2

Desmond

Charlotte verzog das Gesicht, und ihre Aura verdunkelte sich, als wäre sie plötzlich besorgt. Sie hob die Hand und schob die Finger in ihr kastanienbraunes Haar, um sich am Kopf zu kratzen.

»Stimmt etwas nicht?«

Sie senkte die Hand und schüttelte den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher. Sei einfach vorsichtig, okay?«

»Du bist diejenige, die durch die Burg schleichen wird, also solltest du vorsichtig sein. Ich muss nur die Wachleute im Auge behalten und für ein paar Minuten den Strom ausfallen lassen. Das ist nicht schwerer als eine Kuchenbestellung im Moondust Diner.«

Ich zwinkerte Charlotte zu und hoffte, ich hatte mit meinen flapsigen Worten ihre Sorgen beseitigt, aber sie starrte nur erneut in den Ballsaal. Ihre Grimasse wurde langsam zu einer nachdenklichen Miene, aber ihre Aura verdunkelte sich noch mehr, genauso wie ihre blauen Augen. Selbst ihre Haut wurde ein wenig bleicher, trotz der aufgemalten, pinkfarbenen Flecken auf den Wangen.

»Woran denkst du gerade?«, fragte ich.

»Miriam«, gestand Charlotte traurig. »Sie hat Partys geliebt, besonders Weihnachtsfeiern.«

Miriam Lancaster war eine Charmeurin gewesen – eine Paranormale, deren magische Begabung ein besonderes Charisma war. Sie hatte ihre Fähigkeit eingesetzt, um sich bei Leuten beliebt zu machen, ihnen Geheimnisse zu entlocken und diese Informationen dann an die Section 47 weiterzuleiten. Miriam war Charlottes engste – und einzige – Freundin in der Niederlassung in Washington gewesen … bis Charlotte herausgefunden hatte, dass Miriam zu Henrika Hydes Maulwürfen gehörte. Charlotte hatte Miriam auffliegen lassen, zusammen mit einem weiteren Maulwurf, Trevor Donnelly. Er war Miriams Geliebter, der Chef der Charmeure und einer meiner engsten Freunde gewesen. Ich hatte Trevor und Miriam getötet, um in einer kniffligen Situation im Hauptquartier sowohl mich selbst als auch Charlotte zu retten.

Lüge, hätte Charlotte geflüstert, wenn ich diesen Gedanken laut geäußert hätte. Denn das entsprach nicht der Wahrheit – oder zumindest war es nicht die ganze Wahrheit. Ich hatte Miriam erschossen, um Charlotte zu retten, als die andere Frau sie als Geisel genommen hatte … Trevor aber hatte ich umgebracht, weil ich das wollte – weil ich mich dafür rächen wollte, dass Trevor mich bei der Blacksea-Mission verraten hatte.

Die altmodische Glühbirne in einer silbernen Wandlampe links von mir begann zu flackern und verriet damit, wie aufgewühlt ich war. Ich atmete einmal tief durch, bewegte die Finger und gab die Elektrizität frei, die ich unbewusst wie einen Schild um mich gesammelt hatte, als könnte ich die schrecklichen Erinnerungen damit abwehren.

Vor mehreren Monaten war ich zu der Blacksea-Mission ausgesandt worden, um Adrian Anatoly zu töten – einen Terroristen, der sich auf einer kleinen Insel vor der Küste Australiens versteckt hielt. Mein Partner war Graham Walker gewesen, ein Cleaner-Kollege und mein bester Freund. Durch Trevors verräterische Machenschaften hatte Anatoly allerdings von unserer Mission gewusst und den Strand mit Henrika Hydes Redburn-Sprengstoff präpariert.

Die Bilder blitzten in meinem Kopf auf, als beobachtete ich ein weiteres Mal, wie all diese Bomben explodierten. Ich hörte Grahams Schrei, bevor er sich auf mich gestürzt und mich in den Sand gepresst hatte. Sah die heftigen, brennend heißen Druckwellen der Explosionen, die uns trafen. Das Weiß von Grahams Augen, das gespenstisch vor seiner rot verfärbten Haut leuchtete. Spürte dieses klebrige Gefühl auf meiner Haut, als wäre ich mit kochendem Honig überzogen, der erbarmungslos eine Hautschicht nach der anderen verdampfen ließ. Dann das Schlimmste: Graham, der mich heiser bat, seine restliche Energie und Lebenskraft zu verwenden, um mich selbst zu heilen … damit ich überleben konnte, selbst wenn ihm diese Chance nicht vergönnt war …

Wieder flackerte die Glühbirne.

Charlotte berührte leicht meine Hand. »Desmond? Alles okay?«

Ich verdrängte die Erinnerungen und konzentrierte mich auf die Aura, die stetig und gleichmäßig um Charlottes Herz herum leuchtete. Ich holte tief Luft, um ihr Blau einzuatmen und das beruhigende Gefühl über die offenen Wunden zu legen, die immer noch tief in mir schwärten. Graham mochte tot sein, aber Charlotte war hier. Und ich musste mich auf die Mission konzentrieren.

Ich würde sie nicht verlieren, so wie ich meinen besten Freund verloren hatte.

Charlotte sah mich unverwandt an. Ich musste erst gegen einen Kloß in meiner Kehle anschlucken, bevor ich ihr antworten konnte.

»Es geht mir gut. Ich habe nur gerade an Graham gedacht und an alles, was passiert ist.« Ich hielt inne, weil es mir nicht leichtfiel, meine aufgewühlten Gedanken in Worte zu fassen. »Ist es seltsam, dass ich Trevor vermisse? Ich weiß, dass er ein Verräter war. Dass er sich von einem Terroristen hat bezahlen lassen. Dass es ihm egal war, was mit mir oder Graham oder all den anderen Agenten geschieht, die an der Blacksea-Mission beteiligt waren. Aber wir waren lange Zeit befreundet, und ich denke immer noch oft an ihn. An Missionen, die wir gemeinsam absolviert haben. Dinge, die er gesagt hat. Witze, die er gerissen hat. Manchmal … vermisse ich es einfach, mich mit ihm zu unterhalten.«

Ich erkannte Mitgefühl in Charlottes Miene, als sie meine Hand drückte. »Mir geht es mit Miriam genauso … besonders an Abenden wie diesem.« Sie zeigte mit dem Kinn in Richtung Ballsaal. »Miriam meinte immer, die Weihnachtszeit wäre ihre liebste Jahreszeit. Dass sich in dieser Zeit alle entspannten, was ihr die Arbeit als Charmeurin erleichterte. Dass die Leute zu viel trinken und zu viel essen und vor allem auch zu viel reden. Sie hat immer gesagt, für Spione wäre die Weihnachtszeit die beste Zeit des Jahres.«

Ich nickte. Es war erstaunlich, wie sehr einem Personen nachhängen konnten, die gestorben waren … sogar wenn man selbst die Verantwortung für ihren Tod trug.

Charlotte drückte noch einmal meine Finger, dann ließ sie meine Hand los. »Wie war Weihnachten in deiner Familie?«

Ich war dankbar für den Themenwechsel, auch wenn ein Gespräch über meinen Vater fast genauso schmerzhaft war wie die Erinnerung an meine Freundschaft zu Trevor – und seinen Verrat.

»Nun, der General war normalerweise nicht in der Stadt, sondern unterwegs, um irgendeine Mission der Section zu überwachen, also waren meine Mutter und ich allein. Mir hat das nichts ausgemacht. Auf diese Weise war Weihnachten viel weniger angespannt und stressig.«

Charlotte schnaubte zustimmend. »Klingt wie in meiner Kindheit. Mein Vater hat sich nie von seinem Job als Cleaner freigenommen, nicht mal zu Weihnachten … aber Grandma Jane hat immer dafür gesorgt, dass das Fest zu etwas Besonderem wurde. Wir haben den größten Baum gekauft, der in ihre Wohnung passte, und haben ihn geschmückt, während im Fernsehen die Thanksgiving-Parade lief. Grandma Jane hat Kristallsterne gesammelt. Damit hat der Baum geglänzt, als wäre er mit Diamanten überzogen. Mein Vater hat ihr jedes Jahr einen Stern gekauft. Und nachdem er getötet wurde, habe ich die Tradition weitergeführt.« Ein wehmütiger Tonfall schlich sich in ihre Stimme. »Ich musste die Sterne allerdings alle verkaufen. Nachdem Grandma krank geworden ist.«

»Tut mir leid.«

»Es ist okay. Ich habe meinen Frieden damit gemacht.«

Lüge, wollte ich flüstern. Ich besaß nicht Charlottes Synästhesie, aber ihre Aura verlor erneut an Strahlkraft und verriet mir so, wie sehr sie ihre Großmutter vermisste, genau wie all diese geliebten Erinnerungsstücke, die sie hatte verkaufen müssen, um die medizinische Versorgung der alten Frau zu bezahlen.

Wir verfielen in Schweigen, beide von uns heimgesucht von den Geistern unserer vergangenen Weihnachten.

Elsa Eisen schlug mit einer Gabel gegen ihre Champagnerflöte und bat die Leute, die Plätze einzunehmen. Die Mitglieder der...