Natürlich kann man hier nicht leben (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
224 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60537-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Natürlich kann man hier nicht leben -  Özge ?nan
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Nilay will los. Am liebsten noch heute Nacht, von Berlin nach Istanbul. Seit Wochen verfolgt sie mit ihren Eltern die Nachrichten vom Taksim-Platz: die Bilder der Proteste, das Rufen nach Freiheit. Selim und Hülya sind außer sich. Sie selbst waren Kinder in den Straßen Izmirs. Dann kam der Putsch, im September 1980. Es folgten Jahre der Willkür, doch sie glaubten an eine Zukunft in der Türkei. Schließlich hatten sie sich und fanden Wege des Widerstands. Dreißig Jahre später zieht es ihre Tochter in das Land, das sie hinter sich ließen, in der Hoffnung, anderswo frei zu sein. Mit großer Dringlichkeit und Hellsicht erzählt Özge ?nan die Geschichte einer Familie, die nicht aufgibt. Eine Geschichte von Freundschaft und Verrat, von Liebe und Wut.

Özge ?nan, geboren 1997 in Berlin, studierte Jura und arbeitete danach als Journalistin und Kolumnistin. Nach Stationen beim ZDF Magazin Royale und der Süddeutschen Zeitung schreibt sie inzwischen vor allem für den Freitag.

Özge İnan, Jahrgang 1997, schreibt, seitdem sie schreiben kann. Während ihres Jurastudiums wurde sie als @oezgeschmoezge auf Twitter bekannt. Es folgte eine Kolumne für Mission Lifeline und journalistische Texte in verschiedenen Onlinemedien. Septemberjahre ist ihr erster Roman.

2013


Am Abend vor ihrem sechzehnten Geburtstag wusste Nilay, was sie tun musste. Es leuchtete in ihrem Kopf auf wie ein Warnlicht, das umso hartnäckiger blinkte, je länger sie es ignorierte. Ein kleiner Teil von ihr befürchtete, ihre Eltern könnten es ihr ansehen. Aber Hülyas und Selims Blicke hingen am Fernseher fest, als sie am Wohnzimmer vorbei in ihr Zimmer schlich. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte und alles vorfand wie zuvor, ihr ungemachtes Bett, den vollgestellten Schreibtisch, den Haufen Schmutzwäsche neben dem Schrank, drehte sie sich um und ging zurück ins Wohnzimmer.

Ihre Eltern schienen nicht bemerkt zu haben, dass es draußen bereits dämmerte. Die einzige Lichtquelle war der Fernseher. Statt des üblichen Obsttellers stand eine Schale Pistazien auf dem Sofatisch, und alle paar Minuten kam ein leises Knacken aus Selims Richtung. In den Nachrichten war eine verrauchte Straßenecke zu sehen, auch ohne den Untertitel erkannte Nilay das Taksimviertel: Erneut Ausschreitungen bei Gezi-Protesten. Aus dem dichten Nebel traten zwei Demonstranten, unkenntlich mit ihren Atemschutzmasken und Bauarbeiterhelmen, aber es waren eindeutig Jugendliche. Sie warfen etwas, vielleicht Flaschen oder Pflastersteine, und waren wieder aus dem Bild verschwunden, bevor der Strahl eines Wasserwerfers sie treffen konnte. Die Kamera folgte ihnen, und man sah gerade noch, wie sie in einen Hauseingang sprinteten. Wie Superhelden sehen sie aus, dachte Nilay, zu zweit gegen die Ungerechtigkeit der Welt. Die Nachrichtensprecherin kam zum nächsten Thema.

»Pinguine«, murmelte Hülya ihr Handy an.

»Was?«, fragte Nilay.

Selim stellte den Fernseher leiser.

»Auf CNN Türk zeigen sie eine Dokumentation über Pinguine.« Hülya tippte mehrfach auf das Display, bis sie den Vollbildmodus gefunden hatte, und hielt es Nilay unangenehm nah vor die Augen. Offenbar hatte jemand mit zitternden Händen einen Röhrenfernseher abgefilmt. Mit Mühe erkannte sie, wie eine Gruppe kleiner Pinguine durch eine endlose Eislandschaft watschelte. Tatsächlich, Nilay entdeckte das Logo von CNN Türk in der oberen Ecke des Bildes. »Das hat mir deine Tante Banu geschickt. Das ist von gerade eben. Gerade eben! Während Istanbul brennt! Das kann doch nicht wahr sein!« Sie schüttelte den Kopf, drehte sich zu Selim und wiederholte: »Selim, in Gottes Namen, das kann doch nicht wahr sein. Wo sind wir denn?«

In Deutschland, warum auch immer, dachte Nilay.

»Das ist nun einmal die Türkei«, sagte Selim. »Da kann alles wahr sein.«

»Warum bist du eigentlich so entspannt?« Nilays Frage platzte in den Raum wie ein ungebetener Gast.

Selim hatte ihren anklagenden Ton entweder nicht bemerkt oder entschieden, nicht darauf einzugehen. »Du weißt, wir kennen das schon«, sagte er und nahm sich eine Handvoll Pistazien aus der Schale. »Die Leute gehen auf die Straße, der Staat tut so lange, als wäre nichts, bis es knallt, dann ist eine Weile Ruhe, und es geht wieder von vorne los.« Zufrieden kaute er seine Pistazien. »Wir sind jetzt in Phase zwei. Daher die Pinguine.«

Nilay holte Luft, um etwas zu entgegnen, aber sie fand die Worte nicht. In ihrer Brust drückte und zog es, als wolle etwas hinaus. »Die können doch nicht einfach alles niederschlagen«, sagte sie schließlich. »Nicht, wenn dabei die ganze Welt zuschaut.«

»Wenn ich eins gelernt habe, dann, dass die sogenannte ganze Welt gar nicht so aufmerksam ist, wie man denkt«, sagte Selim.

Nilay sagte nichts. Das ist nicht fair, dachte sie. In Istanbul wurde Geschichte geschrieben, und sie musste sich in zweitausend Kilometer Entfernung die Weisheiten ihres Vaters anhören. Morgen würde er zur Arbeit gehen und die Ereignisse des Tages in ein Radiomikrofon sprechen, und das würde sein einziger Beitrag zu den Vorgängen in seiner Heimat bleiben. Wie er sich auch nur im Geringsten damit zufriedengeben konnte, war ihr ein Rätsel.

»Dein Bruder hat zu tun«, rief ihr Hülya hinterher, als Nilay aufstand und in Richtung von Emres Zimmer ging. Sie tat, als hätte sie es über den Ton des Fernsehers nicht gehört.

Das Zimmer war in das schwache Licht der Nachttischlampe getaucht. Emre lag auf seinem Bett, den Laptop auf dem Bauch, das Kinn wie die Stirn in Falten. Er warf ihr einen Blick zu. »Was hast du da?«

»Cornflakes.«

»Okay, pass auf, dass du nicht kleckerst.«

Nilay schloss die Tür und setzte sich aufs Sofa. Die Idee, die ihr in der Küche gekommen war, sprang in ihrem Bauch hin und her und ließ keinen Platz für die aufgeweichten Cornflakes. Nutzlos lag die Schüssel in ihrem Schoß und kühlte ihre Oberschenkel. Als sie nach einigen Minuten weder angefangen hatte zu essen noch zu reden, setzte Emre sich auf.

»Was ist los?«

»Nichts«, sagte Nilay, ohne nachzudenken. »Du musst dir keine Sorgen machen, Emre. Baba sagt, es ist ganz normal, dass man sein Studium abbricht«, schob sie nach einer Weile hinterher und kam sich im nächsten Moment vor wie ein Kind.

Emre schien das Gleiche zu denken. Er schnaubte und sprach zur Wand, als würde er seinem Vater, der wenige Meter dahinter saß, direkt antworten. »Baba sagt auch, wir sollen uns wegen Gezi keine Hoffnungen machen, und trotzdem klebt er ununterbrochen am Fernseher und verschlingt jede noch so winzige Neuigkeit.«

Nilays Puls schoss so heftig in die Höhe, dass sie ihn in den Schläfen spüren konnte. »Merkwürdig, oder? Als hätte er nichts weiter damit zu tun.«

»Du musst nicht alles glauben, was er sagt. Wenn er was nicht erträgt, blendet er es aus. Und das hier erträgt er nicht. Ein einziges Mal im Leben hat er sich etwas erhofft, und du weißt, was daraus wurde. Noch mal packt er das einfach nicht. Deshalb tut er, als wäre es nicht weiter schlimm, dass diese Proteste scheitern, und aus dem gleichen Grund tut er auch, als fände er es normal, dass sein Sohn die Uni nicht packt.«

»Blödsinn«, warf Nilay ein, sie bemühte sich, ruhig zu klingen.

Emre wandte sich zu ihr, er schien ein Grinsen zu unterdrücken. »Was davon?«

»Die Proteste werden nicht scheitern«, sagte Nilay. »Sie brauchen einfach gute Leute, auch aus dem Ausland. Leute wie uns. Im Camp haben sie jetzt angefangen, Foren abzuhalten, jeden Abend. Es geht nicht mehr nur um die Demos. Es geht um das ganze System und was sie vorhaben, wenn sie es geschafft haben. Was danach kommt. Das würden sie doch nicht machen, das wäre doch Zeitverschwendung, wenn …«

Die Zimmertür flog auf, und Hülya stellte einen Teller mit geschnittener Honigmelone auf den Couchtisch.

»Nilay, dein Bruder hat zu tun«, wiederholte sie, und weil Nilay nicht noch einmal so tun konnte, als hätte sie nichts gehört, stand sie auf, um ihrer Mutter aus dem Zimmer zu folgen. Emre bedeutete ihr, sich wieder hinzusetzen.

»Was soll das heißen?«, fragte er, als sie wieder allein waren. »Sie brauchen Leute wie uns?«

Nilay holte tief Luft. »Ich gehe nach Istanbul.«

Ihr Bruder tat nichts von dem, was sie erwartet hätte. Er hob für eine Sekunde die Augenbrauen, klappte seinen Laptop zu und streckte den Rücken durch. »Woher kommt das denn jetzt?«, fragte er.

»Ich habe es vorhin in der Küche beschlossen«, sagte sie und fragte sich, ob sie lieber hätte lügen sollen. Er hätte es ohnehin gemerkt, dachte sie und beschloss, die ganze Wahrheit zu sagen. »Während ich mir Cornflakes gemacht und die Nachrichten aus dem Wohnzimmer gehört habe, dachte ich, eigentlich ist es Quatsch, dass ich hier bin. Eigentlich müsste man jetzt da sein.«

Emre nickte, aber es lag keine Zustimmung darin. »Und wie kommst du darauf?«

Nilay wurde schlagartig klar, dass ihr gesamter Plan davon abhing, ob er sie jetzt verstehen würde. Und wie immer, wenn es auf die richtigen Worte ankam, wollten sie ihr nicht einfallen. Vielleicht hätte ich heimlich gehen und einen Brief dalassen sollen, dachte sie, wie im Film. Aber dann hätte Emre sie einfach angerufen. Um seinem forschenden Blick zu entgehen, fokussierte sie die Melonenstücke, die im Licht der Nachttischlampe glänzten. »Da entsteht gerade etwas. Ich weiß das. Seit ich denken kann, ist da derselbe Typ an der Macht, und jetzt könnte er endlich gestürzt werden. Ist das nicht aufregend? Aber damit das klappt, reichen die Leute nicht, die schon ...

Erscheint lt. Verlag 27.7.2023
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abbas Khider • Behzad Karim Khani • Belletristik Neuerscheinung 2023 • Deutsch-Türkisch • Dinçer Güçyeter • Elif Shafak • Familie • Familiengeschichte • Fatma Aydemir • Feminismus • Freiheit • Gastarbeiter • Gesellschaftsroman • Herkunft • Identität • Literarisches Debüt • Migration • Nava Ebrahimi • oezgeschmoezge • Özge Inan • Özgeschmözge • Politik • politischer Roman • Politische Verfolgung • Postmigration • Putsch • Rassismus • Sevgi Özdamar • Shida Bazyar • Türkische Geschichte • türkische Romane • Unser Deutschlandmärchen
ISBN-10 3-492-60537-0 / 3492605370
ISBN-13 978-3-492-60537-3 / 9783492605373
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