FrikkomitSenf -  Lothar Boese

FrikkomitSenf (eBook)

Roman

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
136 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7578-6817-8 (ISBN)
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1974 Eine Einfamilienhaussiedlung in Duisburg. Hier beginnt die amüsante Geschichte des 13-jährigen Lothar, dessen Weg durch die Pubertät von einem großen Problem begleitet wird: Er ist Stotterer, deshalb werden scheinbar normale und alltägliche Situationen für ihn zu besonderen Herausforderungen, die er aber mit viel Witz und Fantasie meistert.

Ein Michelin-Stern für den Amerika-Grill


Sommer 1974. Um genau zu sein: Samstag, 10 Uhr.

Ich liege in meinem Bett, das ich aus meiner neuen weißen Jugendzimmerschrankwand ausklappen kann, und werde schon wieder durch das unverschämt laute Vogelgezwitscher vor meinem Fenster geweckt. Ich drücke mein Kopfkissen mit beiden Händen verzweifelt auf meine Ohren und frage mich nicht zum ersten Mal: Haben diese gefiederten Plagegeister eigentlich nie schlechte Laune? Die zwitschern immer laut und fröhlich in Dur, nie leise und niedergeschlagen in Moll. Und das am Samstagmorgen. Die laute und gute Laune nervt, denn ich für meinen Teil habe heute Morgen schlechte Laune, weil ich samstags morgens immer schlechte Laune habe, denn ich werde wie immer meinem traurigen Schicksal überlassen.

Die Mitarbeiterin im Juweliergeschäft meiner Eltern hat samstags ihren freien Tag, weshalb meine Mutter die Lücke an der Verkaufstheke schließen muss, was für mich heißt: Meine Nahrungskette ist unterbrochen und mein geliebtes heimisches Mittagessen fällt komplett aus. Dafür bekomme ich, wie jeden Samstag, zehn Mark, mit denen ich mir in irgendeiner Pommesbude irgendetwas zu essen holen soll. Ich gehe aber nicht in irgendeine Pommesbude und bestelle mir irgendetwas zu essen. Meine Wahl fällt selbstverständlich wie gewohnt auf den Amerika-Grill bei uns in Duisburg-Hamborn. Wenn es Michelin-Sterne für Pommesbuden geben würde, bekäme der Amerika-Grill einen in die Fassade gegrillt, zumindest für den Hackbraten mit Pommes und Krautsalat für fünf Mark neunzig. Sozusagen einen Hackbraten-Michelin. Doch der kulinarische Olymp ist unberechenbar und gefährlich.

Wie gewohnt lehne ich mein Fahrrad mangels Ständer an die Hauswand auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Amerika-Grills, von wo aus ich eine gute Sicht in den Innenraum des Imbisses und auf die nähere Umgebung habe. Ich checke ausgiebig die Lage im Verkaufsraum und im näheren Außenbereich, denn Nachlässigkeiten im Vorfeld der Nahrungsbeschaffung haben oft weitreichende Folgen für mich.

Außer der Bedienung befinden sich noch zwei weitere Personen im Grill, was für mich erst einmal warten heißt. Business as usual. Ich greife in meine rechte Hosentasche und krame ein Superbum raus, denn erfahrungsgemäß kann die Wartezeit bis zum Betreten des Imbisses schon mal ein Viertelstündchen dauern.

Mein Superbum ist gerade richtig weich gekaut und die ersten kürbisgroßen Blasen platzen in mein Gesicht, als die beiden Personen überraschend schnell den Grill verlassen, bevor Neukunden nachgerückt sind. Der Verkaufsraum ist jetzt leer und mein Einsatz steht unmittelbar bevor. Ich gucke nach rechts und links, noch mal nach rechts und links, aber keine weiteren hungrigen Personen nähern sich meinem Hackbratencenter. Ich überquere zügig die Straße, drehe kurz vor dem Grill meinen Kopf leicht zur linken Seite und spucke mein Superbum so aus, dass ich es mit dem rechten Fuß vollspann wegkicken kann. Ich treffe richtig gut und zwei Sekunden später klebt mein Superbum fünf Meter weiter auf der Kofferraumhaube eines roten Opel Kadett.

Schöner Schuss!

Ich drücke die leicht am Boden schleifende Glastüre kräftig auf und kontrolliere blitzschnell ein letztes Mal den Innenraum. Optimale Bedingungen: Die Inhaberin ist allein im Verkaufsraum und steht mit dem Rücken zu mir. Sie wendet flink und routiniert eine Reihe Bratwürste, verstellt danach noch kurz die Temperatur an einem der weißen Drehregler und will sich jetzt zu mir umdrehen. Genau dieser kurze Moment, wenn ich den leeren Verkaufsraum betrete und die Verkäuferin noch mit dem Rücken zu mir steht, ist exakt der Zeitpunkt für meine Bestellung. Nur in diesem kurzen Augenblick kann ich meine Bestellung unaufgefordert und unbeobachtet von mir geben, noch bevor sich die Dame zu mir umdreht, mir in die Augen schaut und meine Essenswünsche hören will.

Nichts ist schlimmer für mich, als dass ich auf Kommando, also zum Beispiel auf eine Frage, etwas Bestimmtes wie meine Bestellung sagen soll. Das geht nicht. Da kriege ich kein Wort raus. Vollkommene Blockade. Ich kann nicht einfach in den bereits mit mehreren Personen gefüllten Amerika-Grill schlendern, warten, bis ich an der Reihe bin, um dann nach Aufforderung allen Anwesenden meinen Essenswunsch flüssig vorzutragen. Ich muss ständig auf der Hut sein und kann nicht einfach ein Geschäft oder einen Imbiss ohne sorgfältige Planung und ›Notausgang‹ betreten.

Mein Text lautet ›Hackbraten‹. Damit ist alles gesagt. Den Hackbraten gibts nämlich nur mit Pommes und Krautsalat. Weitere Fragen sind also völlig überflüssig.

Aber genau in dem Augenblick, in dem das ›Ha‹ von Hackbraten unbeobachtet meinen Mund verlassen soll, dreht sich die Frittierdame nicht zu mir um, sondern kommt mir zuvor mit den Worten »Ich bin sofort wieder da« und geht nach links durch eine ausgehängte Tür in einen Hinterraum. Ich kann meine Bestellung nicht wie geplant unbeobachtet und unvermittelt in den Raum sprechen und schon geht die Scheiße los. Es ist wie immer im Leben, und ganz speziell in meinem. Kleine, vermeintlich gut kontrollierbare Situationen gewinnen plötzlich an Eigendynamik und driften vollkommen ab, der schöne Plan zerbröselt und alles läuft kolossal aus dem Ruder. Es passieren viele Dinge, nur nicht die, die man sich vorher so schön zurechtgelegt hat. Und so wird es auch dieses Mal sein.

Die Tür zum Verkaufsraum öffnet sich leise schleifend und eine Mutter mit Kind betritt den Grill. Ich hab schon keinen Bock mehr. Erst verschwindet die Frittierdame im entscheidenden Augenblick nach hinten und jetzt kommt auch noch die Mutti mit Kinderwagen rein. Ich muss die Rahmenbedingungen für meine Nahrungsbeschaffung von ›optimal‹ auf ›bedenklich‹ zurückstufen. Zehn Sekunden nach der Mutti kommt noch ein jüngerer Typ im blauen Overall rein, steckt erst mal zwei Mark in den Merkur-Dreisonnen-Geldspielautomat und zündet sich ’ne Kippe an.

Ich kann gar nicht glauben, was hier plötzlich los ist. Wo kommen die denn alle so schnell her? Vor dreißig Sekunden war noch absolute Ruhe und Beschaulichkeit im Grill angesagt und jetzt ist die Hütte voll. Es dauert nur noch einen Augenblick, bis ich meinen Wunsch vor allen Anwesenden werde vortragen müssen. Die Katastrophe baut sich auf und ich weiß es. Ich spüre, wie mir mein ›Hackbraten‹ schon beim mentalen Probesprechen im Hals stecken bleibt. Ich komme nicht über das ›Ha‹ vom Hackbraten hinweg. Es klebt quasi an meinem Kehlkopf. Erst recht, wenn mich gleich alle Anwesenden angucken und meinen Text hören wollen. Ich bin mir sicher: Das geht mal wieder voll in die Hose. Die Rahmenbedingungen für den Erwerb meines Mittagessens sind jetzt in die Kategorie ›aussichtslos‹ gesunken und ich muss die Notbremse ziehen und den Grill umgehend verlassen. Aber der Geruch von Currywurst und Co. in Kombination mit dem Sichtkontakt zu meinen Hackbraten-Pattys in der Kühltheke lassen den nötigen Nachdruck in meiner Entscheidungsfreudigkeit ganz kurz ein wenig erlahmen. Und nur zwei Sekunden später ist die Möglichkeit zum Abbruch der Aktion endgültig passé.

Die Dame kehrt hinter die Verkaufstheke zurück, schaut mich an und macht mir mit einem freundlichen »Bitte sehr« klar, dass sie meine Bestellung hören möchte. Ich vermeide, ihr in die Augen zu sehen, und tue so, als würde ich in der karg bestückten Kühltheke noch mein Leibgericht zusammenstellen. Dabei fällt mein Blick unweigerlich schon wieder auf die saftig-roten Hackbraten-Pattys, von denen eigentlich jetzt eines für mich im siedenden Fett versenkt werden sollte, während mein Dreizonenplastikteller schon mal mit reichlich Pommes und Krautsalat befüllt wird. Und ich hab echt Hunger. Ich versuche, irgendwie mit nach unten gesengtem Kopf doch noch ›Hackbraten‹ zu sagen. Was die Frittierdame, die Mutti und der Overall-Typ durch das laut aufkochende Pommesfett noch nicht mitbekommen haben: Ich zucke mit dem Unterkiefer und gebe leise undefinierbare Geräusche von mir, die entstehen, wenn ich versuche, etwas zu sagen, es aber nicht herausbringe.

Keine Chance! Das Wort steckt in meinem Hals fest und will die Schwelle zu meinen Lippen auch mit aller Anstrengung einfach nicht überschreiten. Ich versuche noch, meinen Text zu ändern in: ›Ich hätte gerne einen Hackbraten‹ oder ›Ein schöner Hackbraten wäre nicht schlecht‹, aber auch da zeigt mir das mentale Probesprechen – was übrigens sehr schnell geht, ich spreche ja nicht, ich denke – bei allen Varianten mit davor gesetzten Bindewörtern ebenfalls größte Sprachschwierigkeiten und ich muss mich sofort von meinem heiß ersehnten kulinarischen Arrangement verabschieden und spontan umdisponieren.

Ich kriege langsam Panik. Und je mehr ich in Panik gerate, desto unwahrscheinlicher wird es, dass etwas als Sprache Erkennbares meinen Mund verlässt. Ich habe maximal ein bis zwei Sekunden Zeit für eine Alternativbestellung, bevor ich die Aufmerksamkeit von Mutti...

Erscheint lt. Verlag 3.4.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Comic / Humor / Manga
ISBN-10 3-7578-6817-X / 375786817X
ISBN-13 978-3-7578-6817-8 / 9783757868178
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