Einer von den Guten (eBook)
208 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31080-1 (ISBN)
Jan Costin Wagner, Jahrgang 1972, lebt als Schriftsteller und Musiker bei Frankfurt am Main. Seine Romane um den finnischen Ermittler Kimmo Joentaa wurden von der Presse gefeiert, vielfach ausgezeichnet (u. a. Deutscher Krimipreis, Nominierung zum Los Angeles Times Book Prize) und in 14 Sprachen übersetzt. Tage des letzten Schnees und Das Licht in einem dunklen Haus wurden 2019 und 2022 vom ZDF u.a. mit Henry Hübchen und Bjarne Mädel verfilmt. Sommer bei Nacht erhielt den Radio Bremen Krimipreis, Am roten Strand ist nominiert für den Glauser-Preis für den besten deutschsprachigen Krimi.
Jan Costin Wagner, Jahrgang 1972, lebt als Schriftsteller und Musiker bei Frankfurt am Main. Seine Romane um den finnischen Ermittler Kimmo Joentaa wurden von der Presse gefeiert, vielfach ausgezeichnet (u. a. Deutscher Krimipreis, Nominierung zum Los Angeles Times Book Prize) und in 14 Sprachen übersetzt. Tage des letzten Schnees und Das Licht in einem dunklen Haus wurden 2019 und 2022 vom ZDF u.a. mit Henry Hübchen und Bjarne Mädel verfilmt. Sommer bei Nacht erhielt den Radio Bremen Krimipreis, Am roten Strand ist nominiert für den Glauser-Preis für den besten deutschsprachigen Krimi.
Zwei
Eine Woche vergeht, zäh, langsam, wie im Flug. Alles ist widersprüchlich, alles ambivalent, einerseits genau so, andererseits exakt anders. Es würde ihn verrückt machen, würde er nicht loslassen, würde er sich nicht treiben lassen, wie auf stillem Wasser, beschienen von der Spätsommersonne.
Er arbeitet wie besessen und besser denn je, von morgens bis abends, effektiv, unermüdlich wie ein Roboter, er ist ein guter Ermittler. Das weiß er. Deshalb ist das, was er jetzt sieht, vielleicht ein Traum. Der Parkplatz, die Wasserrutsche, die Hochhäuser in der Ferne.
Aber nein, das ist kein Traum. Das ist harte Realität. Harte, traumhaft schöne Realität. Er denkt an den Jungen. Freut sich darauf, ihn zu sehen. Gleich, sobald sein Dienstwagen ausgerollt und zum Stillstand gekommen ist, wird der Junge auftauchen, auf der verblühten Rasenfläche vor den Fassaden der Hochhäuser und dem grauen Basketballfeld.
Ben Neven schaltet den Motor aus. Wartet. Der Junge kommt nicht. Es dauert einige Minuten, bis er es wahrhaben kann. Selbe Zeit, am selben Ort, das war die unausgesprochene Vereinbarung. Der Gedanke, dass diese Vereinbarung nicht mehr gelten könnte, hat keinen Raum gehabt in seinen Gedanken, in seinen Überlegungen. Warum? Vermutlich, weil er nicht nachgedacht hat. Der Parkplatz, das Schwimmbad, die Hochhäuser. Das Basketballfeld. Und der Junge. All das gehört zusammen, ist ein Bild. Ein Gemälde, angefertigt für ihn, in seinem Besitz.
Er wartet. Starrt die leere Fläche an. Um ihn herum tobt abgedämpft das Leben. Lachende Menschen werfen sich in die Wasserrutsche hinein. Eine Gruppe Teenager fährt auf Fahrrädern vorüber, auf dem Weg zum Schwimmbadgelände. Auf dem Display seines Smartphones wird ein Anruf von Svea angezeigt. Ben Neven runzelt die Stirn. Warum ruft Svea an? Ist was passiert? Wenn ja, was?
Er sucht die Fläche ab. Neben dem Basketballfeld sitzen drei Jungen, aber seiner ist nicht dabei. Seiner … sein Junge. Sein Bild. Sein Augenblick. Was macht der Krieg? Die Jungs am Basketballfeld sind jünger als seiner, noch jünger. Es geht immer jünger. Ben Neven verabscheut die Männer, die sie ermittelt haben, die bald schon vor Gericht stehen werden. Männer, die sich an Kleinkindern, an Säuglingen vergangen haben. Er hat nichts mit ihnen gemein. Gar nichts.
Wie alt müsste ein Junge sein, um ihm zu gefallen?
Er steigt aus. Läuft. Daran ist nichts auszusetzen. Er darf hier laufen, auch wenn er das noch nie getan hat. Er hat immer im Wagen gewartet, bis der Junge eingestiegen ist, und dann sind sie weggefahren, ein paar Kilometer weit. Aber jetzt läuft er. Er hört ein Summen und Grillen zirpen. Am Saum der abgestorbenen Rasenfläche bleibt er stehen. Gelbes Gras. Sommertot.
Die Jungs am Rand des Basketballfelds schauen zu ihm herüber. Bald kommt der Mittag. Er setzt sich auf eine Bank. Der Sommer scheint nicht enden zu wollen. Wird einfach weitergehen, bis sich die Flächen auflösen, weil sie kein Wasser mehr bekommen, keine Nahrung, kein Elixier, kein Lebenselixier.
Der Junge läuft vorüber, etwa hundert Meter entfernt, auf der anderen Seite des Basketballfelds, an der Seite eines Mädchens.
Ben Neven betrachtet die beiden. Er ist sich sicher, dass er sich täuscht, dass es ein anderer Junge ist, obwohl er gleichzeitig auch vollkommen sicher ist, dass es sein Junge ist. Alles widersprüchlich, ambivalent, einerseits so, andererseits undenkbar. Alles gleichzeitig. Es kann nicht sein.
Aber warum nicht?
Der Junge hat ihn gesehen. Hat sich abgewendet. Ist wie erstarrt. Das Mädchen sieht den Jungen fragend an. Zeit zu gehen, denkt Ben Neven. Sofort. Weit weg. Laufen und laufen, bis ich irgendwann nie hier gewesen bin, denkt er, während er läuft, über das gelbe Gras zum Parkplatz.
Er steigt ein. Atmet durch. Er schwitzt. Er möchte nicht schwitzen, wenn der Junge zusteigt. Aber der Junge wird nicht zusteigen. Wird keine Gelegenheit dazu haben.
Er wird jetzt losfahren, das Weite suchen.
Er zögert. Alles gleichzeitig. Leben, sterben. Warum hat Svea angerufen? Ist was passiert? Er tastet nach dem Telefon. Findet eine Nachricht. Ein Foto. Marlene. Mit ihrer Freundin Annabel. Sie grinsen in die Kamera. Wir sind im Schwimmbad. Die beiden sind happy, hier wird heute die neue Wasserrutsche eingeweiht. Das hat Svea geschrieben, mit einem Smiley. Ben Neven kneift die Augen zusammen. Hat Mühe, die Worte zuzuordnen.
Marlene. Schwimmbad. Wasserrutsche.
Ein anderes Schwimmbad, andere Wasserrutsche. Oder? Sind sie hier? Nein, unmöglich, sie sind mehr als zweihundert Kilometer weit entfernt. Denn die Rutsche, die über seinem Wagen aufragt, ist nicht heute eingeweiht worden. Marlene kennt diese Rutsche gar nicht. Und das ist schade, denn es ist eine besondere Rutsche, riesig, eine, die Marlene begeistern würde, aber sie wird sie nie kennen.
Ben Neven zuckt zusammen, hebt den Blick, begegnet den dunklen Augen des Jungen, der gegen die Scheibe der Beifahrertür geklopft hat.
Sie fahren, sind in Bewegung. Adrian dreht sich um, sucht die Fläche ab. Vera ist nirgends zu sehen. Gut so, denkt er, obwohl er sich eigentlich wünscht, dass sie immer da ist. Aber nicht jetzt. Nicht in der kommenden halben Stunde.
»Okay?«, fragt der Mann neben ihm.
Okay …
»Also … everything … how are you doing?«
Das fragt der Mann zum ersten Mal. Überhaupt hat er jetzt vermutlich schon mehr gesprochen als bei allen ihren bisherigen Begegnungen.
»Okay«, sagt Adrian. Eigentlich spricht er inzwischen besser Deutsch als Englisch. Dank Vera. Erstaunlich, wie viele Wörter man lernen kann in einer knappen Woche.
Der Mann nickt. Er wirkt unruhig. Oder eher beunruhigt. Adrian wird nicht schlau aus diesem Mann. Aus Männern im Allgemeinen. Heute ist der Mann anders. Nicht so forsch wie beim letzten Mal. Eher zurückhaltend. Er steuert den Wagen auf den anderen Parkplatz, am Waldrand. Sie sind allein.
»Wie beim letzten Mal?«, fragt Adrian.
Der Mann sieht ihn an. Überrascht. Vielleicht, weil Adrian das Wort ergriffen hat, die Initiative.
»Nein«, sagt der Mann.
Adrian streift das T-Shirt ab. Der Mann nestelt an seiner Hose herum, unentschlossen. So war er noch nie. Dann hat er sie endlich geöffnet, Adrian beugt sich herunter. Als der Mann leise zu stöhnen beginnt, weiß er immerhin, dass es nicht falsch ist, was er tut, auch wenn er heute nicht einschätzen kann, was genau der Mann von ihm will.
Wenig später fahren sie zurück. Der Mann schweigt, ist in Gedanken versunken. Adrian fühlt sich hellwach. Bald wird er wieder da sein. Es ist, als wären nur Sekunden vergangen. Als er Vera gesagt hat, dass er kurz wegmuss, was erledigen, hat sie ihn mit diesem ironischen Blick angesehen. »So plötzlich?«, hat sie gefragt. Er hat genickt. »Aber wir sehen uns nachher, oder?«, hat er gesagt.
Während der Mann auf den großen Schwimmbadparkplatz einbiegt, hält Adrian schon Ausschau nach ihr. »Ich kann hier raus«, sagt er.
Er spürt den Blick des Mannes, der auf ihm ruht.
»Hier ist gut«, sagt er.
Der Mann stoppt den Wagen, noch ziemlich weit entfernt von den Hochhäusern. Eigentlich wollte Adrian gar nicht, dass der Mann ihn zurückbringt. Aber er wusste nicht, wie er das hätte sagen sollen. Seit einiger Zeit bringt der Mann ihn immer zurück.
»Dann bis nächstes Mal«, sagt Adrian.
Der Mann stellt eine Frage, die Adrian nicht versteht.
»Nummer«, sagt der Mann. »Handy?«
Ach so. Adrian nimmt sein Mobiltelefon aus der Tasche. Starrt es an. Er kennt seine eigene Nummer nicht, aber er weiß, wo er sie findet, in seinem Messenger-Profil. Er liest die Ziffern ab, der Mann tippt sie in sein Handy ein.
Dann entsteht eine Pause. Der Mann betrachtet die Ziffern, die Adrian diktiert hat. Nicht viele Leute haben seine Nummer. Nur Eugen. Sein Vater. Marian. Seit einigen Tagen Vera. Und einige seiner Kunden. Jetzt auch dieser Mann, der mit dem dunkelblauen, fast schwarzen Schlitten.
»Danke«, sagt der Mann.
Adrian nickt, ist schon halb aus dem Wagen, als ihm Worte über die Lippen kommen, die sich fremd anfühlen. »Meine Schwester«, sagt er. »Das war meine Schwester.«
Der Mann sieht ihn lange an. Dann nickt er.
Adrian spürt die Sonne auf seinem Gesicht, läuft schnell über den Asphalt, zurück Richtung Basketballfeld. Er spürt, wie er den dunkelblauen Wagen immer weiter hinter sich lässt, wie der Wagen immer kleiner wird. Als er sich nochmal umwendet, ist er schon an dem Kreisel, der zur Autobahn führt, der Wagen des Mannes sieht aus wie ein Spielzeugauto.
Er läuft weiter, die Fläche vor den Hochhäusern ist verwaist. Niemand da. Niemand auf dem Basketballfeld, niemand am Kiosk, niemand bei den Tischtennisplatten, niemand auf der Wiese. Nur aus dem Schwimmbad dringen abgedämpft die Schreie herüber.
Adrian wartet, geduldig. Er hat alle Zeit der Welt. Er ist frei, heute wird niemand mehr kommen, der irgendwas von ihm will.
Nur Vera natürlich, und die darf alles von ihm wollen.
Ben Neven legt eine Pause ein, auf halber Strecke, an der Raststätte. Der Parkplatz ist riesig, noch größer als der neben dem Schwimmbad bei Dortmund. Vereinzelte Lastwagen stehen herum, führerlos, stumm, unter der Sonne. Träge, wie seine Gedanken. Graue Bilder, schattenhaft.
Das Mädchen. An der Seite des Jungen. Bunt, hell. Grau. Seine...
Erscheint lt. Verlag | 17.8.2023 |
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Reihe/Serie | Die Ben-Neven-Krimis |
Die Ben-Neven-Reihe | Die Ben-Neven-Reihe |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Abgrund des Lebens • Ben Neven • deutsche Kriminalromane • Doppelleben • Einer von den Guten • Familienvater Geheimnisse • geheimes Leben • Jan Costin Wagner • Kinderprostitution in Literatur • Kindesmissbrauch • Kindeswohl • Literarische Belletristik • literarischer Krimi • Minderjährige Prostitution • Pädophilie • Polizei • Prostitution • Psychologischer Krimi • Soziale Themen in Literatur • Tabuthema • Versteckte Identität |
ISBN-10 | 3-462-31080-1 / 3462310801 |
ISBN-13 | 978-3-462-31080-1 / 9783462310801 |
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