr Blick auf das eigene Leben und die Chancen, die es zu ergreifen gilt.
Mit gerade einmal 24 Jahren erhielt Josephine Johnson für ihren Debütroman »Die November-Schwestern« den Pulitzer-Preis. Aktuell wird sie international neu entdeckt - dank ihres einzigartigen Sounds und der Themen, mit denen sie ihrer Zeit weit voraus war.
»Eine wichtige Autorin und radikale Stilistin, die ich jetzt erst entdeckt habe.« Monika Rinck.
»Poetisch im besten Sinne, höchst originell, ja vollkommen.« The New York Times.
Josephine W. Johnson (1910-1990) erhielt für ihren Debütroman »Die November-Schwestern« mit 24 Jahren den Pulitzer-Preis und war die bis dahin jüngste Preisträgerin der prestigereichen Auszeichnung. Sie studierte an der Washington University und schrieb insgesamt elf Bücher, darunter den Bestseller 'The Inland Island' (1969). Aus heutiger Sicht kann sie als Feministin und Umweltschützerin gelten, die geprägt war durch eine Welt der Ungleichheit und Ausbeutung, auf die sie uns mit ihren Werken aufmerksam macht. Bettina Abarbanell, geboren in Hamburg, lebt als Übersetzerin in Potsdam. Sie übertrug moderne Klassiker, darunter die Werke von F. Scott Fitzgerald und Elizabeth Taylor, aber auch zeitgenössische Bestseller wie die von Jonathan Franzen und Rachel Kushner. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis.
1
Jetzt im November sehe ich unsere Jahre im Ganzen. Dieser Herbst ist zugleich wie ein Ende und ein Anfang für unser Leben, und die Tage, die verworren schienen, weil alles, was zu nah und zu vertraut ist, unscharf wird, sind jetzt klar und fremd. Es ist ein langes Jahr gewesen, länger und bedeutungsvoller als die zehn Jahre davor. In manchen Nächten war mir, als bewegten wir uns auf eine furchtbare, hoffnungslose Stunde zu, doch als diese Stunde kam, war sie zusammenhanglos und verworren, weil wir keinen Abstand hatten, und ich merkte gar nicht recht, dass sie gekommen war.
Ich kann jetzt zurückblicken und die Tage so sehen wie jemand, der von oben auf Vergangenes schaut, und sie haben mehr Gestalt und Bedeutung als zuvor. Aber nichts ist wirklich für immer zu Ende oder wird für immer zurückgelassen.
Die Jahre waren alle gleich und verschwammen miteinander, und der Verstand ist eine Art Sieb oder Treibsand, doch an den Tag unserer Ankunft und die Monate danach erinnere ich mich gut. Zu gut. Die Wurzeln unseres Lebens, die wir in jenem März dort schlugen, haben eine seltsame Ähnlichkeit mit seinen Ästen.
Die Hügel waren damals kahl, die Winterblätter fortgeweht, aber die Obstbäume machten einen lebendigen Eindruck. Sie waren rot gefärbt von ihrem Saft, und ihre Rinde spannte, als wäre sie zu eng, um das neue Leben kommender Blätter zu fassen. Es war ein alter Ort und das Land seit dem Bürgerkrieg im Besitz der Haldmarne-Familie, doch als wir kamen, hatte seit Jahren niemand mehr dort gelebt. Nur Pachtbauern waren eine Weile geblieben und wieder fortgezogen. Das Land war steinig, wenngleich vielversprechend, und auf den Weiden, wo Felssimse bloß lagen, weiß wie im Frost gebleckte Zähne, mästeten sich Schafe. Hügelauf und hügelab waren diese großartigen Obstplantagen gepflanzt, und als Mutter sie an jenem ersten Tag sah, dachte sie daran, wie sie die Früchte pflücken und sammeln und die Äpfel die steilen Hänge hinaufschleppen müsste, sagte aber nur, es dürfte eine gute Ernte werden und die Bäume, wenngleich alt, sähen stark aus. »Kein Markt dafür da, selbst wenn sie Früchte tragen«, sagte mein Vater, ich höre es noch, und dann, »- ist mit einer Hypothek belastetes Land.«
Niemand antwortete, und unser Wagen ächzte und quietschte weiter in den Furchen. Merle und ich beobachteten die Häher, ihr blaues Geflacker hinter den Ästen, und hörten ihre Schreie. Die Ulmen waren dicht mit Knospen besetzt und bildeten braune Gespinste am Himmel. Auf den Weiden war es schön und öde, und die Walnussbäume warfen einen lavendelfarben anmutenden, blitzsauberen Schatten. Alles war fremd und unverbunden und ergab kein Muster, das man ohne Weiteres hätte nachzeichnen können. Hier waren das Land und die von der Schneeschmelze erfüllte Frühlingsluft und doch bereits der Anfang von Angst – dieser Hypothek und Vaters wegen, der von sauertöpfischer Gereiztheit und Zukunftssorgen verzehrt schien. Mutter aber saß ganz ruhig da. Er hatte ihr nichts von der Hypothek gesagt, und sie hatte gedacht, wo schon alles andere verloren war, wäre wenigstens das Land unbelastet und ein Zufluchtsort. Doch selbst in dem Moment, als sie begriff, dass auch dies unsicherer, schwankender Boden war, erlaubte ihr etwas, worüber sie immer verfügt hatte – etwas, was ich damals nicht kannte und vielleicht nie kennen werde –, es ruhig hinzunehmen. Eine Art innere Friedensquelle. Glaube war es wohl. Sie hielt vielem stand und erduldete eine Menge, stets ohne Zweifel oder Bitterkeit; und dass sie da war, zuversichtlich und unerschüttert oder zumindest den Anschein erweckend, war alles, was wir damals zu wissen brauchten. Wir konnten das Gefühl von Unbeständigkeit und Zweifel, das von seinen Worten aufgestiegen war, vorerst vergessen. Merle war damals zehn und ich vierzehn, und uns war, als hätte ein großes Abenteuer begonnen. Doch Vater schaute nur auf die alten, verrotteten Ställe.
Er war nicht zum Farmer geboren, Arnold Haldmarne, obwohl er als Junge auf dem Land aufgewachsen war und nun auf ähnliche Felder zurückkehrte wie die, die er früher gepflügt hatte. Er besaß nicht die Ergebenheit, die ein Bauer haben muss – jene, die weiß, wie wenig Sinn es hat, zu hoffen, zu hassen oder auch nur um eine einzige Bohne zu beten, bevor ihre Zeit gekommen ist. Er war erst sechzehn gewesen, als er das Land verließ, und war nach Boone gegangen, wo er sich einen Platz in den Holzfabriken erarbeitet hatte. Er hatte gespart und war schwer und langsam höher gekommen, wie eine Eiche oder Esche, die mit Mühe wächst, aber viel mehr wert ist als jede binnen einer Jahreszeit um sechzig Zentimeter in die Höhe schießende Pappel. Doch jetzt war er wieder auf seine Wurzeln zurückgestutzt worden. Es ist eine eigentümliche Erfahrung für einen Mann, jahrelang für Sicherheit und Ruhe gearbeitet zu haben und innerhalb weniger Monate alles dahinschwinden zu sehen; jene fremdartige Leere und Dunkelheit zu spüren, wenn man nicht mehr gebraucht wird, nicht mehr notwendig ist. Bei ihm war alles langsam entstanden und schnell vergangen, und das machte ihn misstrauisch sogar gegenüber dem Land.
Wir schleppten unsere Betten auf dem Wagen mit hierher. Das Auto war verkauft, auch der Großteil der Möbel verloren. Wir ließen unser anderes Leben hinter uns, als hätte es dieses Leben nie gegeben. Nur das, was Teil von uns war, was wir gelesen hatten und woran wir uns erinnerten, kam mit und die Bücher, die wir über drei Generationen angesammelt hatten und nicht verkaufen konnten, weil die Erde schon knietief in Büchern watete. Wir ließen eine völlig falsche, verworrene Welt hinter uns, in der sich alle gegenseitig anbrüllten, und kamen in eine, die nicht weniger hart war, nicht weniger bereit, einem Menschen Steine in den Weg zu legen oder ihn zu verstoßen, ihm dafür aber wenigstens irgendetwas zurückgab. Was mehr war, als die andere Welt tun wollte.
Das Haus war schon damals alt, nicht aus Baumstämmen, sondern aus senkrechten Brettern gebaut wie Scheunen. Es war von Klettertrompeten und wilden roten Efeuranken überwuchert, die verknäult und schwer auf der Veranda lagen. Wilde Trauben über dem Brunnen waren schwarz im Herbst, und über der Pumpe gab es eine Laube aus gezüchtetem Wein. Ganz oben in den blattlosen Reben fand Vater ein altes Drosselnest und holte es herunter, damit Merle es im Frühling nicht für ein neues Nest halten und auf Vögel warten würde, die nie kämen. Sie füllte es mit runden Steinen und legte es auf den Kaminsims, vielleicht weil sie dachte, das Feuer würde Steinvögel schlüpfen lassen – wer weiß. Sie steckte voller eigenartiger Vorstellungen und bildete sich Dinge ein, die auf der Erde gar nicht existierten. Manchmal wirkte sie älter als Kerrin, die fünf Jahre vor ihr geboren war.
Jenen ersten Frühling, als alles neu für uns war, habe ich auf zweierlei Weise in Erinnerung; einerseits von Sorge und Angst getrübt wie von einem grauen Nebel überall dort, wo Vater war – einem Nebel, der nicht immer sichtbar und trotzdem da war –, andererseits gemischt mit dieser Liebe, die wir für das Land selbst empfanden, jede Stunde auf tausend Arten changierend und schön. Ich erinnere mich, dass der zweite Tag nach unserer Ankunft stürmisch war, mit faustgroßen Schneeflocken und einem Nordwestwind, der von den Hügeln herunterblies und an den Fenstern rüttelte, bis die Scheiben fast zerbrachen, und wie der Schnee nass gegen das Glas knallte. Wir hielten es für ein Vorzeichen, wie die Winter hier sein würden, doch seltsamerweise war es danach nicht kalt, obwohl der Schnee fast sechzig Zentimeter hoch lag und ein Wind die Hickorys vom Geäst bis zur Wurzel schüttelte und die Eichen erzittern ließ. Merle und ich gingen zu einer steinigen Stelle im Wald, wo die Felsen abschüssig waren und einen Wasserfall bildeten, sahen dort die Luftblasen unters Eis kriechen und mit schnellem, glitschigem Geschlängel wie scheue Kröten davonhuschen. Unten im Seichten, bei den Krebsen, waren die Schlammfarne grün und frisch, und die Sonne brannte so heiß, dass wir mit offenen Mänteln herumliefen und unsere Mützen einsteckten. Vieles, so schien es hinterher, war wie jener...
Erscheint lt. Verlag | 19.9.2023 |
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Übersetzer | Bettina Abarbanell |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Now In November |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Afroamerikaner • Dürre • Dust Bowl • eugenides • Feministisch • Frauen • Great Depression • Klassismus • Landflucht • Naturkatastrophe • Pulitzer • Rassismus • Schwarze • Selbstmordschwestern • sharecropper • Solidarität • Stadtflucht • Stoner • Umwelt • Weltwirtschaftskrise • Wiederentdeckung • Wirtschaftskrise |
ISBN-10 | 3-8412-3203-5 / 3841232035 |
ISBN-13 | 978-3-8412-3203-8 / 9783841232038 |
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Größe: 732 KB
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