VITA (eBook)
352 Seiten
HarperCollins eBook (Verlag)
978-3-7499-0598-0 (ISBN)
Darf eine Gesellschaft über Leben und Tod eines Menschen richten?
Der neue Roman der Autorin von »VOX«
Sie wollte das System revolutionieren, doch nun steht ihr Leben auf dem Spiel. Die erfolgreiche Anwältin Justine Callaghan hat einst als Anführerin der VITA-Bewegung die Todesstrafe revolutioniert. Ein einziges Mal hat sie das Urteil dennoch verhängt und damit ihr eigenes Leben verpfändet: Sollte sich herausstellen, dass der Verurteilte unschuldig war, muss Justine auf den elektrischen Stuhl. Als nun ein neuer Beweis auftaucht, sieht sich die alleinerziehende Mutter mit den tödlichen Konsequenzen ihrer einstigen Überzeugungen konfrontiert. Justine begibt sich auf Spurensuche, erst um ihr eigenes Leben zu retten und schließlich, um wahres Recht durchzusetzen.
<p>Christina Dalcher ist Autorin des internationalen Bestsellers »Vox«. Die Amerikanerin promovierte an der Georgetown University in Theoretischer Linguistik und forschte über Sprache und Sprachverlust. Ihre Kurzgeschichten und Flash Fiction erschienen weltweit in Magazinen und Zeitschriften, unter anderem wurde sie für den Pushcart Prize nominiert.</p>
KAPITEL ACHT
Ich parke den Volvo in der ersten freien Lücke, die ich finden kann, und verfluche das herrliche Frühlingswetter, das alle aus dem Haus treibt. Auf dem Rücksitz liegt eine Baseballkappe von Susan, die ich mir aufsetze und tief ins Gesicht ziehe. Allerdings sorge ich mich nicht wegen der Sonne, als ich auf der Broad Street zwei Blocks weit Richtung Spielplatz gehe. Wir leben in einer Welt, in der jeder eine Videokamera bei sich hat.
Emily sitzt auf einer Bank am hinteren Ende des eingezäunten Bereichs. Sie sieht mich nicht, sondern spuckt gerade in ein Taschentuch, wie es offenbar in die DNA jeder Frau eingebrannt ist. Ihre Aufmerksamkeit gilt einem kleinen Jungen; es ist der, mit dem sie am Freitag auch vor dem Gerichtsgebäude auftauchte. Neben ihr auf der Bank stehen ihre Handtasche und eine Schachtel Kleenex.
Ich bleibe hinter einem Baum stehen, drücke meinen Rücken an den Stamm und denke nach.
Der Junge ist in Jonathans Alter, aber nicht in der Schule, also fiel der Nachmittagsunterricht vielleicht aus. Oder er geht noch in die Vorschule. Die Frau ist alleinerziehend, genau wie ich. Unsere Ehemänner sind beide gestorben, wenn auch auf unterschiedliche Weise, aber wir sind beide von Trauer und Hass erfüllt. Dagegen kann niemand etwas machen.
Natürlich gibt es zwischen uns auch Unterschiede. Emilys mausbraune Haare und ihre schäbigen Kleider zum Beispiel. Oder die Tatsache, dass ihr Sohn in einem der ärmlicheren Viertel auf eine öffentliche Schule geht, während meiner eine private Montessorischule besucht, mit deren jährlichen Gebühren man auch einen Kleinwagen kaufen könnte – nein, eigentlich zwei, da ich auch das Schulgeld für Susans Sohn bezahle. Und schließlich ist da die unbestreitbare hässliche Wahrheit, dass mein Mann im Gegensatz zu Emilys niemanden umgebracht hat.
Als ich um den Baum herumspähe, sehe ich, wie Emily ihrem Sohn einen Klaps auf den Po gibt und ihn damit in den Spielbereich zurückschickt. Vielleicht hatte der Boden anfangs Sägespäne, vielleicht sogar auch den gleichen Gummimulch wie unser eingezäunter Spielplatz im Village, den nur die Kinder von Anwohnern nutzen dürfen. Aber jetzt ist der Boden nackt. Hier spielen nur normale Kinder. Unterprivilegierte. Arme. Vaterlose.
Emily greift wieder zu ihrem Buch. Ihre Augen folgen, kaum sichtbar über dem Rand des Buches, dem Jungen, der zwischen der Schaukel und einem Wipp-Pferd schwankt, das gerade frei geworden ist. Er entscheidet sich für das Pferd und hüpft darauf vor und zurück, von rechts nach links, während seine junge Mutter ihn lächelnd beobachtet.
Wenn ich jetzt zu ihr gehe, reiße ich sie aus ihrem prekären Frieden.
Seit Emilys Brief eintraf, habe ich mir eingeredet, dass sie nur ein Ventil braucht. Sie braucht einen anderen Menschen, der ihre Klagen hört und ihre Tränen sieht. Das brauchen wir vielleicht alle. Vielleicht sind unsere Klagen und Tränen erst real, wenn jemand sie mitbekommt.
Ich verbiete mir jeglichen Gedanken daran, dass sie etwas gefunden haben könnte.
Um fünf nach drei gebe ich mir einen Ruck und gehe Richtung Bank im hinteren Bereich des Parks. Erst als ich sie fast erreicht habe, blickt Emily von ihrem Buch auf, und ich wappne mich.
Zuerst sagt sie kein Wort, sondern klopft nur auf den freien Platz neben ihr und klappt das Buch zu, nachdem sie eine Seite mit einem Eselsohr markiert hat. Jetzt lächelt sie nicht mehr.
»Das ist mein Sohn«, bemerkt sie. »Jake junior.«
Ich nicke.
»Eigentlich sollte er schon in die erste Klasse gehen, aber man wollte ihn nicht aufnehmen. Der Direktor meint, er hätte eine emotionale Entwicklungsstörung. Also ist er noch im Kindergarten und wird nächstes Jahr der Älteste in seiner Klasse sein. Glauben Sie, die Leute werden ihn für zurückgeblieben halten? Für dumm, weil er erst so spät eingeschult wurde?«
»Alle Kinder lernen unterschiedlich«, antworte ich und frage mich, wieso sie sich für diese Eröffnung entschieden hat und ich mit einer Frau über frühkindliche Entwicklungsprobleme rede, die mich wahrscheinlich am liebsten tot sähe.
»Ja, stimmt wohl.« Ihre Stimme ist weich und verrät, dass sie aus dem Südwesten von Virginia kommt. Sie klingt auch ausdruckslos, und als Emily die Tasche öffnet, um das Buch zu verstauen, verrät mir ein Tablettenröhrchen alles, was ich wissen muss. »Haben Sie Kinder?«
»Einen Sohn. Etwa so alt wie Jake.«
»Jake junior«, korrigiert sie mich.
Emilys Kopf wippt langsam und automatisch – ein weiterer Hinweis auf die Tabletten. Ich hoffe nur, sie und Jake junior sind mit dem Bus gekommen. »Tatsache ist, Ms. Boucher, uns geht’s – geht es – nicht so gut.«
Ich weiß nicht, wieso ich nicht schon früher an Geld gedacht habe. Dabei habe ich doch an alles gedacht. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, frage ich, öffne meine eigene Tasche und nehme einen Stift und mein Scheckbuch heraus. Emily starrt darauf, als wäre es ein Dinosaurier. Was es wahrscheinlich auch ist. Ian lachte mich immer aus, weil ich noch ein Scheckbuch mit mir herumtrug, während es doch längst ApplePay, GooglePay und dergleichen gab.
»Stecken Sie das zurück«, sagt Emily. »Wir brauchen Ihre Almosen nicht. Dank meiner Familie habe ich ein Dach über dem Kopf und drei anständige Mahlzeiten pro Tag.«
Na gut. Also kein Geld. Ich verstaue mein Scheckbuch wieder in der Tasche und falte meine Hände darüber. »Sie wollten mich treffen. Ich dachte …«
»Eigentlich ist mir egal, was Sie denken, denn das, was Staatsanwälte denken, führt meist dazu, dass Menschen sterben oder pleite sind. Nein, ich habe Ihnen was zu sagen. Deshalb wollte ich Sie treffen.«
Als ich herkam, war ich auf eine Schimpftirade gefasst. Aber Emily scheint mich nicht beschimpfen zu wollen. Während wir schweigend dasitzen und beobachten, wie ihr Sohn vom Wipp-Pferd zur Wipp-Kuh wechselt – in der Welt eines Sechsjährigen gibt es da einen Unterschied –, umfassen ihre Hände den Stoff ihres Rocks und lassen ihn wieder los. Fassen zu. Lassen los. Fassen zu. Lassen los. An diesen Stellen ist der Stoff dunkel vom Schweiß.
Ich hoffe wirklich, dass sie heute kein Auto fährt. Ehrlich gesagt staune ich, dass die Frau überhaupt laufen kann. In den ersten Tagen, nachdem Ian fort war, lag ich nur in Fötushaltung auf dem Bett. Allerdings war Ians plötzliche Abwesenheit ein Schock für mich. Die Frau neben mir hatte Jahre, um sich darauf vorzubereiten.
Schließlich sagt Emily: »Ich habe einen Zettel gefunden.« Eigentlich ist es nur ein Flüstern, und dabei starrt sie entweder auf Jake junior oder die Stellen des Rocks, die aussehen, als wollten sie gegen ihre Behandlung protestieren. »Ich war neulich auf dem Dachboden bei meinen Eltern und guckte mir eine Kiste mit Jakes altem Zeug an, und da fand ich etwas in einem Notizbuch, das ich vorher noch nie gesehen hatte. Ich weiß nicht, wieso ich da überhaupt herumsuchte – wahrscheinlich hab ich alles ganz schnell zusammengepackt, als wir das Haus verkaufen mussten, und ich dachte, es könnten Fotos oder so was drin sein. Sie wissen schon, für den kleinen Jake. Ich wollte ein paar Erinnerungen an seinen Daddy, wo er noch nicht hinter Gittern oder in Anstaltskleidung zu sehen war.«
Sie lächelt, aber es ist ein freudloses Lächeln. »Wir waren seit der Highschool zusammen, wissen Sie. Mein Dad war dagegen, weil er nicht wollte, dass ich mit einem Schrauber ging. So nannte er alle, die in einer Werkstatt arbeiten: Schrauber. Ist schon komisch, dass die Leute nichts von Mechanikern halten. Dabei hat Jake immer gesagt, dass es ein guter Job ist. Nicht besonders sauber, aber gut, denn solange die Leute Auto fahren, haben Männer wie er Arbeit. Was man nicht von vielen Jobs behaupten kann. Ich war früher Kellnerin, und ich kann Ihnen sagen, bei jeder Krise im Land war auch Krise in meinem Geldbeutel. Ganz egal, ob’s ein Hypothekenskandal oder ein Virus war. Aber Mechaniker kriegen immer ihr Geld, weil die Leute immer irgendwohin fahren müssen. Außerdem sind heute ganz andere Zeiten als damals mit Autos wie dem VW Käfer. Heute wissen die Leute nicht mal, wo die Batterie ist.«
So vernünftig Emilys ökonomische Erläuterungen klingen, so gehen sie mir doch zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Der letzte vollständige Satz, den ich mitgekriegt habe, lautete Ich habe einen Zettel gefunden. Jetzt sind auch meine Hände schweißnass. Ich wische sie mir an meiner Jeans ab.
Sie mustert mich, nimmt meine Nägel und Haare zur Kenntnis, meine Tasche und die dazu passenden Schuhe von Bally, die immer noch glänzen wie am ersten Tag. Frauen wie Emily Milford kennen vielleicht nicht die Marke, wissen aber, wenn etwas besser ist als das, was sie anhaben oder mit sich herumtragen. »Frauen wie Sie müssen sich wohl keine Sorgen machen, woher das nächste Geld kommt.«
»Wir müssen uns um andere Dinge Sorgen machen«, erwidere ich. Dinge wie: Ich habe einen Zettel gefunden.
»Jedenfalls sah Jake ziemlich gut aus. Und er behandelte mich, als wäre ich aus Gold.« Sie dreht an dem Ring an ihrem linken Ringfinger. »Nicht, dass wir jemals Gold gehabt hätten. Das hier ist nur Edelstahl. Aber als er mir den Ring ansteckte, war ich so glücklich wie noch nie in meinem ganzen Leben. Außerdem meinte Jake immer lachend, ich sollte doch einfach behaupten, es wäre Platin. Weil die Reichen Platin kaufen, obwohl ich nie verstand, wieso, wo es doch aussieht wie Edelstahl.«
Noch immer schwirrt mir der eine Satz im Kopf herum. Ich...
Erscheint lt. Verlag | 24.10.2023 |
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Übersetzer | Marie Rahn |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Sentence |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Anwältin • Buch • Dystopie • feministischer • feministisches • Gerechtigkeit • Literatur • Naomi Alderman • Rache • Report der Magd • Schuld • Selbstjustiz • The Sentence • Thriller • Todesstrafe • Trauer • über • Vergeltung • Verurteilung • von • VOX • Wie |
ISBN-10 | 3-7499-0598-3 / 3749905983 |
ISBN-13 | 978-3-7499-0598-0 / 9783749905980 |
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Größe: 4,8 MB
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