Porträt auf grüner Wandfarbe (eBook)
512 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60530-4 (ISBN)
Elisabeth Sandmann ist Verlagsbuchhändlerin, promovierte Literaturwissenschaftlerin und Verlegerin. Seit Jahrzehnten beschäftigt sie sich mit den Biografien außergewöhnlicher Frauen. 2015 veröffentlichte sie das Sachbuch »Der gestohlene Klimt«, das sich mit einem spektakulären Restitutionsfall beschäftigt. Sie lebt mit ihrem Mann in der Nähe von München und ist Mutter eines erwachsenen Sohnes.
Elisabeth Sandmann hat nach ihrer Ausbildung zur Verlagsbuchhändlerin beim Suhrkamp Verlag Kunstgeschichte und Vergleichende Literaturwissenschaft in Bonn und Oxford studiert und über George Bernard Shaw promoviert. Nach verschiedenen Stationen bei DuMont in Köln, beim Nicolai Verlag in Berlin und beim Knesebeck Verlag in München gründete sie 2004 den Elisabeth Sandmann Verlag. Sie ist mit dem Verleger Friedrich-Karl Sandmann verheiratet und hat einen Sohn. Dies ist ihr erster Roman.
Die roten Hefte
»Sie hat rote Haar, feuerrote Haar sogar«, schmetterten fünf etwa zwölfjährige Buben und verfolgten dabei zwei Mädchen, die so schnell davonliefen, wie sie nur konnten. Ihre Zöpfe, die mit großen Schleifen zusammengebunden waren, wurden mit jedem Schritt rhythmisch in die Höhe geworfen und fielen wieder schwer auf die Schultern der Mädchen herab. Unter ihren Kleidern sah man rutschende Wollstrümpfe, sie hatten die langen Röcke nach oben gerafft, um schneller rennen zu können.
»Sie hat rote Haar, feuerrote Haar sogar«, begann der Kräftigste von Neuem, der den beiden Mädchen immer näher kam. Doch völlig unerwartet blieb eines der Mädchen plötzlich stehen, sodass es fast mit ihm zusammenprallte, boxte ihn mit voller Wucht in den Magen und rief dabei: »Wenn du nicht aufhörst, mich und die Franzi zu ärgern, kannst du was erleben.«
Was das sein würde, erklärte es nicht. Den anderen Jungen blieb der Mund offen stehen. Hatten sie gerade richtig gesehen, da hatte die Ella dem Quirin furchtlos einen Schlag versetzt, den sie sich selbst nicht zugetraut hätten? Und noch unglaublicher war, dass der Quirin stehen geblieben war und keinen Mucks machte. Vermutlich ahnte er, dass das eine Schmach war, von der er sich lange nicht erholen würde. Ein Mädchen hatte ihn, ausgerechnet ihn, vor den anderen geboxt und damit bloßgestellt.
»Du hast ihm richtig eine verpasst«, meinte Franzi später anerkennend. »Pfundig war das. Das erzähl ich dem Vater.« Dabei sprach sie Vater aus, als würde es mit zwei dd und ohne e geschrieben.
Franzi hieß eigentlich Franziska Gumpelmayer und war die einzige Tochter des ortsansässigen Metzgermeisters und Schlachters. Ihre Haare leuchteten rot, und ihre helle Haut war mit Sommersprossen übersät. Über Mädchen mit roten Haaren wurde überall ausgiebig gespottet, aber die Franzi war die beste Freundin von der Ella, und das schützte sie vor schlimmeren Übergriffen. Franzis Vater steckte der treuen Freundin daher immer mal wieder eine Wurst zu, die in Ellas Familie dankbar angenommen wurde.
Ellas Eltern Sepp und Maria lebten nämlich in großer Bescheidenheit, man könnte auch sagen Armut. Vier Kinder, drei Buben und ein Mädchen, mussten versorgt werden. Der Vater hatte eine Arbeit am Bahnhof gefunden, wo er half, die Isartalbahn mit Flößerhölzern oder anderen Gütern zu beladen. Seine eigenen Wünsche hatte er längst begraben. Dabei hatte es zunächst so ausgesehen, als läge eine passable Zukunft vor ihm. Ein Stipendium hatte dem kleinen Sepp Blau den Besuch einer Klosterschule ermöglicht, in der musiziert und die Begabungen der Schüler in bescheidenem Rahmen gefördert wurden. Als dann der Vater starb, brachen die schulischen Leistungen ein, das Stipendium wurde aufgekündigt, und der vierzehnjährige Bub musste plötzlich Geld verdienen. Nun ging es nicht mehr um Neigungen, sondern darum, die Notlage der verwitweten Mutter und der jüngeren Geschwister zu lindern. Als Sepp später heiratete, hatte dies mehr mit dem kleinen Hof zu tun, den seine Braut Maria mit in die Ehe brachte, als mit echter Zuneigung.
Auch für Maria waren die Träume früh ausgeträumt, dabei hatte sie sich viel von der Ehe mit Sepp versprochen, der ihr gut gefiel in seiner für einen Mann selten sensiblen Art. Aber nachdem das erste Kind gestorben war und danach das zweite und dritte, entwickelte Maria eine Härte, die sich zunächst gegen sie selbst und dann gegen die ganze Familie richtete. Das mochte auch daran gelegen haben, dass es in ihrer Umgebung niemanden gab, der für ihre Trauer, Verzweiflung und Einsamkeit Verständnis gezeigt hätte. Es wurde ja ständig gestorben und geboren, und so quittierte man ein Zuviel an Empfindlichkeit eher mit Häme.
Maria kümmerte sich um die kleine Landwirtschaft, die der Selbstversorgung diente. Nur hin und wieder kam es vor, dass sie etwas Gemüse oder Fleisch auf dem Markt verkaufen konnten, aber selten genug. Sie hatte sich eine profunde Kenntnis über heilende Pflanzen angeeignet, mit der sie ihre kleine Tochter Ella begeisterte, die mit ihrem Weidenkörbchen nur zu gerne auf die Almwiesen ging, um mit der Mama seltene Kräuter zu suchen.
Maria sprach wenig, lachte nie, aber erfüllte ihre Pflichten zuverlässig wie ein Uhrwerk. Schließlich mussten die Schulgebühren bezahlt werden. An Kleidung herrschte Dauermangel, und nur zwei Kinder hatten einigermaßen brauchbare Schuhe, die anderen liefen im Sommer barfuß. Ella konnte nicht die Hosen und Hemden ihrer Brüder auftragen, obwohl sie das gerne getan hätte, sodass für sie, selten genug, ein Stück Stoff erworben werden musste, aus dem die Mutter dann ein einfaches Dirndlkleid nähte. Es waren Festtage, wenn so ein Kleid endlich nach all dem Stillstehen, Maßnehmen und Anprobieren fertig war.
Nachdem Ludwig Gumpelmayer von Ellas Fausthieb in Quirin Wachtveitls Magengrube gehört hatte, fragte er sie, ob sie einen Wunsch habe. Er war zutiefst beeindruckt vom Schneid dieses kleinen Mädchens.
Ja, einen Wunsch hatte sie. »Ich wünsche mir ein paar Stiefel zum Schnüren«, antwortete Ella gedehnt, so als würde sie es genießen, diesen Wunsch erstmals in Worten laut auszusprechen und sich dabei selbst zuzuhören, »so welche, wie sie die Franzi hat«, ergänzte sie.
Das war ein ziemlich großer Wunsch, und Ella hatte für einen Moment das Gefühl, ihr Glück doch zu stark herausgefordert zu haben. Schuhe aus Leder waren unerreichbarer Luxus. Aber Franzis Vater nickte nur und meinte, sie solle sich auf einen Pappdeckel stellen. Dann zeichnete er die Umrisse ihrer Füße ab und versprach, sich um die Stiefel zu kümmern.
Für Ella waren die Schuhe von außerordentlicher Wichtigkeit und ein elementarer Bestandteil ihres Plans, den sie in jungen Jahren heimlich für sich geschmiedet hatte. Bald würde sie die Schule verlassen müssen, und sie wollte auf gar keinen Fall auf einem Bauernhof als Magd arbeiten. Das Schulgeld konnte nicht länger bezahlt werden, obwohl sie besser lesen und rechnen konnte als alle in ihrer Klasse. In ein Mädchen zu investieren, galt zudem ohnehin als Verschwendung.
Ihren Eltern gegenüber hatte sie sich nicht getraut, den Wunsch nach Schuhen zu äußern. Es war nicht erlaubt, sich etwas zu wünschen, was jenseits der Möglichkeiten lag. Und Schuhe gehörten in diese Kategorie. Eigentlich lag alles jenseits der Möglichkeiten, und Wünsche laut auszusprechen, war daher immer ein gefährliches Unterfangen, das der Vater vielleicht mit einer Watschn quittieren würde. Jedenfalls war das ihren Brüdern oft so ergangen. Gefühle und Sehnsüchte, Freude und Vorfreude waren in ihrer Familie irgendwann verschwunden, wie die Murmeln eines Spiels. Niemand wusste mehr, wer wann und wo die Kugeln verloren hatte.
Aber Ella ließ sich vom Wünschen nicht abbringen, und wenn sie in ihrem Bett lag, träumte sie davon, einmal eigenes Geld zu verdienen und so unabhängig zu sein, dass sie niemanden mehr um Erlaubnis würde bitten müssen. Ihr Vater hatte eines Abends erzählt, dass immer mehr Städter mit der Isartalbahn von München nach Tölz reisten, um Erholung zu finden. Ella hatte seine Schilderungen mit großem Interesse verfolgt, und obwohl sie dies in jenem Moment noch nicht bewusst fassen konnte, formierte sich in ihr ein Vorhaben.
Seit einigen Jahren durfte sich das kleine Städtchen Tölz nun schon als Kurort bezeichnen und den Titel »Bad« führen. Man hatte heilende Jodquellen gefunden, die Reisende aus der näheren und weiteren Region anzogen. Der Schriftsteller Thomas Mann hatte sich eine moderne Villa erbauen lassen und verbrachte die Sommer mit seiner Frau Katia und den Kindern im Voralpenland. Der renommierte Architekt Gabriel von Seidl liebte das kleine Tölz. Seine Pläne, die Fassaden der heruntergekommenen Häuser in der Marktstraße umzugestalten oder sie gleich neu zu bauen, hatte man aufgegriffen, und nun wirkte es, als hätte jemand ein verblichenes Sepiafoto in leuchtenden Farben aquarelliert. Der alte Muff war verschwunden, und das Städtchen sah wie frisch gewaschen aus. Erste Kurhotels eröffneten ebenso wie kleinere Pensionen, in denen vor allem die Sommerfrischler Kost und Logis suchten, um von dort aus Spaziergänge an der Isar oder Wanderungen in die Voralpen zu unternehmen.
In solch einem Gästehaus wollte Ella arbeiten, aber dafür brauchte sie drei Dinge, zumindest behauptete das ihr älterer Bruder...
Erscheint lt. Verlag | 27.7.2023 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Anspruchsvolle Unterhaltung • Bad Töz • Berlin • Buch • Bücher • Deutsche Geschichte • Erbe • Erinnerung • Erster Weltkrieg • Familie • Familiengeheimnis • Familiengeschichte • Familiengeschichte 20. Jahrhundert • Familienleben • Familienroman • Familienschicksal • Freundinnen Roman • Freundschaft • Geheimnis • Gehobene Unterhaltung • Generationenroman • Gretchen • Heranwachsen • Herkunft • historischer Roman 20. Jahrhundert • Junge Frau am Fenster • Krieg • Liebe • Novitäten 2023 Hardcover • Pommern • Reise in die Vergangenheit • Roman 20. Jahrhundert • Roman auf zwei Zeitebenen • Roman deutsche Geschichte • Roman Frauen 40 • Roman für Frauen • Roman für Frauen ab 40 • Schicksal • Schicksalsroman • Schloss Elmau • Schuld • Starke Frauen • Trauer • Verlust • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-492-60530-3 / 3492605303 |
ISBN-13 | 978-3-492-60530-4 / 9783492605304 |
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