Ich bin so gierig nach Leben – Brigitte Reimann (eBook)
528 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3213-7 (ISBN)
Die erste große Biographie über die faszinierendste Autorin der DDR
Wie aktuell wirkt aus heutiger Sicht dieses unangepasste Leben einer Schriftstellerin, die vielen als Femme fatale galt, vor allem aber eine moderne, selbstbestimmte Frau und vielseitige Autorin war. Während ihre Ehen scheiterten, hielt sie auch in schwierigsten Lebensphasen an ihrer schriftstellerischen Arbeit fest. Sie engagierte sich politisch und blieb sich doch stets treu gemäß dem Grundsatz: »nur nicht schweigen, nur nicht schweigend Falsches mit ansehen, und dadurch es billigen«.
Carsten Gansels umfassende Biographie liefert die spannende Neubewertung des Lebens einer Schriftstellerin in seinen Höhen und Tiefen und eines komplexen Werkes, das derzeit international entdeckt und gefeiert wird.
»Brigitte Reimann gelingt es, die berauschende, unmögliche Verlockung Wirklichkeit werden zu lassen: die eigenen Ideale zu leben.« The New Yorker
Mit bislang unbekanntem Archivmaterial, auf zahlreichen Interviews mit Weggefährt:innen basierend.
»Eine aufregende, seltsamerweise übersehene Autorin, deren Bücher in Deutschland nie vergriffen waren und die es dennoch neu zu entdecken gilt.« The Guardian
»Was Reimanns Romane groß und schön und umwerfend macht, sind ihre Frauenfiguren. Die sind so naiv, selbstbewusst, um keine Antwort und Widerrede verlegen, sinnlich und intelligent, dass man nur staunen kann.« FAS
Carsten Gansel, geboren 1955 in Güstrow/Mecklenburg, seit 1995 Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Gießen. Er arbeitete unter anderem zu Gotthold Ephraim Lessing, Hermann Hesse, Hans Fallada, Johannes R. Becher, Hans Werner Richter, Uwe Johnson, Christa Wolf, Brigitte Reimann und Erwin Strittmatter. Als Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen verantwortete er u. a. die Neuausgabe von Heinrich Gerlachs »Durchbruch bei Stalingrad« (2016), die international für Aufsehen sorgte. Er lebt in Neubrandenburg.
1.
Wo die Anfänge liegen – der Bücherschrank der Großmutter
Brigitte Reimann ist mir früh begegnet – zwar nicht persönlich, wohl aber im Bücherschrank meiner Großmutter. Dort standen »Ankunft im Alltag« (1961) und »Die Geschwister« (1963). Meine Großmutter war eine belesene Frau, die noch bis ins hohe Alter fließend Französisch und Englisch sprach. Auch das Lateinische beherrschte sie. Nach der Flucht aus dem Osten im Herbst 1945 war sie gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter, meiner Mutter, in Güstrow gestrandet, weil ihre Schwägerin hier wohnte. Gerettet hatten sie nichts, verloren alles. Mit den Erzählungen über den Verlust von weit mehr als der eigenen Bibliothek bin ich aufgewachsen. Als ich dann in den 1980er Jahren Peter Weiss’ »Ästhetik des Widerstandes« las – meine Großmutter war einige Jahre zuvor verstorben –, fühlte ich mich an ihre Berichte erinnert. Weiss schildert ausführlich, wie Bertolt Brecht 1940 angesichts der vordringenden deutschen Truppen die Flucht aus dem schwedischen Exil vorbereitet. Da er nur weniges mitnehmen kann, muss er sich entscheiden: »In eine schwarze Seemannskiste gelegt wurden die wichtigsten Manuskripte, Notizblätter und Journale sowie eine äußerst gesicherte Auswahl von Büchern«, heißt es.1 Diese gesicherte Auswahl herzustellen bereitet Brecht geistige Qual. Das Problem für ihn besteht darin, dass er sich von zahlreichen Texten nicht trennen mag, viele haben ihn »seit seiner Jugend begleitet«.2 Während Helene Weigel »Kupferschalen, Teekessel und Bratpfannen verstaute, stopfte Brecht noch, wo immer eine Spalte frei war, Bücher, die er aus dem Haufen zog, die wir ringsum gelagert hatten«.3
Da meine Großmutter 1946 sofort eine Anstellung als Lehrerin fand, blieb sie in der Sowjetischen Besatzungszone und begann neue Bücher anzuschaffen. So kam es, dass ich in dem kleinen Bücherschrank Literatur fand, die in der SBZ und späteren DDR gedruckt worden war. Dazu gehörten jene Autorinnen und Autoren, die ins Exil zu gehen gezwungen waren, nicht zuletzt weil ihre Bücher am 10. Mai 1933 auf dem Berliner Bebelplatz von Mitgliedern des Nationalsozialistischen Studentenbundes auf einem riesigen Scheiterhaufen verbrannt worden waren: Lion Feuchtwangers »Jud Süß«, seine »Häßliche Herzogin«, die »Josephus-Trilogie«, »Goya«. Von Heinrich Manns ausgewählten Werken in Einzelausgaben hatte meine Großmutter den »Untertan« und »Die Jugend des Königs Henri Quatre«. Sein Bruder Thomas Mann war vertreten mit dem »Zauberberg«, »Doktor Faustus« und zu guter Letzt mit »Ausgewählten Erzählungen«, die mit einer Widmung versehen waren: »Unserer Kollegin Affeldt zum Geburtstag gewidmet. Kollegium der Goethe-Schule. Güstrow, d. 9. 8. 54« stand dort mit schöner Schrift.
Das Besondere eines Teils der Bücher im Großmutter-Schrank bestand nun darin, dass es sich durchweg um Erstausgaben des Aufbau-Verlages handelte, den Johannes R. Becher am 16. August 1945 gemeinsam mit dem Journalisten Heinz Willmann, dem Volkswirt Klaus Gysi, dem Verlagsbuchhändler Kurt Wilhelm und dem Verlagskaufmann Otto Schiele in der Wohnung von Schiele in Berlin-Dahlem gegründet hatte. Zum Programm des neu gegründeten Verlages gehörte auch ein Autor, dem Becher sich nicht zuletzt aufgrund biographischer Gemeinsamkeiten verbunden fühlte, nämlich Hans Fallada. Die Erstausgabe von »Kleiner Mann – was nun?« (1946) wie auch die zwei Teile von »Wolf unter Wölfen« hatte ich früh in den Händen, denn Fallada gehörte zu den besonders wertgeschätzten Autoren meiner Großmutter. Offensichtlich suchte sie in den Jahren nach 1945 einige jener klassischen Bücher wiederzuerwerben, die sie in ihrer eigenen Bibliothek hatte zurücklassen müssen, darunter Franzosen wie Émile Zola mit »Germinal« (1885) und »Die Erde« (1887), Engländer wie Walter Scotts »Ivanhoe« (1820) oder Charles Dickens »Oliver Twist« und »David Copperfield« (1850). Scott und Dickens griff ich mir, da war ich zwölf oder dreizehn, und »Ivanhoe« las ich sogar mehrmals. Dass Scotts Roman um König Richard I., genannt Löwenherz, als ein Geschenk ausgewiesen war, nahm ich damals nicht wahr. Erst viel später interessierte ich mich dafür, warum meine Großmutter den Roman erhalten hatte. »Unsere demokratische Schule wurde zum Vorbild für ganz Deutschland durch die patriotische Tat unserer Volkslehrer. Dank und Anerkennung für zehnjährige Aufbauarbeit in der demokratischen Schule.« Unterschrieben hatten der Schulrat und der Leiter der Gewerkschaft Unterricht und Erziehung, und es ist das Jahr 1956.
Nach welchen Prinzipien meine Großmutter ihre Bücher in den Schrank gestellt hatte, darüber machte ich mir keine Gedanken. Viel später, beim Lesen von Peter Weiss, wurde mir klar, dass sie ähnlich vorgegangen sein könnte wie Brecht. Der Erzähler in der »Ästhetik des Widerstandes« notiert nämlich, dass die Bücher »weder alphabetisch noch nach Fachgebieten geordnet, doch auch keineswegs regellos zusammengestellt gewesen waren, sondern nach Verwandtschaftsbeziehungen, nach einem System gegenseitiger Sympathien oder Zusammengehörigkeiten in Streitgesprächen«.4 Verwandtschaftsbeziehungen und Sympathien, das schien auch ein Kriterium für meine Großmutter gewesen zu sein. Der Blick in ihre neu entstehende Bibliothek belegt den Versuch einer erneuten individuellen Teilhabe an dem, was man kulturelles Gedächtnis nennen kann. Gekauft wurden vor allem jene Bücher, die zum bürgerlichen Kanon gehörten. Wenn man so will, dann handelt es sich um eine individuelle Kanonisierung, meine Großmutter steckte für sich ein bestimmtes Territorium ab, auf das sie ihre Aufmerksamkeit richtete. »Kanonisierung ist«, wie Theodor W. Adorno einmal gesagt hat, »Bildung durch Fortlassen«5. Mit anderen Worten: Ein Kanon entsteht mit einem Trennungsstrich, denn es wird eine Dialektik zwischen dem produziert, »was hineinkommt«, und dem, was »draußen bleibt«. Wenn ich unter diesem Gesichtspunkt heute die Bestände des Bücherschrankes meiner Großmutter betrachte – die meisten befinden sich in meinem Besitz –, dann hat es den Anschein, dass ihr Kaufinteresse in den 1960er Jahren deutlich zurückgegangen ist. 1896 geboren, kam sie in dieser Zeit bereits ins Rentenalter. Unterrichtet hat sie allerdings noch, da war sie einige Jahre über 70. Warum? Sie hatte – vermutlich auch durch ihre Erfahrungen mit Erstem Weltkrieg, Inflation, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust, schließlich Flucht und Vertreibung – eine Lebensmaxime. Oftmals zitierte sie einen Spruch des indischen Dichters und Philosophen, Rabindranath Tagore, der 1913 als erster asiatischer Autor den Literaturnobelpreis erhielt. »Ich schlief und träumte, das Leben sei Freude«, hatte er notiert. »Ich erwachte und sah, das Leben war Pflicht. Ich handelte, und siehe, die Pflicht war Freude.«6 Pflicht war für meine Großmutter vielleicht auch der Erwerb von Gegenwartsliteratur, die sie eher distanziert-zurückhaltend zur Kenntnis nahm. Es steckte in den Texten, so ihre Aussage, zu viel »Tendenz«, mithin Ideologie, wie sie meinte. Das, was man in der DDR mit dem »neuen Gegenstand« bezeichnete, bereitete ihr Unbehagen. Die DDR-Literatur ab Mitte der 1960er Jahre hat sie dann kaum noch zur Kenntnis genommen. Umso mehr verwundert es, dass sich in ihrem Bücherschrank die zwei Texte von Brigitte Reimann fanden, »Ankunft im Alltag« (1961) und »Die Geschwister« (1963). Vermutlich hat sie an den »Geschwistern« die deutsch-deutsche Thematik interessiert, denn ihr Sohn, mein Onkel, war nach der amerikanischen Kriegsgefangenschaft in den westlichen Besatzungszonen geblieben, und so war die Familie fortan geteilt. Ob meine Großmutter Brigitte Reimann wirklich gelesen hat, vermag ich nicht zu sagen. Gesprochen haben wir darüber nicht.
In den 1970er und 80er Jahren wurde Brigitte Reimann zu einer Art Kultautorin, und zwar mit jenem Roman, der unvollendet blieb und dennoch 1974 erschien, »Franziska Linkerhand«. Im Nachsatz hat Walter Lewerenz, Brigitte Reimanns langjähriger Lektor beim Verlag Neues Leben, festgehalten, warum die Autorin den Roman nicht vollenden konnte. »Am 20. Februar 1973 starb sie – noch nicht vierzigjährig – an Krebs.« Lewerenz konnte aus eigener Erfahrung etwas über die Energie mitteilen, die Brigitte Reimann in dieses Lebensprojekt gesteckt hatte. »Trotz der Krankheit, an der sie...
Erscheint lt. Verlag | 18.7.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Autorin • Brigitte Reimann • DDR • Die Geschwister • Emanzipation • Frauenrechte • Gleichberechtigung • Hoyerswerda • Küstlerin • posthum • Schriftstellerbiographie • Schriftstellerin • Schwarze Pumpe • Tove Ditlevsen • Werk • Wilde Ehe • Wirkung |
ISBN-10 | 3-8412-3213-2 / 3841232132 |
ISBN-13 | 978-3-8412-3213-7 / 9783841232137 |
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