Aktiv sterben (eBook)
304 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3054-9 (ISBN)
Paul Lüdicke stammt aus Bielefeld und hat jeden Witz über diese Stadt, genauer gesagt: den einen, den es gibt, schon tausendmal gehört. Auch deswegen ist er ausgebrochen und hat als Stangentänzer, Bienenzüchter, Einsiedler, Doppelagent und Ornithologe gearbeitet. Paul Lüdicke lebt heute unter einem Pseudonym in einer anderen Stadt, hat zwei Kinder und verdient sein Geld damit, dass er Drehbücher schreibt.
Paul Lüdicke stammt aus Bielefeld und hat jeden Witz über diese Stadt, genauer gesagt: den einen, den es gibt, schon tausendmal gehört. Auch deswegen ist er ausgebrochen und hat als Stangentänzer, Bienenzüchter, Einsiedler, Doppelagent und Ornithologe gearbeitet. Paul Lüdicke lebt heute unter einem Pseudonym in einer anderen Stadt, hat zwei Kinder und verdient sein Geld damit, dass er Drehbücher schreibt.
2
Die Stadt Galgen war viel freundlicher und lauschiger, als der Name es vermuten ließ. Sie hatte viel Grün, es gab Alleen, mehrere Parks, eine kleine Flaniermeile. Galgen fügte sich ganz vortrefflich in das Tal einer wunderschönen bewaldeten Hügelkette ein. Der Fluss, der sich durch den Ort schlängelte, tat sein Übriges. Es gab ein kleines Museum der Stadtgeschichte, eine überraschend gut ausgestattete kleine Bibliothek und ein paar gute Restaurants. Darunter sogar eines, das ständig kurz davor war, mit einem Stern dekoriert zu werden. Galgen war eine kleine, sympathische Stadt. Und wollte man den Gerüchten, die man allerorten aufschnappte, Glauben schenken, sollte sie bald sogar Kurstadt werden.
Das Wasser in Galgen, das aus einer unterirdischen Quelle nahe der Hügel sprudelte und dafür sorgte, dass die umliegenden Felder äußerst fruchtbar waren, war von besonderer Qualität. Es besaß eine heilende Wirkung, sagte man. Das hatte mit einer besonderen Zusammensetzung von Mineralstoffen und Spurenelementen zu tun, die von dem Salzgestein unterhalb der Hügel herrührte. Ein paar Bewohner der Stadt waren der Meinung, dass in diesem Salzgestein auch ein paar heilende Steine wie Sugilit, Turmalin oder Jaspis verborgen waren, weswegen der Anteil an Salzkristalllampen und esoterischen Läden in Galgen relativ groß war. Immer im Verhältnis zur Stadtgröße gesehen, denn Galgen war eigentlich relativ klein.
Andere Bewohner wiederum waren der Meinung, dass das besondere Wasser in Galgen daher rührte, dass im Zentrum der Stadt, neben dem Brunnen, aus dem das kostbare Nass sprudelte, früher einmal der Galgen gestanden hatte. Deswegen hieß Galgen ja auch Galgen. Vielleicht waren die Bewohner im Mittelalter, als Galgen gegründet wurde, etwas fantasielos gewesen, und ihnen war nichts anderes eingefallen. Roterde, Winterdorf, Grünaue oder Fliederbusch wären auch passende und darüber hinaus viel schönere Namen gewesen, aber sie hatten sich nun mal für Galgen entschieden. Möglich, dass die Bewohner von Galgen ein besonderes Faible für handfeste Justiz gehabt hatten. Die Stadtbücher sind da etwas uneindeutig. Jedenfalls, einem Teil der Bewohner gefiel diese Erklärung, und sie führten das besondere Wasser in Galgen auf das Blut und die Tränen, auf die Seelen und die magischen Kräfte der Gerichteten zurück.
Die Stadtverwaltung unter der Leitung von Bürgermeisterin Philine Binder-Mahnke kümmerten die genauen Ursachen für das Heilwasser wenig. Was nicht weiter verwunderlich war, denn Philine Binder-Mahnke eilte der Ruf voraus, noch nie eine klare Meinung oder Position vertreten zu haben. Genau deswegen, sagten böse Zungen, war sie auch in die Leitungsposition gespült worden, glitschig wie ein Fisch, nicht zu greifen, schwer zu attackieren. Philine Binder-Mahnke wusste: Das Wasser in Galgen war etwas Besonderes und besaß Heilkräfte. Aufgrund der besonderen Wasserqualität erwog der Fachausschuss für Kur-, Erholungs- und Tourismusorte beim Regierungspräsidium die offizielle Ernennung von Galgen zu Bad Galgen.
Bad Galgen klang nicht nur viel schöner als das wenig prosaische und profane Galgen. Wer Bad Galgen hörte, der hörte auch die Kasse klingeln und malte sich schon aus, wie das etwas marode Städtchen durch den zu erwartenden Tourismus endlich modernisiert und auf gesunde finanzielle Beine gestellt werden konnte.
Was insbesondere für das Hotel Waldfrieden galt. Das Hotel war seit Jahrzehnten im Besitz der Familie Bernstein. Von all den Bernsteins, die das Haus bislang geführt hatten, war Rolf Bernstein der am wenigsten erfolgreiche. Natürlich, das Hotel war immer schon ein bisschen zu groß gewesen. Man hätte solch ein Haus wohl eher in Cannes oder an der Côte d’Azur vermutet und nicht in einem Städtchen in der Mitte Deutschlands, obendrein abseits aller touristischen Kernregionen. Das Hotel war überdimensioniert, und bei der Sanierung vor ein paar Jahren hatte Rolf Bernstein irgendwie aufs falsche ästhetische Konzept gesetzt. Die Einrichtung wirkte nicht zeitgemäß, der Innenarchitekt war ein Kind der Achtziger gewesen. Rolf Bernstein hingegen eins der Sechziger. Und die Mischung der beiden Stile und der knappe Finanzrahmen hatten dafür gesorgt, dass das Hotel schon am Tag seiner Neueröffnung nach seiner Sanierung veraltet wirkte. Die vorherrschenden Farben waren Orange und Dunkelrot. Die Zimmer waren mit Resopalmöbeln ausgestattet, und die kleinen, aber klobigen Fernseher stammten aus den Restbeständen eines ungarischen Fernsehherstellers, der wohl zu Recht pleitegegangen war, denn auf keiner der Fernbedienungen gab es die Taste »1«.
Zudem hatte Rolf Bernstein noch ein paar weitere nicht ganz glückliche Entscheidungen getroffen. Zum Beispiel den Ausbau zum Wellnesshotel. Er hatte in den vergangenen zwei Jahren noch mal massiv investiert, hatte einen Sauna-Bereich und einen Pool bauen lassen, zudem den Außenbereich hergerichtet und Massageräume geschaffen. Das Hotel Waldfrieden sollte zum Wellnesstempel werden. Doch es hatte sich nicht ausgezahlt. Es gab einfach zu wenig Touristen in Galgen. Und die, die kamen, schienen aus für Rolf Bernstein unerfindlichen Gründen das Hotel Hück am anderen Ende der Straße vorzuziehen.
Die Schulden erdrückten Bernstein. Er hatte große Mühe, die Strom-, Wasser- und Personalkosten einzuspielen und die Kredite für den Umbau und die Sanierung zu bedienen. Mit anderen Worten: Das Hotel soff allmählich ab, trotz Heilwasser.
Von alldem unbehelligt, hatte der neunzehnjährige Leon Fußangel, Concierge und Rezeptionist des Hotels Waldfrieden, auch heute wieder um Punkt sechs Uhr Stellung hinterm Empfangstresen bezogen und sein morgendliches Strahlen aufgesetzt. Leon war immer guter Laune. Er liebte seinen Beruf und genoss es, als einer der Ersten wach zu sein, die Kaffeetasse mit der albernen Ich bin der Boss-Aufschrift auf den wuchtigen braunen Empfangstresen vor sich zu stellen und für einen kurzen Moment allein mit sich und seinen Gedanken zu sein. Früher hatte Leon davon geträumt, einmal in einem mondänen Hotel in der Karibik zu arbeiten. Aber das leicht in die Jahre gekommene Waldfrieden mit seinem veralteten Chic und seinen klobigen Fernsehern, die noch aus den Achtzigern stammten, war ihm ans Herz gewachsen. Die Rezeption lag links von der schweren gläsernen Eingangstür mit einem goldenen Griff, mit der manche Gäste aufgrund ihres Gewichts so ihre Schwierigkeiten hatten. An der Fensterfront standen zwei schwere dunkelbraune Sessel, daneben ein Coffeetable, auf dem Leon immer die örtliche Zeitung auslegte. Die Wände waren grün tapeziert, was dem Ganzen einen gewissen britischen Charme verlieh. Einige Grünpflanzen, Antiquitäten und Gipsstatuen schmückten die Lobby. Aus einem für Leon immer noch nicht nachvollziehbaren Grund stand ein großer hölzerner Löwe neben der Tür, der wie ein Überbleibsel aus der Kolonialzeit wirkte. Große Bilder in schweren Holzrahmen hingen an den Wänden. Es war gemütlich. Und Leon liebte seine Lobby.
Er legte die Anmeldebögen vor sich auf den Tresen. Kaffeeduft stieg ihm in die Nase.
Es war halb sieben, und ein spannender Tag lag vor ihm. Ein perfekter Moment … bis er den Schrei hörte. Er spurtete sofort los. Der Schrei war aus Richtung der Küche gekommen war. Leon war alarmiert.
Hamids Schrei war sehr laut gewesen, regelrecht markerschütternd. Und Leon hatte berechtigte Angst, dass die Gäste in ihrer Bettruhe gestört werden könnten. Und natürlich auch, dass sich Hamid etwas getan haben könnte. Da Leon ziemlich dünn war, waren seine Schritte auf dem dicken roten Teppich mit der Goldkante kaum zu hören …
Er stürmte in die Küche, dann eilte er weiter in den Kühlraum. Dort sah er Hamid vor der Leiche. Er blieb abrupt stehen. Ihm klappte die Kinnlade herunter, denn er erkannte sofort, wer die Leiche war: Klaus Kindermann aus Zimmer 13, der vorgestern eingecheckt hatte. Er hatte dem etwas gestresst und abwesend wirkenden Mann ein gutes Zimmer gegeben, nicht Leons Lieblingszimmer Nummer 21 mit dem Erker zur Straße hin. dennoch ein helles, schönes Zimmer, in dem sich der angespannte ältere Herr sicherlich gut würde erholen und ausruhen können.
Das war jetzt nicht mehr nötig, denn Kindermann war tot. Erstochen. Mit einem Blick machte Leon mindestens drei Stichwunden aus – eine links oberhalb des Rippenbogens und zwei weitere im Bauchraum. Alles war voller Blut um die Leiche herum, die mit dem Rücken halb an einer Palette Milch lehnte. Kindermanns Mund stand offen, ein rötlicher Speichelfaden hing heraus. Seine Augen waren halb geöffnet, die Pupillen leicht nach oben gedreht.
Kindermann trug eine altmodische grün-blau gestreifte Schlafanzughose und die weißen Hotelschlappen, auf denen das Logo vom Waldfrieden in Gold prangte.
»Was ist hier los?«, fragte Leon – was auch anderes sollte man in solchen Momenten fragen.
Hamid drehte sich zu Leon um, er war leichenblass und wirkte verwirrt. Irritiert schaute er Leon an, wusste nicht, was er darauf antworten sollte.
»Alles gut«, sagte Leon beruhigend. Eigentlich konnte Leon Hamid nicht wirklich leiden. Die beiden...
Erscheint lt. Verlag | 30.11.2023 |
---|---|
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | COSY • Cozy • Garten • heilsame Quelle • Hobbyermittler • Hotel • Koch • Krimi • Kur • Meditation • Mord • Osman • Umwelt |
ISBN-10 | 3-8437-3054-7 / 3843730547 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3054-9 / 9783843730549 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 2,7 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich