Ink Blood Mirror Magic (eBook)
560 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60499-4 (ISBN)
Emma Törzs ist Schriftstellerin und unterrichtet Englisch und Kreatives Schreiben am Macalester College in St. Paul, USA. Sie hat bereits zahlreiche Kurzgeschichten in diversen Magazinen veröffentlicht, für die sie u.a. 2019 bereits einen World Fantasy Award gewonnen hat. »Ink Blood Mirror Magic« ist ihr Romandebüt.
Emma Törzs ist Schriftstellerin und unterrichtet Englisch und Kreatives Schreiben am Macalester College in St. Paul, USA. Sie hat bereits zahlreiche Kurzgeschichten in diversen Magazinen veröffentlicht, für die sie u.a. 2019 bereits einen World Fantasy Award gewonnen hat. »Ink Blood Mirror Magic« ist ihr Romandebüt.
Eins
Esther konnte nicht fassen, wie blau der sonnenhelle Himmel war.
Es war ein vielschichtiges Blau, beinahe weiß am verschneiten Horizont, doch je weiter sie den Blick hob, desto dunkler wurde es: vom blassen Hellblau eines Rotkehlcheneis über Coelinblau bis hin zu einem ruhigen, leuchtenden Azur. Das arktische Eis war blendend hell, und die vereinzelten Nebengebäude, die Esther durch ihr schmales Zimmerfenster sehen konnte, warfen lange indigoblaue Schatten über die weißen Spurrillen der Straße. Alles schimmerte. Es war 8 Uhr am Abend und kein bisschen dunkler als um 8 Uhr an diesem Morgen.
»´tschuldigung«, sagte Pearl und stieß sie mit der Hüfte beiseite, damit sie ein Stück zurechtgeschnittenen Karton in den Fensterrahmen klemmen konnte. Esther ließ sich auf ihr ungemachtes Bett zurückfallen, stützte sich auf die Ellbogen und sah Pearl zu, die sich über den winzigen, überfüllten Schreibtisch beugte, um das Fenster zu erreichen.
»Wenn du mir vor zwei Wochen gesagt hättest, dass ich die Sonne aussperren würde, sobald sie wieder auftaucht, hätte ich dich gründlich ausgelacht«, erklärte Esther.
Mit den Zähnen riss Pearl ein Stück Klebeband ab. »Tja, aber vor zwei Wochen konntest du auch noch die Nacht durchschlafen. Sag nicht, dass die Dunkelheit dir nichts zu bieten hatte.« Sie klebte den Karton fest. »Oder ich.«
»Danke, Dunkelheit, und danke, Pearl«, erwiderte Esther. Auch wenn sie tatsächlich schlecht schlief, seit die Sonne nach sechs Monaten Winter wieder aufgegangen war, kam es ihr irgendwie niederdrückend vor, dabei zusehen zu müssen, wie das Licht und die fernen Berge verschwanden und sie zurück in die Realität ihres zellenartigen Zimmers geschleudert wurde: das Bett mit den zerwühlten lila Laken, erhellt von einer nackten Glühbirne, der verkratzte Fliesenboden und der Sperrholzschreibtisch, auf dem sich lose Blätter stapelten. Bei den meisten davon handelte es sich um Notizen zu dem mexikanischen Roman, den Esther zu ihrem Vergnügen übersetzte. Der Roman selbst lag auf ihrer Kommode, sicher vor der Sammlung halb ausgetrunkener Wassergläser, die ringförmige Abdrücke auf ihren Schreibblöcken hinterließen.
Pearl setzte sich ihr gegenüber ans Fußende des Betts und sagte: »Und? Bist du bereit, dich den ungewaschenen Massen zu stellen?«
Als Antwort darauf legte sich Esther den Arm über die Augen und ächzte.
Esther und Pearl hatten den vergangenen Winter als Teil eines nur dreißigköpfigen Teams verbracht, das diese kleine Forschungsstation am Südpol am Laufen hielt, doch dann hatte der November das Sommerhalbjahr eingeläutet, und während der letzten Tage waren fast hundert neue Mitglieder aus kleinen, knatternden Frachtflugzeugen in die Korridore der Station geschwappt. Mit einem Mal waren die Schlafräume, die Kantine, der Fitnessraum und die oberen Arbeitszimmer voller Wissenschaftler und Astronomen. Fremde, die alle Kekse aufaßen, die schlafenden Computer hochfuhren und ständig nervös danach fragten, zu welcher Tageszeit der Internetsatellit erreichbar wurde.
Esther war davon ausgegangen, dass sie sich darüber freuen würde, all diese neuen Gesichter zu sehen. Sie war von Natur aus extrovertiert. Keine typische Kandidatin, wenn es darum ging, sich inmitten einer Eislandschaft in einer Forschungsstation einschließen zu lassen, die sehr an ihre winzige Highschool auf dem Land erinnerte. In dem Jahr, bevor sie in die Antarktis gekommen war, hatte sie in Minneapolis gelebt, und ihre Freunde waren aufrichtig entsetzt gewesen, dass sie über den Winter einen Job als Elektrikerin auf einer Polarstation annehmen wollte. Jeder kannte jemanden, der jemanden kannte, der so etwas schon einmal ausprobiert, es furchtbar gefunden und sich früher als geplant wieder hatte ausfliegen lassen, um der erdrückenden Isolation zu entkommen. Doch Esther schreckte das nicht.
Schließlich konnte die Antarktis auch nicht schlimmer sein als die isolierenden, extremen Bedingungen, unter denen sie aufgewachsen war. Sie würde gut verdienen, ein Abenteuer erleben und – dies vor allem – für fast alle anderen Menschen auf dem Planeten vollkommen unerreichbar sein.
Irgendwann im Laufe des langen Winters war ihre Extrovertiertheit jedoch verloren gegangen und mit ihr jene fröhliche Maske, die sie eigentlich jeden Morgen anlegte, wenn sie in ihre Uniform schlüpfte. Nun sah sie zur Decke empor, die in demselben Industrieweiß gehalten war wie die industrieweißen Wände, die industrieweißen Korridore und ihre industrieweißen Kollegen.
»Ob ich in Wahrheit schon immer eher introvertiert war?«, fragte sie. »Habe ich mir die ganze Zeit selbst was vorgemacht? Die echten Extrovertierten sind jetzt da draußen und sagen, ›Hell Yeah, Frischfleisch, Party nonstop‹! Die lassen es krachen und rocken die USA.«
»Sie rocken das Internationale Territorium des Antarktisvertrags«, korrigierte Pearl, die Australierin mit doppelter Staatsbürgerschaft war.
»Von mir aus auch das.«
Pearl begann über das Bett auf Esther zuzukrabbeln. »Ich könnte mir vorstellen, dass sechs Monate im unfreiwilligen Zölibat und eine Flugzeugladung voller neuer Gesichter so ziemlich jeden extrovertiert werden lassen.«
»Hmm«, summte Esther. »Dann meinst du also, dass ich auf die Seite der Introvertierten gewechselt bin durch die schiere Macht …«
»… meines unglaublichen Körpers, ganz genau«, führte Pearl ihren Satz zu Ende und strich mit den Lippen über Esthers empfindliche Ohrmuschel.
Esther schob ihre Hand in Pearls blondes Haar, das irgendwie trotz des vollständigen Mangels an Sonnenlicht immer noch sonnengeküsst wirkte. Eine Australierin eben. So unerschütterlich strandverliebt und immer voll dabei. Sie ließ die zerzausten Strähnen durch die Finger gleiten und zog Pearl an sich, um sie zu küssen. Sobald sie Pearls Lächeln an ihrem Mund spürte, drückte sie diese noch fester an sich.
Während der vergangenen zehn Jahre, seit sie achtzehn gewesen war, hatte Esther jeden November den Wohnort gewechselt – neue Städte, Staaten, Länder. Sie hatte flatterhafte Freundschaften geschlossen und lockere Beziehungen begonnen, als würde sie sich etwas bei einem Take-away aussuchen, und dann alles beiläufig wieder hinter sich gelassen. Alle mochten sie, und wie so viele, die von allen gemocht wurden, ging sie mit einem unguten Gefühl davon aus, dass jene, denen es gelang, sie wirklich kennenzulernen und dieses strahlende Schild der Liebenswürdigkeit zu durchdringen, sie ganz und gar nicht mehr mögen würden. Das war der Vorteil daran, wenn man nie lange an einem Ort blieb.
Der andere, viel wichtigere Vorteil bestand jedoch darin, dass man nicht gefunden wurde.
Esther ließ die Hand unter Pearls Pullover gleiten und ertastete den glatten Schwung ihrer Taille, während Pearl eines ihrer langen Beine zwischen Esthers Knie schob. Doch noch während Esther auf der Suche nach Berührung instinktiv die Hüfte hob, hallten jene fernen Worte ihres Vaters ungebeten in ihrem Kopf wider – ein Glas kaltes Wasser mitten in das Gesicht ihres Unterbewusstseins.
»Am zweiten November um 11 Uhr abends, Eastern Standard Time.« Das waren Abes Worte gewesen, bei ihrer letzten Begegnung vor zehn Jahren, in ihrem Haus in Vermont. »Wo auch immer du bist, du musst am zweiten November gehen und vierundzwanzig Stunden in Bewegung bleiben, sonst holen die Leute, die deine Mutter getötet haben, auch dich.«
Vor ein paar Tagen war der fünfte November gewesen, offiziell der Beginn der Sommersaison. Drei Tage nachdem Esther dem dringlichen Appell ihres Vaters zufolge den Ort hätte verlassen sollen.
Doch sie war nicht verschwunden. Sie war immer noch hier.
Abe war nun seit zwei Jahren tot, und zum ersten Mal seit dem Beginn ihrer Flucht vor zehn Jahren gab es einen Grund für Esther, zu bleiben. Einen warmen, greifbaren Grund, der gerade ihren Hals küsste.
Zum ersten Mal waren Esther und Pearl einander schon am Flughafen in Christchurch begegnet, wo sie beide zu einer großen Gruppe gehört hatten, die auf ihren Flug in die Antarktis warteten. Die zahllosen Schichten, die an Bord des Flugzeugs vorgeschrieben waren, hatten sie verborgen: Wollmütze, riesiger orangeroter Parka, Handschuhe, klobige gefütterte Stiefel, dunkle, ins Haar geschobene...
Erscheint lt. Verlag | 28.9.2023 |
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Übersetzer | Diana Bürgel |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Ink Blood Sister Scribe |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | Alice Hoffman • Antarktis • Bibliothek • Blutmagie • Buch über Bücher • Contemporary Fantasy • dark academia • Deborah Harkness • Erin Morgenstern • Fantasy Einzelband • Fantasy Thriller • Geheimgesellschaft • Ink Blood Sister Scribe • Lev Grossman • London • magische Bibliothek • Magische Bücher • Magische Kalligraphie • Modern Fantasy • Phantastik • Urban Fantasy |
ISBN-10 | 3-492-60499-4 / 3492604994 |
ISBN-13 | 978-3-492-60499-4 / 9783492604994 |
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