Erasmus (eBook)

Biografie eines Freigeists | Der bedeutendste Humanist der Geschichte und Europas Umbruch zur Moderne
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
976 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3047-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Erasmus -  Sandra Langereis
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Wissenschaftliche Fakten galten ihm mehr als religiöse Dogmen, unvoreingenommene Forschung mehr als die reine Lehre.  Erasmus von Rotterdam war für die Eliten der frühen Neuzeit eine Reizfigur. Aber er war auch die Lichtgestalt des frühen liberalen Denkens und ist uns als solche bis heute ein Vorbild. Erasmus von Rotterdams Werdegang im Europa des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts ist der spannende Lebensweg eines Menschen, der in der Umbruchsphase der Renaissance, des Humanismus und der Reformation gegen viele Widerstände um seine intellektuelle Unabhängigkeit und eine vernunftbetonte, tolerante Kultur rang. In ihrer preisgekrönten Biografie stellt Sandra Langereis die komplexen historischen Zusammenhänge zu Erasmus' Lebenszeit dar: Zwischen Klöstern und Universitäten, aber auch im Lichte der einsetzenden Bildungsreform, der Bedrohung durch die Pest und der damaligen politisch-religiösen Verwerfungen erscheint Erasmus als bahnbrechender Vordenker und Wegbereiter der modernen europäischen Kultur und der neuzeitlichen Geisteswissenschaft.

Sandra Langereis wurde 2001 an der Universität Amsterdam in Geschichte promoviert. Bis 2013 war sie Dozentin für Geschichte in Amsterdam und Leiden sowie viele Jahre Chefredakteurin der Historisch Tijdschrift Holland. Ihre Erasmus-Biografie wurde 2021 mit dem LIBRIS GESCHIEDENIS PREIS 2021 für das beste historische Werk für ein breites Publikum ausgezeichnet und setzte sich dabei u.a. gegen das neue Buch von David Van Reybrouck durch. 

Sandra Langereis wurde 2001 an der Universität Amsterdam in Geschichte promoviert. Bis 2013 war sie Dozentin für Geschichte in Amsterdam und Leiden sowie viele Jahre Chefredakteurin der Historisch Tijdschrift Holland. Ihre Erasmus-Biografie wurde 2021 mit dem LIBRIS GESCHIEDENIS PREIS 2021 für das beste historische Werk für ein breites Publikum ausgezeichnet und setzte sich dabei u.a. gegen das neue Buch von David Van Reybrouck durch. 

Wahre Geschichten


Rund um die Welt


Am 27. Juni 1598 verließ Erasmus den Rotterdamer Hafen. Er wusste, er war ein berühmter Mann. Der erfolgreichste Schriftsteller der Welt. Aller Zeiten. Noch ein Vierteljahrhundert Geduld, dann würde Rotterdam endlich ein angemessenes Standbild von ihm gießen lassen, dann könnte er seine ikonischen Qualitäten larger than life über den Markt erstrahlen lassen. In Bronze, unerschütterlich, bis in alle Ewigkeit. Unterdessen aber stand er zum Glück doch schon wieder vierzig Jahre in Stein gemeißelt in seinem Geburtsort, freute er sich heimlich, während sein Schiff behutsam ablegte.

Wer konnte sich dessen schon rühmen, eines öffentlichen Standbilds? Sie hatten es im Herzen der Stadt, auf dem viel besuchten Großen Markt, nicht weit von seinem Geburtshaus, aufgestellt. Auf der Fassade dieses Hauses hatten sie auch noch eine Inschrift angebracht: »In diesem Haus ist der berühmte Erasmus geboren. Der uns Gottes Wort auserwählt gut erklärt hat.«1 Das gefiel ihm, dass sie auf diese Weise auch sein Geburtshaus zum Denkmal erkoren hatten. Ihm selbst war es eigentlich ein wenig in Vergessenheit geraten nach all den Jahren im Ausland, sonst hätte er ihnen wohl einen Wink gegeben – umso angenehmer, dass er selbst dafür gar nichts hatte tun müssen. Nicht mehr lange, und sein Geburtshaus fände ganz gewiss Eingang in die Reiseführer, dann wäre das Haus bis zum Ende aller Tage ein Wallfahrtsort für Bewunderer aus nah und fern. Das holländische Hafenstädtchen durfte sein Häuschen gern als Gottesgeschenk betrachten. Diese Glückspilze!

Im Geiste drehte er den spanischen Soldaten König Philips II. eine lange Nase, die ihn damals auf dem Marktplatz mit Dreck beschmiert, beschossen und in die Maas geschmissen hatten, weil er – Gott bewahre – ein Lutheraner gewesen sei: Das fehlte noch! Sie hatten ihm einfach ein neues Standbild gesetzt. Da nicht gleich Geld für einen Ersatz aus Stein aufgetrieben werden konnte, hatten sie flugs ein Standbild aus Holz aufgestellt. Blau angemalt, um es steinern erscheinen zu lassen. Doch mittlerweile stand hier tatsächlich wieder eine Skulptur aus Stein. Mannshoch. Wer stand jetzt, in naher Zukunft und für alle Zeiten auf dem Markt? Erasmus. Und wo war der spanische König, dieser ach so katholische Betbruder? Getrollt hatte er sich in seinen spanischen Klosterpalast. Lebendig begraben in seinem leeren Escorial.

Inzwischen ging es stromaufwärts, zur Insel von Dordrecht. Dort, zwischen den stattlichen Kirchtürmen, erinnerte er sich an einen seltenen Verwandtschaftsbesuch und ein tierisches Gelage, von dem selbst er – als geübter Trinker, der er war – noch tagelang einen Brummschädel zurückbehalten hatte. Von seinen rumorenden Eingeweiden ganz zu schweigen. »Fisch muss schwimmen!«, hatten sie damals gelallt. Verglichen mit den vollgefressenen Schwelgern dort verblasste der Oberschwelger Epikur zu einem stoischen Sauertopf. Diese holländischen Saufgelage konnten ihm jedenfalls gestohlen bleiben. Auf geht’s! Eine huldvolle Verbeugung vor seinem betrübten Publikum. Gehabt euch wohl! Klatscht noch und noch! Lebt ohne Joch! Sauft wie ein Loch! Einen allerletzten Blick noch auf die Stadt seiner Onkel im abgesoffenen Land der Schmarotzer. Bei Nordostwind war die Dordtsche Kil schnell passiert; nun fuhr er langsam den Fluss hinauf. Er wusste, dass hinter den breiten Schlammbänken in der Hollandse Diep Zevenbergen lag, wo seine Mutter herkam. Dann kam die Mündung, endlich. Ein Stückchen von der Küste entfernt erfasste sofort eine steife Brise das Schiff. Die Segel blähten sich. Vom Heck aus sah er, wie die Mündung von Goeree immer kleiner wurde und schließlich verschwand.

Sein Schiff fuhr westwärts, es hatte den denkbar längsten Seeweg in den Fernen Osten vor dem Bug. Er hatte viel Reiseerfahrung, auch auf See. Wie oft hatte er nicht schon die Überfahrt nach England gewagt? Doch diese Unternehmung stellte alles in den Schatten. Es war Wahnsinn. Zwei Sommer zuvor hatte eine der vielen Expeditionen unter der Leitung der unerschrockenen Entdeckungsreisenden Van Heemskerck und Barentsz den kurzen nördlichen Seeweg nach Osten erkundet und war bei Nowaja Semlja im Eis festgefroren. Dann eben den weiten Umweg! Die Welt war rund! Eine Umfahrung Afrikas in südöstlicher Richtung, am Kap der Guten Hoffnung vorbei, wäre ein Kinderspiel gewesen, doch die Portugiesen bekämpften diese Route nach Osten schon seit hundert Jahren auf Leben und Tod. Daher suchten die Holländer nach einem alternativen Seeweg, vorzugsweise im Norden, und wenn das nicht möglich war, eben im Süden. Aber nun in die andere Richtung.

Magellan war es unter spanischer Flagge schon vor einem Dreivierteljahrhundert gelungen, den Erdball auf dieser westlichen Route zu umrunden. Es war die erste Reise um die Welt, die je vollbracht worden war. Fünfzig war Erasmus damals sogar schon gewesen. Zur Zeit der Expedition wohnte er gerade wieder eine Weile in den Niederlanden. Glücklicherweise nicht für eine lange Zeit, denn als Magellan nach einer absurd langen Reise von anderthalb Jahren endlich den Osten erreicht hatte, residierte er bereits wieder fürstlich in Basel. Das Erdenrund erwies sich doch als wesentlich größer, als alle vermutet hatten. Von dessen fünf spanischen Schiffen war anderthalb Jahre später nur noch ein einziges nach Sevilla zurückgekehrt. Mit achtzehn zerlumpten Männern und einer Ladung molukkischer Gewürznelken an Bord. Die Männer konnten Kaiser Karl berichten, dass ihr Kapitän in der Nähe von Feuerland eine schmale Meeresstraße vom Atlantik zum zuvor noch nie befahrenen Stillen Ozean gefunden und diesen unabsehbaren Stillen Ozean überquert hatte. Sie hätten während der Überfahrt von gelb eingetrübtem Trinkwasser und pulverisiertem, nach Rattenpisse stinkenden und von Würmern durchsetztem Schiffszwieback gelebt. Sie hätten elende Brocken Rattenfleisch und steinharte Lederstreifen hinuntergeschlungen, die sie erst tagelang in Meerwasser eingeweicht und danach gebraten hatten. Keine schönen Aussichten! Der hinkende Magellan war mit seiner ausgedünnten Mannschaft auf einer Insel im Chinesischen Meer gelandet, hatte dort einen Kampf gegen die einheimische Bevölkerung führen müssen und war dann jählings von einem giftigen Bambusspeer getötet worden. Die Männer waren ohne ihren Kapitän schnell zu den Molukken, ihrem ursprünglichen Ziel am Äquator, weitergesegelt. Nach einer langen Rückreise über das Kap der Guten Hoffnung voller neuerlicher Entbehrungen und Todesfälle waren sie schließlich nach Hause zurückgekehrt. Und das alles für eine Schiffsladung Gewürznelken! Mit drei Jahren musste er daher wohl rechnen, bevor er Rotterdam wiedersehen könnte. Wenn er die ganze Reise überhaupt überstehen würde. Zunächst die Atlantiküberquerung. Solange wie möglich an der europäischen und afrikanischen Küste entlang und dann geradewegs über den Ozean bis zur Küste Patagoniens. Diese Küste entlang bis zum südlichsten Punkt der beiden Amerikas hinunter, bis nach Feuerland, zum Treibeis des Südpoolgebiets. Dort durch die schmale Magellanstraße. Danach über den gigantischen Stillen Ozean. Zunächst ein gutes Stück aufwärts nach Norden, entlang der chilenischen Küste. Und dann westwärts, aufs offene Meer hinaus, und immerzu aufwärts, Richtung Äquator: Von der chilenischen Küste aus würden sie über ein Drittel der Erdoberfläche segeln, um zur Ostseite Asiens zu gelangen. Und dann käme noch die Heimfahrt.

Das Evangelium von Rotterdam


In der Nachfolge Magellans zählte auch die Rotterdamer Expedition, bei der Erasmus mitfuhr, fünf Schiffe. Die Flotte bestand aus gebrauchten Frachtschiffen unterschiedlicher Bauart und Größe, die man für diese Weltreise aus den Beständen der regulären Handelsschifffahrt übernommen hatte. Es handelte sich also nicht um die gewaltigen Spiegelschiffe mit einer Ladekapazität von mehr als tausend Tonnen, die speziell für die später gegründete Vereinigte Ostindische Kompanie (VOC) gebaut worden waren. Die fünf Rotterdamer Frachtschiffe waren alt und klein. Für ihre gefährliche Weltreise wurden sie nun von einer lokalen Handelsgesellschaft ausgerüstet, die von zwei steinreichen Einwanderern aus Antwerpen und Mechelen gegründet worden war. Diese waren aus den von den Spaniern beherrschten südlichen Niederlanden in den freien Norden geflohen, wo der Handel mehr Zukunft hatte. In Rotterdam waren sie als Kaufleute und Bankiers tätig. Mit ihrem eigenen Geld und den Einlagen zahlreicher großer und kleiner privater Investoren brachten diese Reeder fünfhunderttausend Gulden auf. Einen Teil dieses schwindelerregenden Kapitals investierten sie in eine Versicherung, den Rest in die Anschaffung und Ausrüstung der Schiffe. Sie bemannten die Flotte mit etwa fünfhundert Seeleuten. Die Heuer der Besatzung hielten sie so gering wie möglich. Auch der eingelagerte Proviant – Wasser und Wein, Schiffszwieback und Grütze, Bohnen und Erbsen, Pökelfleisch und Räucherfisch – war nicht üppig, und die auf der Reise ausgeteilten Rationen waren...

Erscheint lt. Verlag 30.11.2023
Übersetzer Bärbel Jänicke
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Neuzeit bis 1918
Schlagworte Bibel • Dogmen • Europa • Holland • Humanismus • Liberal • Liberalität • Luther • Menschenrechte • Moderne • Objektiv • Religion • Toleranz • Vatikan • Willensfreiheit • Wissenschaft • Zäsur
ISBN-10 3-8437-3047-4 / 3843730474
ISBN-13 978-3-8437-3047-1 / 9783843730471
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