Von Königreichen hast du geträumt (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
256 Seiten
Blessing (Verlag)
978-3-641-30720-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Von Königreichen hast du geträumt -  Álvaro Enrigue
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Als der spanische Eroberer Hernán Cortés am 08. November 1519 mit seinem Gefolge in der aztekischen Hauptstadt Tenochtitlan eintrifft, hat er schon das halbe heutige Mexiko unterworfen. Doch nun soll es zum alles entscheidenden Moment kommen, dem Zusammentreffen zwischen Cortés und dem Azteken-Herrscher Moctezuma.

Während die Azteken noch nie Pferde gesehen haben - die wichtigste Waffe der Konquistadoren -, probieren die Spanier zum ersten Mal Schokolade. Es ist das Zusammentreffen von zwei Welten, zwei Imperien, zwei Sprachen, voller diplomatischer Fallstricke. Beide Herrscher sind der Überzeugung, dass der andere komplett unzivilisiert sei, und es entfaltet sich eine mögliche Version dieser historischen Begegnung, die die Geschichte komplett verändert hätte.

Álvaro Enrigue, geboren 1969 in Guadalajara, studierte in Mexico City Kommunikationswissenschaften, lehrte anschließend Literatur des 20. Jahrhunderts und promovierte an der University of Maryland. Seit seinem 1996 erschienen Debüt »La muerte de un instalador« gehört er zu den wichtigsten iberoamerikanischen Gegenwartsautoren und gilt als der bedeutendste mexikanische Autor seiner Generation. Seine Werke sind preisgekrönt und wurden in viele Sprachen übersetzt. Zuletzt erschienen im Blessing Verlag »Aufschlag Caravaggio« (2015), »Jetzt ergebe ich mich, und das ist alles« (2021) und »Von Königreichen hast du geträumt« (2023). Álvaro Enrigue lebt in New York.

Hauptmann Jazmín Caldera, geboren im Städtchen Zarzales in der Extremadura, konnte den Puteneintopf vor ihm einfach nicht herunterkriegen, obwohl er halb verhungert war und das Gericht köstlich aussah. Man hatte ihm den Platz zwischen dem Priester aus Xipe und dem aus Tezcatlipoca zugewiesen. Ersterer trug einen Umhang aus der faulig-schwarzen Haut eines Kriegers, der vor wer weiß wie langer Zeit geopfert wurde. Der Zweite hatte eine wilde Mähne, die er weder gewaschen noch geschnitten hatte, seit er seinem Beruf im Tempel nachging, und die von glänzenden Blutspritzern gesprenkelt war – täglich wurde eine Taube, manchmal eine Schildkröte oder ein Kojote, bei einem der großen, alle zwanzig Tage stattfindenden Feste aber auch ein, am liebsten tlaxcatekischer, Krieger geopfert.

Caldera streckte die Hand aus, um die Schale aus glasiertem Ton mit der in Wasser aufgelösten und mit Honig, Chili und Vanille gewürzten Schokolade zu nehmen, die ihm eine Frau serviert hatte. Gierig sog er den Duft ein. Er richtete den Blick auf seinen Teller und versuchte, den wölfischen Gestank zu ignorieren, den seine Tischnachbarn verströmten. Er blickte auf und sah zum Kopfende des Tisches. Der Generalkapitän der Expedition schaute ihn streng an und bedeutete ihm mit seinen eisigen Augen, den Mund zu halten und endlich seine Suppe zu essen.

Caldera wandte den Blick nach links. Der Priester aus Xipe war von Kopf bis Fuß mit schwarzen und blauen Streifen bemalt. Unter seinem Umhang aus Menschenhaut trug er ein makelloses Gewand, verziert mit Federn, die an die Triebe von Maispflanzen erinnerten. An seinen Ohren baumelten zwei riesige Scheiben aus Jade, an deren Rändern Schlangen aus Gold und Silber angebracht waren. Sie mussten unglaublich schwer sein, bestimmt schmerzten sie. In seiner Unterlippe steckte ein goldenes Schmuckstück: ein kleiner Hundekopf, der jedes Mal, wenn er einen Schluck Suppe oder Schokolade nahm, zwischen seinen Kinnfalten verschwand und wieder auftauchte, als würde er in einer Hundehütte aus Haut herumtollen.

Der Priester aus Tezcatlipoca war weniger prunkvoll gekleidet. Er trug ein schlichtes rotes Gewand ohne jegliche Verzierung. Sein Körper oder das, was davon zu sehen war, war bis auf den Bereich des Gesichts zwischen Nase und Kinn, der ebenfalls rot war, vollständig schwarz angemalt. Das Band, das die übel riechende wuchernde Matte auf seinem Kopf zusammenhielt, hätte den grazilen Hals der Tochter eines spanischen Granden schmücken können: Flussperlen, kleine Köpfe aus Jade, Tierchen aus Korallen, die sich auf einem silbernen Faden verfolgten. Seine Zähne waren spitz zugefeilt, sodass sie aussahen wie von einer Katze.

Caldera betrachtete erneut seinen Teller, die Tasse mit der Schokolade, den Hauptmann, der am Kopfende des Tisches saß, direkt neben Prinzessin Atotoxtli, und ihn weiter vorwurfsvoll ansah. Jetzt zog er die Augenbrauen hoch, um die Dringlichkeit seines Befehls zu betonen: Iss! Caldera nahm die Tasse und trank einen kräftigen Schluck Schokolade. Obwohl das Getränk von all dem Neuen und vielen und Außergewöhnlichen, das sie seit der Landung gekostet hatten, vielleicht das war, was ihm am besten schmeckte, musste er sich beinahe übergeben. Er konnte den Geschmack einfach nicht von dem Geruch nach geronnenem Blut seiner Tischnachbarn trennen.

Trotzdem glaubte er wegen der anregenden Wirkung der Schokolade, an die sich die Neuankömmlinge noch nicht gewöhnt hatten – ein Kribbeln im Nacken, ein Stechen in der Wirbelsäule, die Lust, auf der Stelle alles Mögliche zu unternehmen –, sich trotz des Gestanks aufraffen und die Suppe probieren zu können. Er nahm den Teller in beide Hände, doch während er ihn zum Mund führte, verspürte er erneut einen Brechreiz. Er ließ es bleiben. Jetzt starrte auch die Prinzessin ihn neugierig an.

Caldera schaute auf und blickte in alle Richtungen außer der der Priester und der des Generalkapitäns. Er sah über die Köpfe von Aguilar und Malinalli hinweg, die ihm gegenübersaßen und es gewohnt waren, selbst Menschenfleisch zu essen. Er betrachtete die Wand und dachte an die steinerne Stadt, die sich dahinter erstreckte. Er sah ihre Tempel vor sich, ihre Kanäle und schwimmenden Viertel, die von gewaltigen, rechteckigen Flößen umgeben waren, jedes einzelne in Form und Größe identisch, auf denen sich die Blumen- und Gemüsegärten der Mexica befanden. Er erinnerte sich an die spirituellen Übungen in der Jesuitenschule in Trujillo und ließ in Gedanken weiter die Bilder aufleben, die sich im Laufe des Tages in seinem Kopf angesammelt hatten. Der See, der die Stadt einrahmte und ihre Flucht verhindern würde, wenn der Herrscher den Befehl gäbe, die Adlerkrieger loszulassen. Er konzentrierte sich auf die mächtigen Vulkane, die das Tal versperrten und die sie nur mit größter Mühe hatten überqueren können, um ins Anáhuac-Tal mit seinen weißen, mit Türmen und Tempeln befestigten Städten zu gelangen. Er sah wieder Amecameca vor sich, wo die Dammstraße von Iztapalapa begann, auf der sie den See überquert hatten, den blumengeschmückten Torbogen, den feierlichen Aufzug des sagenumwobenen Moctezuma und den Moment, in dem der Generalkapitän beim Versuch, diesen zu umarmen, um ein Haar alles vermasselt hätte. Sie hatten die Stadt betreten, der Bürgermeister hatte sie im – ebenso nüchternen wie wunderschönen – Palast von Axayácatl untergebracht, und dort, im Speisesaal der einstigen Herrscher, saßen sie jetzt mit dem Gefolge der Prinzessin am Tisch. Sie waren im Herzen der großen und unbesiegten Stadt Mehxicoh-Tenoxtitlan angekommen, und das fast vollzählig.

Alles war ein bisschen trübe, verworren. Eine Ehre, die sie vielleicht nicht verdienten. Unter größten Mühen und mit fanatischem Willen waren sie bis hierher gelangt, hatten sich als gute Soldaten erwiesen, hatten nicht aufgegeben, als kein anderer weitergemacht hätte, immer mit dem Schlimmsten rechnend. Das verdiente Anerkennung. Doch das war der Weg gewesen, das Spektakel, ein Spiel auf Leben und Tod, aber letztendlich nur ein Spiel. Jetzt, im Palast und in Gegenwart der Prinzessin, kam es ihm vor, als könnte die Sache jederzeit aus dem Ruder laufen. Zwischen so vielen großen Dingen und so vielen bedeutenden Menschen spürte er, dass der Generalkapitän wieder der war, der er auf Kuba gewesen war: ein mürrischer Mann ohne Manieren aus der Extremadura. Er spürte, dass sie kleine, provinzielle Tölpel waren. Dass jede Unachtsamkeit enthüllen könnte, dass sie in Wirklichkeit nur ein Haufen mieser Betrüger waren, die behaupteten, im Namen eines Herrschers zu kommen, den sie nie gesehen hatten, und dass sie im Grunde nicht einmal den königlichen Statthalter auf Kuba repräsentierten, den sie so lange beschwatzt hatten, bis sie tun konnten, was sie taten.

Er holte Luft und richtete den Blick wieder auf den Teller, vermochte ihn aber nicht zu nehmen. Mit sanfter, fast freundlicher Stimme, als spräche er über die milde Sonne von Anáhuac, bat er um Verzeihung und erklärte, so könne er nicht essen.

Der Generalkapitän neigte den Kopf leicht zur Seite und deutete ein Lächeln an. Dabei bewegte er ein paarmal den Kiefer vor und zurück. Jedes Mal, wenn er das Kinn nach vorne schob, verengten seine Augen sich zu Schlitzen. Es sah schrecklich aus. Caldera nickte unauffällig, als bäte er um Geduld, doch er tat es eher, damit sein Vorgesetzter diese albtraumhafte Geste unterließ. Er nahm erneut den Teller mit der Suppe in beide Hände. Er holte tief Luft, um ihren Duft einzufangen, doch der Geruch nach geronnenem Blut und verfaulter Haut überdeckte alles. Er stellte den Teller wieder ab, legte die Hände auf die leinene Tischdecke und schloss die Augen. Er vergaß seine guten Manieren nicht. Während er den Brechreiz unterdrückte, bewegte er die Augen von links nach rechts, um auf die Priester zu deuten, und sagte mit so normaler Stimme wie möglich: Sehen die das? Und er lächelte dem Generalkapitän zu, damit er Erbarmen mit ihm hatte.

Der Caudillo nahm einen großen Schluck von seiner Suppe und drückte mit einem Brummen aus, dass sie ihm schmeckte. Lächelnd sah er die neben ihm sitzende Prinzessin an. Mit freundlicher Miene, aber mit geballten Fäusten auf dem Tischtuch – die Knöchel weiß vor Wut wegen Calderas Aufsässigkeit –, sagte er mit fast singender Stimme zu ihm: Schweig und iss, Mistkerl, die Herrscherin bewirtet uns. Caldera lächelte. Ich kann nicht, Hernán, erwiderte er, wenn du wüsstest, wonach die riechen; der Kerl neben mir hat garantiert ein paar Kinder zum Frühstück verspeist. Der Hauptmann lächelte zurück und erwiderte in einem Ton, als wollte er bemerken, wie köstlich die Schokolade sei: Du duftest auch nicht gerade nach Rosen; schweig und iss, und danach kannst du so viel kotzen, wie du willst. Malinalli, die Nahua-Übersetzerin, sah von ihrem Teller auf und fragte Aguilar, den spanischen Übersetzer, auf Maya, ob sie für die Prinzessin, die Adligen und die Priester am Tisch wiederholen sollten, was Caldera und Cortés sagten. Er flüsterte ihr, ebenfalls auf Maya, ins Ohr, dass sie das besser nicht tun sollten, das sei bloß Konquistadoren-Geschwätz.

Die Übersetzerin sprach Nahua und Maya, aber kein Spanisch. Und Aguilar sprach Maya und Spanisch, aber kein Nahua. Die Gespräche zwischen den Colhua und denen, die Malinalli und die anderen Mexica Caxtilteken nannten, mussten durch den Filter der beiden gehen. In diesem Moment bemerkte Malinalli den stechenden Blick von Prinzessin Atotoxtli – die nicht nur die Schwester des Herrschers, sondern auch seine Ehefrau war. Die Prinzessin wartete, dass Malinalli übersetzte, was die anderen sagten. Diese schaute auf, lächelte und sagte auf Nahua: Sie sagen, alles ist köstlich. Die...

Erscheint lt. Verlag 30.8.2023
Übersetzer Carsten Regling
Sprache deutsch
Original-Titel Tu sueño imperios han sido (Of Empires was your Dream)
Themenwelt Literatur Historische Romane
Schlagworte 2023 • Azteken • eBooks • Hernán Cortés • historische Begebenheiten • Historische Romane • Konquistador • Mexiko • Moctezuma • Neuerscheinung • Premio Herralde • Showdown • Tenochtitlan
ISBN-10 3-641-30720-1 / 3641307201
ISBN-13 978-3-641-30720-2 / 9783641307202
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