Erstens kommt es anders (eBook)
304 Seiten
Harpercollins (Verlag)
978-3-7499-0602-4 (ISBN)
Als Seniorin Maggie an die Tür der WG in Berlin klopft glauben Studentin Carla und ihre Mitbewohner noch an ein Versehen. Doch schnell stellt sich heraus, dass es sich bei Maggie um die Vermieterin der Wohnung handelt, die beschlossen hat, das freie Zimmer in der WG selbst zu beziehen. Den Studenten bleibt gar nichts anderes übrig als sich den Wünschen der Seniorin zu beugen und so sind sie fortan den Anforderungen der rüstigen Dame ausgeliefert. Maggie kommt aus einer anderen Generation und so einiges was in der WG vorgeht, erschließt sich ihr nicht. Wozu muss man seinen Alltag auf Instagram streamen, warum ist es wichtig, für den Klimaschutz zu demonstrieren und warum fühlen die jungen Leute sich so verloren. Und während Carla und ihre Freunde ihren Weg im Leben suchen, sucht Maggie eine Möglichkeit sich aus dem Leben zu verabschieden.
<p>Die eine oder andere Anekdote aus ihren Romanen hat Bianca Nawrath aus ihrem Leben entlehnt (sie verrät aber nicht, welche): 1997 in Berlin geboren und aufgewachsen, hat auch sie im Laufe ihres Lebens zahlreiche Urlaube bei der erweiterten Familie in Polen verbracht. Nawrath ist freie Journalistin und Schauspielerin - sie stand u.?a. mit Jürgen Vogel und Til Schweiger vor der Kamera - und studiert in Berlin Journalismus.</p>
CARLA
Babys haben die Angewohnheit, so zu tun, als wären sie ein Oktopus, sobald man ihnen einen Strampler anzieht. Lisa-Marie ist da keine Ausnahme. Trotzdem versucht Carla tapfer, ihre weichen, speckigen Beine in den altrosa-weißen Stoff zu verpacken. Das Mädchen scheint sie dabei mit seinen großen Knopfaugen herausfordernd anzustarren, oder bildet Carla sich das nur ein? Ihre Unfähigkeit im Umgang mit Menschen, die noch nicht laufen und sprechen können, ist ein offenes Geheimnis. Deshalb will sie auch keine eigenen Kinder kriegen. Aus einer Zucchini wird schließlich auch nie eine richtige Nudel. Manchmal muss man sich einfach mit seiner Bestimmung abfinden.
Da Lisa-Maries Mutter nicht viel davon hält, ihre Gäste nutzlos herumstehen zu lassen, muss Carla ihr Können am Wickeltisch bei jedem einzelnen Besuch beweisen. Heute scheint ihre Schwester Emilia so unzufrieden mit ihrer Performance an der Baby-Einpackstation zu sein, dass sie ihr den Strampler einfach wortlos aus der Hand nimmt. Innerhalb kürzester Zeit hat Emilia ihre Tochter frisch gewickelt und sie obendrein zum Lachen gebracht. Dass Emilia nur drei Jahre älter ist als Carla, aber so viel besser mit Babys umgehen kann, nimmt Carla sich nicht zu Herzen. Sagt sie. Genauso wenig nimmt sie sich zu Herzen, dass Emilia ein bereits rundum zweckmäßiges Leben mit Haus, Mann und Neuwagen hat. Im Gegensatz zu ihr.
Wäre ja auch gar nichts für mich, dieses Leben.
Außer der Sitzheizung im Auto. Die genießt Carla manchmal schon, wenn auch heimlich.
»Essen ist fertig!« Emilias Mann Fabian hat mal wieder das Steuer in der Küche übernommen und das Mittagessen für alle zubereitet. Erleichtert atmet Carla auf und freut sich darauf, dieser vermasselten Prüfungssituation zu entgehen. Als wäre ihr Gefühl der Demütigung nicht schon groß genug, klopft ihre Schwester ihr mitleidig auf die Schulter: »Übung macht den Meister!« Dass sie mit diesem vermeintlich netten Zuspruch wartet, bis sie Publikum in Form ihrer stolzen Eltern und Fabian hat, hat natürlich rein gar nichts mit Profilierung zu tun. Boden, tu dich auf. Als Proviant für den Weg ins Nirgendwo packt Carla sich nur noch schnell eins von Fabians gerollten Weinblättern ein. Oder vier.
»Her mit euren Tellern!« Fabian verteilt Essen an alle, während Carla sich müde vom Scheitern an der Windelfront auf den Stuhl fallen lässt. Nebenbei streichelt er seinem Kind sanft über den Kopf und gibt Emilia einen Kuss auf die Wange. Zum Kotzen findet Carla so was. Ihre Eltern hingegen seufzen gerührt, um sich kurz darauf Carla zuzuwenden.
»Ist der Jan eigentlich noch aktuell?«, fragt ihre Mutter und meint eigentlich: »Bitte sag, dass der Jan nicht mehr aktuell ist.« Er passt mit seiner scharfen grünen Einstellung und dem Altersunterschied von zehn Jahren nicht unbedingt in das von ihr gemalte Wunschbild von Carlas Zukunft. Für ihre Mama sind zehn Jahre bereits ein halbes Leben. Bei ihr hört es sich manchmal an, als würde ihre Tochter spätestens in fünf Jahren einen Rentner pflegen, wenn sie mit Jan zusammenbleibt.
»Doch, ist er, Mama«, antwortet Carla deshalb nur trocken.
»Und warum bringst du ihn dann nicht mal wieder mit?«
Sie stöhnt genervt: »Weil ihr euch ihm gegenüber total unmöglich und peinlich verhalten würdet.«
Das stimmt zwar, aber auch nur halb. Carla hat Jan schon gefragt, ob er nicht beim Essen dabei sein will. Wie auch die letzten fünf Male, aber er hat darauf keine Lust.
Carla reicht Fabian den Teller: »Ich will so viel, wie draufpasst.«
Ihre Mutter hüstelt verlegen. Ach, Mensch, in ihrer Familie geben sich alle so unendlich viel Mühe zu vergessen, dass sie seit Generationen aus einem Arbeiterhaushalt stammen. Dabei ist es das Einzige, was Carla sympathisch an ihnen findet. Ihre Eltern wollen zu den Aufsteigern gehören, aussehen wie eine lächelnde Familie auf einem Siebzigerjahre-SPD-Plakat und dabei heimlich CDU wählen. Wenn sie denn wählen gehen und nicht gerade etwas Spannendes im Fernsehen kommt.
Fabians polierte Rolex passt ihnen gut ins Bild. Carlas Vater hilft ihm beim Verteilen des Essens und klopft seinem Schwiegersohn anerkennend auf die Schulter, ungeachtet dessen, dass er dabei die auf der Kelle klebenden Reisreste im Raum verteilt: »Das hast du toll angerichtet. Ein Festessen wie im Sunset Lux!«
Das Sunset Lux ist für Carlas Eltern das Go-to-all-inclusive-Hotel auf Malle und der Grund dafür, dass sie dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr wie frisch gebrannte Mandeln aussehen. Mindestens viermal im Jahr fliegen sie für neunundzwanzig Euro neunundneunzig von Schönefeld nach Palma. Das Hotelpersonal nennt sie beim Vornamen.
In Fabian hat das Paar den perfekten Vorzeigeschwiegersohn für Freunde und die paar Familienmitglieder gefunden, die sie vielleicht zweimal im Jahr sehen. Und auch nicht, weil man sich mag, sondern weil man nicht eine dieser kaputten Familien sein will. Fabian ist einer dieser Väter, die einen mit Babyfotos zuspammen wie ein Bot. Und hat eine eigens dafür vorgesehene WhatsApp-Gruppe erstellt.
»Es tut so gut, endlich eine richtige Familie zu sein. Und Emilia wirkt so viel strahlender, seit sie Mutter geworden ist. Ich fand sie ja schon immer attraktiv, aber seit der Schwangerschaft …« Wenn Fabian erst einmal anfängt zu reden, kann man die Beine hochlegen und sich auf Wartezeit gefasst machen.
Die Unsicherheit in Carla checkt derweil den eigenen unvollkommenen Attraktivitätsgrad aufgrund fehlender Mutterplakette ab. Ein Blick zu Emilia verrät, dass ihre Haut tatsächlich reiner ist, ihre Haare mehr glänzen, und größere Brüste hatte sie schon immer. Carla hatte gedacht, sie würde ihre Schwester irgendwann einholen in Bezug auf Weiblichkeit und Schönheit. Den Fehler, zu denken, hat sie schon oft gemacht.
»Dafür hast du eine schöne Handschrift!«, hat Emilia ihre Schwester einmal liebevoll getröstet, als sie diese Zweifel mit ihr teilte. Einmal und nie wieder. Die Margarete Stokowski in Carla ruft sie zur Vernunft, sie solle sich nicht so auf Äußerlichkeiten beschränken.
Auch als sie mit dem Essen anfangen, spricht Fabian unablässig weiter. Er spricht davon, gesellschaftlich neues Ansehen und eine vorher nicht da gewesene Ernsthaftigkeit erlangt zu haben. Jetzt erst zu verstehen, was richtige Sorgen sind. Carlas Eltern nicken eifrig. Hauptsache, sie sind beschäftigt und ersparen ihr einen Fragenhagel in Bezug auf Studium, Familienplanung und anderweitig zu erbringende Leistungen.
»Ein Kind zwingt einen, selbst kein Kind mehr zu sein«, ergänzt Emilia mit gespitzten Lippen. Sie schneidet ihr Fleischbällchen tatsächlich erwachsener, als sie es früher getan hat. Das Messer gleitet lautlos über den Teller, ihr Rücken wirkt wie an ein Lineal getackert: »Außerdem wurde es höchste Zeit für uns.« Darf Carla das als Anspielung auf Jan und sie verstehen? Muss sie alles im Leben genauso wie ihre Schwester machen, wenn sie es gut machen will?
Zumindest sieht ihre Schwester sie gerade an, ihre Augen werden dabei immer schmaler und scheinen sie zu fokussieren: »Schmeckt es dir nicht?«
»Doch, sehr lecker.« Carla muss nicht einmal lügen. Fabian ist eben wirklich ein guter Koch und sowieso perfekt. Jan kriegt zwar immerhin eine Hummusstulle hin, aber dafür verbringt er seine Zeit lieber mit Büchern als in der Küche. Carla kann ihm kaum übel nehmen, dass er keine Lust auf ihre Familie hat. Sie ja auch nicht.
»Weißt du, der Fabian, der hat nämlich extra was Veganes für dich gekocht.« Emilia spuckt das Wort »vegan« so abfällig aus, als wäre es Gülle.
»Hat er wirklich?!«, fragt ihre Mutter und schaut ihn an, als hätte er dafür einen Nobelpreis verdient. Carla schenkt ihrer Schwester zum Dank für ihre nie enden wollenden Sticheleien in Bezug auf ihre Ernährungsweise und überhaupt alles, was sie betrifft, nur ein falsches Lächeln. Die beiden hatten noch nie ein gutes Verhältnis zueinander. Nicht mal auf Fotos.
Carlas Vater merkt nichts von den Disharmonien am Tisch. Er strahlt treudoof in die Runde und hört damit auch nicht auf, als sich in Lisa-Maries Gesicht plötzlich eine anhaltende Spannung abzeichnet. Das Gesicht des jüngsten Familienmitglieds zieht sich zusammen wie die Öffnung eines Turnbeutels, und sie gibt einen angestrengten Laut von sich. Konzentriert fokussiert Lisa-Marie die Wand vor sich und knallt mit einer Faust gezielt auf das Tischchen ihres Kinderhochstuhls. Damit ist sie entladen oder besser gesagt ihr Darm. Das waren einmal frische Windeln, in denen Lisa-Marie vor wenigen Sekunden noch gesteckt hat. Zwar entkrampft sich ihre Gesichtsmuskulatur kurzzeitig, doch spannt sie sich auch direkt wieder an, um Tränen hervorzupressen. Fabian springt auf und schnappt sich die Kleine: »Da hat jemand eine sehr gute Verdauung! Ich übernehme den Schlingel und ihr lasst es euch schmecken. Die Pause habt ihr verdient.«
Behände packt er die Kleine und verschwindet aus dem Raum. Emilia schaut ihm mit sanftem Lächeln hinterher: »Er kann so gut mit Kindern …«
Ist Feiertag des Zaunpfahls, oder bildet Carla sich das unablässige Winken damit nur ein? Heute kann sie es wirklich kaum erwarten, sich auf den Heimweg zu machen. Carla gönnt ihrer Schwester das Familienglück ja wirklich von Herzen, diese Liebe und den übermäßigen Kontakt mit flüssigen Aggregatzuständen. Aber sie fühlt sich davon auch etwas gehetzt. Seit einer gewissen Zeit verspürt sie einen latenten Druck aus der Richtung ihrer Familie in Bezug auf ihre...
Erscheint lt. Verlag | 27.12.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | ältere dame • Familie • Familienroman • Feuerprobe • Fridays For Future • Generationen • Humor • Liebe • Schauspielerin • Seniorin • Studenten • Vegetarier • WG • WG-Leben |
ISBN-10 | 3-7499-0602-5 / 3749906025 |
ISBN-13 | 978-3-7499-0602-4 / 9783749906024 |
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