Moabiter Sonette (eBook)

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2023 | 7. Auflage
144 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-79443-8 (ISBN)

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Moabiter Sonette - Albrecht Haushofer
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In der Nacht vom 22. auf den 23. April 1945 wurde der Geograph, Diplomat und Schriftsteller Albrecht Haushofer von SS-Männern erschossen - nachdem er monatelang als Gefangener der Gestapo im Gefängnis Berlin-Moabit eingesessen hatte. Sein ebenfalls gefangener Bruder Heinz fand bei dem Toten eine Sammlung von achtzig Sonetten, die zu den bedeutendsten und wirkungsmächtigsten Zeugnissen literarischen Widerstands gegen Nazi-Deutschland gehören.

Albrecht Haushofer, 1903 in München geboren, 1945 in Berlin- Moabit erschossen, Geograph und Historiker, zunächst Dozent an der Hochschule für Politik in Berlin und Berater der Dienststelle Ribbentrop, später Professor für Geographie an der Berliner Univer- sität, suchte seit Beginn des Zweiten Weltkriegs verstärkt den Kontakt zum Deutschen Widerstand, dem Kreisauer Kreis, der Gruppe um Carl Friedrich Goerdeler und Mitgliedern der Roten Kapelle. Seit 1941 politisch verfolgt und zeitweilig inhaftiert, wurde er 1944 nach dem Attentat auf Hitler in Bayern verhaftet und ins Gefängnis Berlin- Moabit gebracht, in dessen Nähe er kurz vor der Einnahme Berlins durch die Rote Armee von SS-Männern liquidiert wurde.

MOABITER SONETTE


I

IN FESSELN

Für den, der nächtlich in ihr schlafen soll,

So kahl die Zelle schien, so reich an Leben

Sind ihre Wände. Schuld und Schicksal weben

Mit grauen Schleiern ihr Gewölbe voll.

Von allem Leid, das diesen Bau erfüllt,

Ist unter Mauerwerk und Eisengittern

Ein Hauch lebendig, ein geheimes Zittern,

Das andrer Seelen tiefe Not enthüllt.

Ich bin der erste nicht in diesem Raum,

In dessen Handgelenk die Fessel schneidet,

An dessen Gram sich fremder Wille weidet.

Der Schlaf wird Wachen wie das Wachen Traum.

Indem ich lausche, spür ich durch die Wände

Das Beben vieler brüderlicher Hände.

II

NÄCHTLICHE BOTSCHAFT

Noch andre Botschaft rieselt aus der Nacht

In meines Wesens kaum bewusste Schichten.

Im Wellengang von Tönen und Gesichten

Wird mir von Toten letzter Sinn gebracht.

Zu deuten, was ich fühle, bleibt versagt.

Die Toten rufen uns in eigner Weise

Mit Klängen wie von einer Sternenreise.

Nur Eines weiss ich, da der Morgen tagt.

So wenig in den stoffgebundnen Reichen,

Seit Schöpfertum im Sonnenkreis begann,

Ein Körnchen Staub verlorengehen kann,

So wenig darf ein Seelenhauch entweichen.

Wohin er weht, wenn er dem Leib entflieht –

Die Frage scheut, wer keine Grenze sieht.

III

TIBETISCHES GEHEIMNIS

In jenem Land, wo klare Winterstürme

Die höchsten Gipfel dieser Welt umwehn,

Soll man auf seltne Künste sich verstehn,

Geborgen in den Schutz der Klostertürme.

Die Weisesten der Weisen leben dort,

In Zellen eingemauert, ihrem Denken.

Der Seele streng beherrschte Strahlung lenken

Sie Andern zu, gelöst von Zeit und Ort.

Was Fugenspiel und Symphonie dem Tauben,

Was Rot und Grün dem Farbenblinden scheinen,

Gilt solche Kunst für stoffgebundnes Meinen.

Wo Geistes-Wunder, sonst ein scheues Glauben,

Schon hohes Können ist, verwandelt sich

Ins grosse Du hinein das kleine Ich.

IV

WELLENRUFE

Ich weiss vielleicht schon mehr von diesen Dingen

Als Taube von Musik; vielleicht so viel,

Wie einer hört von fernem Flötenspiel,

Der Wachs im Ohr hat: ein gedämpftes Klingen,

Doch immerhin genug, um einen Wert

Aus diesem oder jenem Ton zu hören,

Genug, den Spieler nicht im Spiel zu stören,

Genug, den Sinn zu wecken, der verehrt.

So lausch ich heute mit gebundnen Händen

Auf manches, was an viele schon sich wendet,

Auf manches, was an mich allein gesendet –

Und rufe selber aus des Kerkers Wänden,

Ob ungelenk und schwach, dem Nächsten zu:

Sei nicht in Sorge – Leben wirst auch Du!

V

AN DER SCHWELLE

Die Mittel, die aus diesem Dasein führen,

Ich habe sie geprüft mit Aug und Hand.

Ein jäher Schlag – und keine Kerkerwand

Ist mächtig, meine Seele zu berühren.

Bevor der Posten, der die Tür bewacht,

Den dicken Klotz von Eisen sich erschlösse,

Ein jäher Schlag – und meine Seele schösse

Hinaus ins Licht – hinaus in ferne Nacht.

Was Andre hält an Glauben, Wünschen, Hoffen,

Ist mir erloschen. Wie ein Schattenspiel

Scheint mir das Leben, sinnlos ohne Ziel.

Was hält mich noch – die Schwelle steht mir offen.

Es ist uns nicht erlaubt, uns fortzustehlen,

Mag uns ein Gott, mag uns ein Teufel quälen.

VI

DER SCHIERLINGSBECHER

Man will noch in Athen den Ort bezeugen,

Wo Sokrates gewartet haben soll,

Bis jene Frist der frommen Feste voll,

Um sich dem tötlichen Gesetz zu beugen.

Ich ging vorüber an der dunklen Schwelle,

Den Blick zum Parthenon emporgewandt,

Und übersah, von lichtem Glanz gebannt,

Den Todesbecher in der Tageshelle.

Nun reut mich, dass ich dort vorüberging:

Es hätte sich geziemt, ins Knie zu sinken,

Und wissend von dem Schierling mitzutrinken.

Es war ein Grosser, der sich unterfing,

Des eignen Staates blinden Mordgewalten

Als Opfertier die Treue so zu halten.

VII

BARBARENTUM

In Syrakus, in einer wilden Zeit,

Hat man Gefangne deshalb losgegeben,

Weil sie von Jammer sich im Kerkerleben

Durch Chorgesang des Aischylos befreit.

Ein Dschingis Khan sogar, des Blutes voll,

Hat seine Streiter streng dahin beschieden,

Dass man beim Bau von Schädelpyramiden

Der Denker und der Künstler schonen soll.

Die Zeiten solcher Auswahl sind vorbei,

Wer wagte heut, ein Dschingis Khan zu sein?

Wer löste Chöre von Gefangnen ein?

So preisen wir vergangne Barbarei.

In unsrer Zeit sind all die Schädel gleich.

An Masse sind wir ja so schädelreich!

VIII

RUNDMARSCH DER GEFANGNEN

In Moskau hab ich einst ein Bild gesehn.

Van Gogh der Meister. Dunkler Quadern Bau.

Ein Innenhof. Gefangne, grau in grau,

Die hoffnungslos in engen Kreisen gehn.

Nun schau ich selber durch die Gitterstäbe

In einen Hof, darin man Menschen treibt

Wie Herdenvieh, das noch zu hüten bleibt,

Bevor man ihm das Beil zu spüren gäbe.

Als Herrscher aller dieser grauen Bahnen

Steht Einer draussen, den die Lust erfüllt,

Wenn Andre leiden: Einer, der noch brüllt,

Wenn Andre schweigend schon die Wandlung ahnen,

Die aus den Gräbern sprossend längst beginnt,

Bevor sie rot in rote Ströme rinnt.

IX

DIE WÄCHTER

Die Wächter, die man unsrer Haft gestellt,

Sind brave Burschen. Bäuerliches Blut,

Herausgerissen aus der Dörfer Hut

In eine fremde, nicht verstandne Welt.

Sie sprechen kaum. Nur ihre Augen fragen

Zuweilen stumm, als ob sie wissen wollten,

Was ihre Herzen nie erfahren sollten,

Die schwer an ihrer Heimat Schicksal tragen.

Sie kommen aus den östlichen Bereichen

Der Donau, die der Krieg schon ausgezehrt.

Ihr Stamm ist tot, ihr Hab und Gut verheert.

Noch warten sie vielleicht auf Lebenszeichen.

Sie dienen still. Gefangen – sind auch sie.

Ob sie’s begreifen? Morgen? Später? Nie?

X

LAWINEN

Wem je die hohen Berge Heimat waren,

Der weiss, wie man die Hänge meiden muss,

An denen, in zermalmend-jähem Schuss

Lawinen donnernd in die Tiefe fahren.

Da mag ein ganzer Berg in Stille lauern,

Der kleinste Schneeball reisst die Hüllen auf,

Und weisse Lasten tosen ihren Lauf,

Begraben Täler unter Todesmauern.

Vermessenheit, Lawinen loszulösen!

Verbrecher, wer sich des Zerstörens freut,

Und Narr zugleich, wer nicht den Wurf bereut!

Vermessenheit, im Guten oder Bösen –

Ich büsse den Versuch! – sie aufzuhalten …

Ein Stoss – ein Wirbel – tötliches Erkalten …

XI

GERÄUSCHE

...

Erscheint lt. Verlag 1.4.2023
Reihe/Serie textura
textura
Vorwort Ursula Laack
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Lyrik / Dramatik Lyrik / Gedichte
Sachbuch/Ratgeber Beruf / Finanzen / Recht / Wirtschaft Geld / Bank / Börse
Reisen Reiseführer Europa
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Staat / Verwaltung
Schlagworte 20. Jahrhundert • Albrecht Haushofer • Deutschland • Dichtung • Drittes Reich • Gedicht • Geschichte • Lyrik • Nationalsozialismus • Sonett • Widerstand
ISBN-10 3-406-79443-2 / 3406794432
ISBN-13 978-3-406-79443-8 / 9783406794438
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